11.02.2011

Das Militär als Sicherheitsrisiko

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Das Militär als Sicherheitsrisiko

In den USA hat sich die Macht des Pentagon verselbstständigt von William Pfaff

Es ist an der Zeit, eine grundsätzliche Frage zu stellen: Haben die Vereinigten Staaten mit dem Aufbau ihres weltumspannenden Netzes von Militärstützpunkten einen folgenreichen Fehler begangen? Dieses System wurde geschaffen, um die nationale Sicherheit der USA zu garantieren. Tatsächlich bewirkte es das genaue Gegenteil: Es provozierte Konflikte und erzeugte genau die Bedrohung der nationalen Sicherheit, die man eigentlich verhindern wollte.1

Die zwingendsten Einwände gegen ein solches System weltweiter Militärpräsenz sind politischer und praktischer Art. Die US-Basen haben dazu geführt, dass die Vereinigten Staaten gefürchtet und angefeindet werden, sie haben sinnlose, unnötige und kontraproduktive Kriege in Afghanistan und im Irak ermöglicht und könnten in naher Zukunft zu noch umfassenderen Interventionen in Pakistan, im Jemen und am Horn von Afrika verleiten.

Zum Teil ist die weltweite Militärpräsenz das Resultat einer unkontrollierten Bürokratie. Nach 1945 forderte die öffentliche Meinung in den USA einen raschen Abbau der im Zweiten Weltkrieg aufgebauten militärischen Kapazitäten jenseits der eigenen Grenzen. Dazu kam es nicht, weil alsbald der Kalte Krieg begann. Stattdessen wurden viele US-Militärbasen erhalten, und mit der Intervention in Vietnam kamen noch weitere in Südostasien hinzu. Nach dem Vietnam-Desaster wollte das Pentagon mit der Bekämpfung von Aufstandsbewegungen nichts mehr zu tun haben und konzentrierte sich wieder auf das, was man immer noch als militärische Hauptaufgabe ansah: die organisatorische Vorbereitung auf einen klassischen Frontenkrieg in Europa im Fall einer sowjetischen Invasion.

Dieses Potenzial ermöglichte dann allerdings auch den erfolgreichen „Blitzkrieg“ gegen den Irak 1990/1991. Der wurde nach der „Powell-Doktrin“ geführt, die auf vier Prinzipien beruht: Unterstützung durch die heimische Öffentlichkeit, überwältigende Übermacht, genau definierte Ziele und rascher Rückzug. Der Sieg im Irak führte zu einer erneuten weltweiten Ausdehnung der US-Militärmacht und deren intellektueller Rationalisierung, in der sich das neue Selbstvertrauen der Militärführung niederschlug. Die Clinton-Administration vermied zunächst weitere militärische Interventionen – bis zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Den nutzte das Pentagon dazu, seine eigene Rolle zu stärken und seinen Einfluss in der Bürokratie auszuweiten. Das Resultat war eine wichtige neue Militärbasis in der Balkanregion: im Kosovo.

Damals nahmen Presse und Öffentlichkeit diesen Ausbau des Netzes von Militärbasen kaum zur Kenntnis.2 Der Präsident konnte auf das finanziell bestens ausgestattete Militär immer dann zurückgreifen, wenn der unterfinanzierte diplomatische Dienst und die CIA in vermeintlichen internationalen Krisen nur geistlose oder ungeeignete Strategien vorschlugen. Demgegenüber bot das Militär schnelle und entschlossene Lösungen an, die unilateral, also ohne Abstimmung mit anderen, umgesetzt werden konnten. Zudem waren die Streitkräfte bereit, Befehle diskussionslos zu befolgen. Damit vermittelten sie der eigenen wie der Weltöffentlichkeit das gewünschte Bild von der Stärke und der globalen Führungsrolle der USA.

Die logische Folge war, dass sich der Einfluss des Militärs in der US-Außenpolitik weiter verstärkte. So ging etwa die militärische Zuständigkeit für den unruhigen Nahen Osten auf das Central Command in Tampa/Florida über, das damals dem ehrgeizigen und durchsetzungsstarken General Anthony Zinni unterstand. Seitdem hat sich ein System von Regionalkommandos auch für andere Teile der Welt herausgebildet, die jeweils über eigene Kommandostrukturen, Planungsstäbe und operative Kapazitäten verfügen. Das Ergebnis war die Etablierung von militärischen „Prokonsuln“: mit viel Geld und unabhängiger Macht ausgestattete regionale „Oberbefehlshaber“, die mit den militärischen und politischen Autoritäten „ihrer“ Region direkt verhandeln konnten und bald mehr Einfluss hatten als die jeweiligen US-Botschafter.

Mit Beginn der Präsidentschaft von George W. Bush stellte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld diese neue Militärstruktur infrage. Er war entschlossen, die „zivile Kontrolle über das Militär“ gegen die aus seiner Sicht aufgeblähte und ineffektive Pentagon-Bürokratie zu verteidigen. Doch Rumsfeld sah noch andere Gegner seines neuen Regimes: „innere Feinde“ im Kongress und in der Justiz, die ihrer verfassungsmäßigen Rolle als Kontrolleure der Exekutive nachkamen.

Die Invasion der USA in Afghanistan von 2001 – die sich auf technologisch hochmodern ausgestattete Spezialeinheiten, eine weit überlegene Luftwaffe und die Bodentruppen der von Tadschiken dominierten Nordallianz stützte – demonstrierte, wie sich Rumsfeld die Kriege der Zukunft vorstellte. In seinem Büro hatte der Pentagon-Chef das berühmte Foto von einem einsamen Offizier der U.S. Special Forces, der hoch zu Ross in vollem Galopp über die afghanische Hochebenen reitet – vermutlich um einen B-52-Bomber auf ein feindliches Ziel zu lenken und damit seine eingeborenen Hilfstruppen zum Sieg über die Taliban zu führen.

Im Irak lag nach dem auf die Invasion folgenden Chaos das Schicksal des Landes – wie auch der Wiederaufbau – allein in den Händen des US-Verteidigungsministeriums. Am Ende war es General David Petraeus, der mit seiner Version der Aufstandsbekämpfung die Bedingungen für die nationalen Wahlen vom März 2010 schuf. Dazu trugen nicht zuletzt die Gelder bei, die an die Stammesführer als Lohn für den Kampf gegen die Aufständischen flossen, und vor allem die Truppenaufstockung von 2007 (der „Surge“). Bagdad hat bis heute keine stabile Regierung. Dennoch darf Petraeus seine Strategie jetzt auch in Afghanistan ausprobieren, bislang allerdings ohne größeren Erfolg.

Das globale Netz der US-Militärbasen sollte der Verteidigung vermeintlicher Interessen der USA im Ausland dienen. Einerseits ist dieses System darauf angelegt, einen Krieg durch Abschreckung zu verhindern, andererseits aber bot es von Anfang an die Instrumente, die Möglichkeiten und damit auch den Anreiz für militärische Interventionen in anderen Ländern.

Geschichte als Prozess der Erlösung

1993 erregte der inzwischen verstorbene Politologe Samuel Huntington internationales Aufsehen mit seiner im Magazin Foreign Affairs veröffentlichten These, der „nächste Weltkrieg“ werde nicht ein Kampf zwischen Staaten, sondern zwischen Kulturen sein. Als spekulatives Beispiel diente ihm dabei ein Krieg zwischen der „westlichen“ und der „islamischen“ Kultur, bei dem es um die globale Vorherrschaft gehen werde. Diese Prophezeiung erwies sich als ebenso falsch wie das von Präsident Bush 2001 vorgebrachte Argument, der Hauptantrieb der radikalen Islamisten sei ihr Hass auf die Freiheit im westlichen Sinne. Tatsächlich waren der Aufstieg des radikalen Islam und die wachsende Unterstützung für eine Rückkehr zur Scharia mit ihrer strengen Auslegung der Lehren des Korans die Folge einer schweren inneren Krise der islamischen Bewegung. Das Ziel der Islamisten besteht darin, den Islam und das tagtägliche Verhalten der Muslime zu „reinigen“ und den Einfluss des Westens zurückzudrängen – nicht aber den Westen zu erobern.

Nach 1945 machten die USA Saudi-Arabien und den Iran zu Klientelstaaten und gingen davon aus, dass der Islam als Lebensweise überholt sei und zwangsläufig durch den im Westen vorherrschenden Typ von Modernisierung abgelöst werde. Diese Überzeugung beruhte auf der Annahme, dass alle Kulturen auf ein und dasselbe Ziel zusteuern und dass die USA und ihre Verbündeten ihm bis jetzt am nächsten gekommen sind. Sie geht davon aus, dass sich Kulturen und politische System genauso unaufhaltsam entwickeln wie der wissenschaftlich-technische Fortschritt.

Das aber ist ein Irrtum. Erst die Bibel erfand die Auffassung von Geschichte als einem fortschreitenden Prozess, der auf eine Art Erlösung zusteuert, die der ganzen vorausgegangenen Entwicklung erst ihren „historischen Sinn“ verleiht. Auf dieser Basis entstand die weltliche Heilserwartung, die sich mit und nach der Aufklärung entwickelt hat – bis hin zu den modernen totalitären Bewegungen des Marxismus-Leninismus und des Nationalsozialismus. Der politische Utopismus, der in der US-Außenpolitik insbesondere seit der Präsidentschaft von Woodrow Wilson (1913 bis 1921) vorherrschte, stammt letzten Endes aus ganz ähnlichen Quellen: der puritanischen Vision der amerikanischen Pilgrimfathers von „God’s own Country“, die noch heute in politischen und religiösen Kreisen viele Anhänger hat.

Der Glaube, dass man dazu ausersehen ist, der Welt die Demokratie zu bringen, spiegelte sich 2008 in dem Satz der damaligen US-Außenministerin Condoleezza Rice, es sei die Aufgabe der USA, „die Welt zu verändern, und zwar nach ihrem Bilde“.3 Der außerordentlich gewachsene Einfluss des Militärs auf die Regierung in Washington und die gesamte politische Kultur des Landes beruht zum Teil auf diesem Glauben.

Der Historiker Andrew Bacevich argumentiert, dass diese Hybris mit der Herausbildung eines neuen Militarismus einherging. Während des Kalten Kriegs entwickelte sich die politische Ideologie der USA gewissermaßen zu einer vereinfachten Imitation der leninistischen Version des Marxismus, gegen die man damals kämpfte. Die ging davon aus, dass die wohlmeinenden Absichten und demokratischen Ideale Washingtons auch im Westen alles andere als allgemein anerkannt waren. Im Laufe des Vietnamkriegs redeten sich die US-Amerikaner ein, dass ihre eigene Sicherheit am besten „mit dem Schwert“ zu gewährleisten sei, schreibt Bacevich. Entsprechend wurde die Idee, ihre militärische Macht weltweit zur Geltung zu bringen, zu einer völlig „üblichen Praxis, einem Normalzustand, zu dem es keine plausible Alternative zu geben schien“.

Heute zeigen die USA die klassischen Merkmale eines militaristischen Staats; einer Gesellschaft, die militärischen und inneren Sicherheitsbedürfnissen höchste Priorität zuerkennt und die von der politischen Zwangsvorstellung mächtiger zukünftiger Bedrohung beherrscht wird.

Immer häufiger übt Washington seine internationale Führungsrolle heute so aus, dass man zweifelhafte politische Figuren unterstützt, die schließlich „andere Prioritäten“ entwickeln, wie es der frühere US-Vizepräsident Dick Cheney formuliert hat. Der Irak ist dafür ein gutes Beispiel: Mit eher unangebrachtem Optimismus hat man das Land zur Demokratie erklärt, aus der 2010 die letzten US-Kampftruppen abgezogen sind.

Am Anfang stand die Wehrpflichtarmee

Auch in Afghanistan scheint sich die Obama-Regierung vor allem mit Rückzugsplänen zu beschäftigen, während das Pentagon zugleich einen offenbar auf Dauer angelegten Verbund von Militärbasen aufbaut, der zukünftig als strategisches Machtzentrum für die gesamte Region dienen könnte. Gleichzeitig haben die Taliban klargemacht, dass für sie der vollständige Rückzug der US- und Nato-Truppen eine Vorbedingung für jede Friedenslösung ist. Doch gegen einen solchen Rückzug würde vermutlich nicht nur das Pentagon opponieren (weil er einer militärischen Niederlage gleichkäme), sondern auch die Republikaner und die populistischen Obama-Gegner. Damit erweist sich das bestehende System von Militärbasen als prinzipielles Hindernis für jede Friedensregelung in der Region.

Allerdings lehnte das Land, das heute über die mit weitem Abstand mächtigste Armee verfügt, am Anfang seiner Geschichte die Idee eines stehenden Heers ab. Im Abschnitt 8 des ersten Artikels der US-Verfassung wird dem Kongress die Macht zugesprochen, „Armeen aufzustellen und zu unterhalten, die Bewilligung von Geldern hierfür soll jedoch nicht für länger als zwei Jahre erteilt werden“.

Noch bis zur Mitte des Mitte des 20. Jahrhunderts war die öffentliche Meinung in den USA entschieden gegen ein stehendes Heer. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zählte die US Army 175 000 Mann. Nach Kriegsende wurde eine schnelle Demobilisierung durch den sich entwickelnden Kalten Krieg allerdings verzögert. Danach blieb das Militär – zum ersten Mal in Friedenszeiten – eine Wehrpflichtigenarmee, und zwar bis zum Ende des Vietnamkriegs 1973. In dieser Zeit waren die US-Streitkräfte also eine Bürgerarmee, und im Offizierskorps gab es eine große und einflussreiche Gruppe von wehrdienstleistenden Reserveoffizieren und neuen Unteroffizieren, die man aus der Wehrpflichtigenarmee übernommen hatte.

Der größte Unterschied zwischen der damaligen Bürgerarmee und der heutigen Berufsarmee besteht darin, dass man mit Letzterer ein nationales Machtinstrument geschaffen hat, das der Öffentlichkeit nicht mehr direkt rechenschaftspflichtig ist. Die heutigen US-Streitkräfte bestehen aus Berufssoldaten – ergänzt durch eine nahezu gleich große Zahl privatwirtschaftlicher Söldner –, die unmittelbar dem Pentagon verantwortlich sind. Und das wiederum ist jenem „militärisch-industriellen Komplex“ zu Diensten, vor dessen wachsendem Einfluss bereits Dwight Eisenhower in seiner letzten Rede als Präsident im Januar 1961 gewarnt hatte.

Heute sind Rüstungskonzerne und die sogenannte Sicherheitsindustrie die wichtigsten Branchen der gesamten US-Wirtschaft, und ihre Unternehmensinteressen sind inzwischen so stark, dass sie sowohl dem Kongress als auch einer unerfahrenen Regierung ihren Willen aufzwingen können. Ohne allzu große Übertreibung könnte man von den Vereinigten Staaten dasselbe sagen, was Mirabeau einst über Preußen gesagt hat: „Das ist kein Staat mit einer Armee, vielmehr eine Armee, die einen Staat besitzt.“

Zwischen dem Beginn des Kalten Kriegs in Europa und der aktuellen Intervention in Afghanistan haben die USA folgende Kriege geführt: den Koreakrieg, den Vietnamkrieg und die Invasion in Kambodscha; die Interventionen im Libanon, in Grenada, in Panama und in der Dominikanischen Republik; die (indirekte) Invasion in El Salvador und das Eingreifen in Somalia (im Rahmen einer UN-Operation), dem später eine von den USA unterstützte Invasion durch äthiopische Truppen folgte; sowie zwei Invasionen im Irak und eine in Afghanistan. Keine dieser Militäroperationen, abgesehen vom Golfkrieg 1990/1991, kann man als Sieg bezeichnen.

Um die Sicherheit der USA zu gewährleisten, wäre eine nichtinterventionistische Außenpolitik viel geeigneter, mit zwei wesentlichen Punkten: erstens einen ausgehandelten militärischen Rückzug aus Afghanistan und dem Irak, ohne Militärbasen zurückzulassen. Und zweitens einen generellen Verzicht auf militärische Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder, sodass diese ihre eigenen Lösungen für ihre eigenen Probleme suchen können.

Eine derart radikale Umkehrung der US-Außenpolitik ist zwangsläufig mit hohen innen- wie außenpolitischen Kosten verbunden. Dennoch ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die politische Klasse und die aktuelle Führung der Vereinigten Staaten das Land auf einen neuen Kurs bringen müssen.

Fußnoten: 1 Das gilt sogar für die Anschläge vom 11. September 2001, die Ussama Bin Laden als Antwort auf die „Blasphemie“ bezeichnet hat, die für ihn die Existenz von US-Militärbasen in Saudi-Arabien, also im Land der muslimischen heiligen Stätten, darstellt. 2 Siehe Dana Priest, „The Mission: Waging War and Keeping Peace with Americas’s Military“, New York (W. W. Norton) 2003. 3 Condoleezza Rice, „Rethinking the National Interest: American Realism for a New World“, in Foreign Affairs, Juli/August 2008. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke William Pfaff lebt als Journalist in Paris und schreibt regelmäßig für die International Herald Tribune und die New York Review of Books. Sein neuestes Buch ist „The Irony of Manifest Destiny: The Tragedy of America’s Foreign Policy“, New York (Walker & Company) 2010. Auf Deutsch erschien von ihm: „Die Gefühle der Barbaren. Zum Ende des amerikanischen Jahrhunderts“, Frankfurt am Main (Die andere Bibliothek/Eichborn) 1998.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2011, von William Pfaff