Kein kurzer Prozess im Libanon
von Alain Gresh
An diesem Januartag sitzen die Libanesen gebannt vor dem Fernseher und verfolgen das Programm des TV-Senders al-Dschadid. Und das kann es mit jedem Spionagethriller aufnehmen: Es sind keine bewegten Bilder zu sehen, nur die Fotos der Teilnehmer eines Geheimtreffens, unterlegt mit einem Tonmitschnitt. Die Stimmen klingen dumpf und weit entfernt. Die verrauschte Tonaufnahme wurde heimlich mitgeschnitten und zum besseren Verständnis für die Zuschauer untertitelt. Zu hören ist ein Gespräch zwischen Saad Hariri und Mohammed al-Sadiq, einem ehemaligen Offizier des syrischen Geheimdienstes.
Al-Sadiq spielte in den ersten Monaten der internationalen Untersuchung nach der Ermordung des damaligen Premierministers Rafik Hariri – dem Vater von Saad Hariri – am 14. Februar 2005 eine Schlüsselrolle. Direkt nach dem Anschlag wurde das Regime in Damaskus der Tat verdächtigt. Al-Sadiq berichtete detailreich von heimlichen Zusammenkünften hoher syrischer Kader, bei denen das Attentat geplant wurde. Er nannte Namen und exakte Daten, beschrieb die Orte der konspirativen Treffen. Seine Aussagen führten zur Festnahme von vier hohen libanesischen Offizieren, die dann von April 2005 bis August 2009 in Haft saßen.1
Die Aussagen al-Sadiqs passten so gut in das Wunschbild der Ermittler, dass sie Monate brauchten, um schließlich zähneknirschend einzugestehen, dass der Kronzeuge sie belogen hatte. Al-Sadiq floh zuerst nach Frankreich. Nachdem Syrien seine Auslieferung beantragt hatte, wurde er schließlich in den Vereinigten Arabischen Emiraten verhaftet. Inzwischen soll er sich wieder irgendwo in Europa aufhalten.
Die wichtigen Fragen aber bleiben unbeantwortet: In wessen Auftrag handelte al-Sadiq? Wurde er manipuliert? Oder ist er nur ein größenwahnsinniger Wichtigtuer? Und was ist mit all jenen, deren Aussagen in die gleiche Richtung gehen und die man nun als „falsche Zeugen“ bezeichnet?
Der Bericht von al-Dschadid gibt darauf keine Antworten. Er belegt aber zumindest, dass al-Sadiq den jungen Hariri kannte – was Letzterer stets bestritten hat. Und dass der Kronzeuge ständigen Kontakt zu dem Sohn des Ermordeten hatte, den er sogar auf seinem Mobiltelefon anrief. Weitere Verwirrung stiftete der Sender mit der Ausstrahlung von Mitschnitten der eigentlich vertraulichen Aussagen von Saad Hariri und anderen libanesischen Politikern vor der UN-Untersuchungskommission.
Omar Nashabe, Journalist der Beiruter Zeitung al-Akhbar2 , erläutert: „Im Mai 2007 hat der UN-Sicherheitsrat das Sondertribunal für den Libanon eingerichtet.3 Das nahm am 1. März 2009 in Den Haag seine Arbeit auf. Dieses Tribunal ist in mehrerer Hinsicht einzigartig: Nie zuvor gab es eine internationale juristische Instanz zur Aufklärung eines politischen Mordes (und zwanzig weiterer, die mit ihm zusammenhängen). Die anderen Tribunale dieser Art ermitteln wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder sogar Genozid. Dieses hat nicht einmal das Mandat, den Verbrechen nachzugehen, die den Libanon in den letzten Jahrzehnten fast zerstört haben und die niemals verfolgt wurden. Zudem ändert das STL seine eigenen Regeln, wann immer es ihm passt. So hat es im November 2010 die Regelung eingeführt, dass Angeklagte auch in Abwesenheit verurteilt werden können. Das gibt es bei keinem anderen internationalen Tribunal.“ Nashabe sagt, man dürfe den Ursprung des Tribunals nicht vergessen, und auch nicht die Umstände, unter denen die Untersuchung des Hariri-Mordes 2005 begonnen hat. Seinerzeit hatte US-Präsident George W. Bush nach der Irakinvasion von 2003 verkündet, einen „neuen Mittleren Osten“ zu erschaffen und den feindlichen Regime in der Region, vor allem in Syrien, den Garaus zu machen. Einen willigen Verbündeten fand er im französischen Präsidenten Jacques Chirac. Der war mit dem Ermordeten persönlich befreundet und deshalb auf Rache bedacht. Die Ermittlungen wiesen deshalb von Anfang an in nur eine Richtung – nach Damaskus. Inzwischen sind Bush und Chirac längst von der Bühne verschwunden, und die Umstände haben sich geändert. Aber das Tribunal ist immer noch da und hat seitdem nicht an Glaubwürdigkeit gewonnen.
Das STL beschäftigt mehr als 300 Personen, kostet also ziemlich viel Geld. Im ersten Jahr waren es über 50 Millionen US-Dollar, zur Hälfte bezahlt vom libanesischen Staat. Anfangs gab es interne Reibereien – vor allem zwischen Chefankläger Daniel Bellemare und Richter Daniel Fersen –, diverse Rücktritte und fluchtartige Absetzbewegungen. Nach Aussage eines ehemaligen Mitarbeiters besteht das STL-Personal nicht einmal zu 10 Prozent aus Libanesen oder Arabern: „Die meisten haben keine Ahnung von dem Land und der weiteren Region. Wie sollen sie da eine Ermittlung führen?“
Der angesehene Anwalt Mohammed Matar, der die Gruppe der Hariri-Verteidiger vor dem STL anführt, gibt zu: „Alle Entscheidungen der Vereinten Nationen in unserer Region sind verdächtig, weil der Westen mit doppeltem Maßstab misst. Warum sollte ein internationales Tribunal über die Mörder Hariris urteilen, nicht aber über diejenigen, die beim israelischen Feldzug von 2006 im Südlibanon 1 300 Zivilisten getötet haben?“ Gleichwohl ist Matar davon überzeugt, dass es mit der Straflosigkeit vorbei sein muss: „Sollte der Prozess eröffnet werden, kann man viele Dinge auf den Tisch bringen. In unserem Land gab es nach dem Bürgerkrieg nie eine Aussöhnung. Das STL wird allen eine Lektion erteilen, nicht nur der Hisbollah. Wir alle waren an diesen Verbrechen beteiligt.“
Omar Nashabe verweist in diesem Zusammenhang auf ein aufschlussreiches Beispiel: „Im Libanon haben dieselben Leute, die so entschieden das Ende der Straflosigkeit forderten, im Juli 2005 – also nach der Ermordung Hariris – eine Amnestie für Samir Geagea beschlossen, der für den Mord an Premierminister Rachid Karami im Jahr 1987 verurteilt worden war. Ist das keine selektive Gerechtigkeit?“
Diese Debatten sind nicht neu. Und sie haben die „Mehrheit“ und die „Opposition“ nicht gehindert, von Mai 2009 bis Januar 2011 in einer Regierung der nationalen Einheit zu kooperieren. Im Libanon weiß jeder, dass das Land in zwei Lager aufgeteilt ist und dass man gegen eine Hälfte der Bevölkerung nur schwer regieren kann – zumal die Gräben weniger entlang politischer als konfessioneller Trennlinien verlaufen.
Seit 2005 belauern sich die zwei Lager in einer Art stillem, bislang unter der Oberfläche schwelendem Bürgerkrieg. Auf der einen Seite finden sich der ehemalige Premierminister Saad Hariri und die Mehrheit der Sunniten sowie Samir Geagea und Amin Gemayel, die knapp die Hälfte der libanesischen Christen repräsentieren. Zu dieser Allianz gehörte bis vor wenigen Monaten auch der Drusenführer und Chef der Sozialistischen Fortschrittspartei Walid Dschumblat, der dem Hariri-Lager mit seinen 11 Abgeordneten eine knappe parlamentarische Mehrheit (66 von 128 Sitzen) gesichert hatte.
Das andere Lager besteht aus der Hisbollah und der Amal-Partei des Parlamentspräsidenten Nabih Berri, die zusammen fast die Gesamtheit der Schiiten vertreten. Hinzu kommen die Anhänger von General Michel Aoun, der die andere Hälfte der Christen repräsentiert. Die Zusammensetzung dieser Allianz belegt die Dürftigkeit der Analysen, die in der libanesischen Opposition nur einen Spielball Teherans sehen.
Das Tribunal, falsche Zeugen und eine vergessene Spur
Die Balance zwischen Mehrheit und Opposition war auch deshalb so schwankend, weil sie zum Teil die regionale Konfrontation zwischen den USA und Israel auf der einen und dem Iran und Syrien auf der anderen Seite widerspiegelte. Die Gerüchte über eine Anklage von Mitgliedern der Hisbollah durch das STL mussten dieses Gleichgewicht ins Wanken bringen.
Schon am 31. März 2010 teilte der Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah mit, dass STL-Ermittler einige Mitglieder seiner Organisation als Zeugen vernommen hatten. Am 16. Juli erklärte er, Regierungschef Hariri habe ihn über die Anklage des Tribunals gegen Hisbollah-Funktionäre informiert. Er sah darin einen Destabilisierungsversuch Israels und der USA mit dem Ziel, die Hisbollah auszuschalten. Deshalb forderte die schiitische Partei von der Regierung, erstens die „falschen Zeugen“ anzuklagen, um die Manipulationen bei den Ermittlungen aufzudecken, und zweitens die Beziehungen zum STL abzubrechen.
In einer Fernsehsendung verwies Nasrallah zudem auf die Rolle von israelischen Agenten, die man ein Jahr zuvor festgenommen hatte und die sich auch in das libanesische Mobilfunknetz eingeklinkt hatten.4 Er zeigte also mit dem Finger auf Tel Aviv und warf Chefankläger Bellemare vor – dessen Zusammenarbeit mit den USA durch Wikileaks-Dokumente belegt sind –, die „israelische Spur“ nicht zu verfolgen.
Die Spannungen zwischen den beiden Lagern setzten eine spektakuläre syrisch-saudische Vermittlungsinitiative in Gang: Am 30. Juli 2010 landeten der saudische König und der syrische Präsident an Bord derselben Maschine auf dem Beiruter Flughafen. Und am 6. September erklärte Hariri gegenüber der Zeitung Asharq al-Awsat, es sei ein Fehler gewesen, Syrien zu für den Mord an seinem Vater verantwortlich zu machen; diese Anschuldigungen seien „politisch“ gewesen.
In ihren geheimen Verhandlungen hatten der saudische König Abdullah (unterstützt durch seinen Sohn Abdelasis), Syriens Präsident Baschar al-Assad, Saad Hariri und Hassan Nasrallah im Dezember fast schon eine Einigung erreicht: Die libanesische Regierung sollte ihre Kooperation mit dem STL einstellen (das allerdings nicht aufgelöst werden sollte, da es von der UN eingesetzt worden war). Im Gegenzug sollte das Oppositionslager die Regierung Hariri – trotz Korruption und Misswirtschaft – in Ruhe lassen und auf eine juristische Klärung der „Falsche Zeugen“-Affäre verzichten. Für diesen Pakt kursierte in Beirut die Formel: „Die Regierung im Tausch gegen das Tribunal.“
Doch dann sprang Saad Hariri in letzter Minute ab, als Washington, im Gegensatz zu Paris, die Vereinbarung ablehnte. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Jeffrey Feltman, der Staatssekretär für den Nahen Osten im State Department (und US-Botschafter in Beirut von 2004 bis 2008). Feltman berichtete am 8. Juni 2010 vor einem Unterausschuss des US-Senat, dass seit 2006 aus den USA knapp 500 Millionen Dollar an die Anti-Hisbollah-Kräfte im Libanon geflossen sind.5
Feltman will offenbar den Kampf, den die Bush-Regierung im Libanon begonnen hat, um jeden Preis fortsetzen. Aber inzwischen ist eine andere Situation entstanden. Am 13. Januar musste Hariri endgültig zurücktreten, obwohl die US-Botschafterin Maura Connelly im Libanon bis zuletzt versucht hatte, schwankende Abgeordnete für eine neue Koalition unter Hariri zu gewinnen (was zeigt, dass die Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Libanons keine syrische Spezialität ist).
Die Nominierung von Nadschib Miqati zum Premierminister wurde dadurch möglich, dass Walid Dschumblat und einige unabhängige Abgeordnete das Lager wechselten. Wie es die ungeschriebenen Regeln der konfessionellen Ämterverteilung verlangen, ist Miqati ebenfalls Sunnit. Der Milliardär, der schon 2005 für kurze Zeit Regierungschef war, ist ein Freund des syrischen Präsidenten Assad, unterhält aber auch gute Beziehungen nach Saudi-Arabien.
Miqati hat keine leichte Aufgabe vor sich, zumal das ehemalige Regierungslager offenbar nicht kooperationsbereit ist. Insbesondere könnte er zur Zielscheibe des Zorns der sunnitischen Mehrheit werden, die schon am 25. und 26. Januar gegen das Ausscheiden Hariris und die „schiitische Übernahme“ des Landes demonstriert hat. Sollte Miqati die Beziehungen zum STL tatsächlich abbrechen, muss er zudem befürchten, dass die USA und selbst die EU aufgrund der Nichtbeachtung von UN-Resolutionen auf Sanktionen gegen den Libanon dringen.
Die Hisbollah kann zwar über den Abtritt Hariris frohlocken, sie wird jedoch in der neuen Regierung bewusst eine zurückhaltende Rolle spielen. Denn sie möchte weder den sunnitischen Radikalismus anheizen noch im Fall eines erneuten israelischen Angriffs isoliert dastehen.
Ein solches Szenario hat Jaakov Katz in einem Leitartikel der Jerusalem Post durchgespielt: Demnach würden die israelischen Streitkräfte, anders als 2006, die gesamte zivile Infrastruktur und staatliche Gebäude ins Visier nehmen. Und zwar mit der Begründung, dass „die Hisbollah nicht nur an der Regierung beteiligt ist, sondern im Grunde die offizielle Führung des Landes darstellt, mit einem Premierminister, der nach Nasrallahs Pfeife tanzt“. Der Artikel endet mit dem Rat, die Hisbollah solle gründlich nachdenken, bevor sie gegen Israel „einen Angriff unternimmt, der für den Zedernstaat verheerende Konsequenzen hätte“.6