Wiederaufbau eines Provisoriums
Die Geschichte des palästinensischen Flüchtlingslagers Nahr al-Bared im Libanon von Marina da Silva
Die Zustände in Nahr al-Bared seien katastrophal, hört man von allen Seiten. In dem palästinensischen Flüchtlingslager war es von Mai bis September 2007 zu heftigen Kämpfen zwischen der libanesischen Armee und der militanten Gruppierung Fatah al-Islam gekommen.1 Um uns selbst ein Bild zu machen, beantragten wir eine Besuchserlaubnis. Die ließ acht Monate auf sich warten, und als sie kam, sah sie als Auflage militärische Begleitung vor.
Von dem alten Lager ist heute fast nichts mehr übrig, denn nach den Kämpfen von 2007 war es ausgeplündert worden. Auch die umliegenden Siedlungen wurden verwüstet. Dennoch sind zwei Drittel der 30 000 Flüchtlinge zurückgekehrt und hausen heute, von der Außenwelt abgeschottet, in provisorischen Unterkünften.
Nahr al-Bared ist das zweitgrößte Palästinenserlager im Libanon. Es liegt 16 Kilometer nördlich von Tripoli und galt früher als friedlich und vergleichsweise gut in die Umgebung eingebunden. Aus dem Zeltlager, das 1949 auf knapp 200 000 Quadratmetern entstanden war, entwickelte sich im Laufe der Zeit eine wild wuchernde Siedlung von Steinhäusern, die im Nordwesten bis ans Meer reicht. Die Bewohner nennen diesen Ort die „Küste der Armen“, auch weil hier der ganze Dreck der Industriestadt Tripoli angeschwemmt wird. Mit dem Zuzug von noch mehr Menschen expandierte das Lager bis auf die Gemarkung der Nachbargemeinden Bhanine und Muhmarra. Dieses sogenannte neue Lager war flächenmäßig drei- bis viermal so groß wie das ursprüngliche Nahr al-Bared, aber weniger dicht besiedelt.
„Es war ein richtiges Geschäftszentrum“, erinnert sich Hodda, die hier für die Frauenorganisation Najdeh tätig war, „das einzige Lager, in dem es mehrere Juweliere gab.“ Selbst Libanesen gingen hier einkaufen, vielleicht auch, weil manchmal Schmuggelware aus Syrien angeboten wurde. Aber das ist Vergangenheit. Die Bewohner fühlen sich verraten: „Das Lager wurde geräumt, weil die Armee und die Palästinenserorganisationen es so wollten. Aber die Auslieferung von 400 Dschihadisten kann doch eine solche Zerstörung nicht rechtfertigen.“
Das alte Lager – ein vermintes Gelände
Als im Oktober 2007 die ersten Flüchtlinge zurückkehrten, waren sie fassungslos. „Sie hatten das Lager mit Bulldozern planiert, unsere Häuser waren verwüstet und geplündert, unsere Gebetsräume entweiht“, klagt Abu Ghassan bei einem Gespräch in Beirut, im Lager Schatila, wo 200 Familien eine Bleibe gefunden haben. „Wir hatten alles zurückgelassen. Ich besitze nicht mal mehr ein Foto. Alles ist verloren, sogar die Erinnerungen!“ Etwa 8 000 weitere Bewohner von Nahr al-Bared fanden Aufnahme im Palästinenserlager Badaoui bei Tripoli, dessen Einwohnerzahl sich 2007 verdoppelt hat.
Es dauerte mehr als ein Jahr, bis mit Hilfe von UNRWA und aller palästinensischen Organisationen die Unterbringung der Flüchtlinge geregelt werden konnte. Zwei neue Schulen wurden aus Fertigbauteilen errichtet. Einige Familien schlafen noch immer in Garagen.
Die größte Not herrscht in dem Teil, der an das frühere „neue Lager“ anschließt. „Rein und raus kommt man hier nur mit Passierschein“, erzählt Khaled. „Der ist für einen Tag oder drei Wochen gültig, oder auch auf Dauer, aber er kann auch jederzeit wieder entzogen werden. Und manchmal landen wir ohne jede Begründung für einen Tag in Untersuchungshaft.“ Der gesamte Bezirk wurde zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Zutritt haben nur die Palästinenser, die dort leben oder arbeiten, und die Mitarbeiter der UNRWA und privater Hilfsorganisationen.
Im alten Lager ist der Wiederaufbau kaum vorangekommen. „Zuerst musste das Gelände von Minen befreit werden. Das dauerte mehr als achtzehn Monate“, erzählt Khaled. „Nach dem israelischen Angriff von 2006 kehrten die Menschen sofort wieder in ihre Häuser zurück, trotz tausender Streubomben, die auf den Süden niedergegangen waren.“ Im „neuen Lager“ leben die Familien zwischen Ruinen und Schutthalden. Ihre zerstörten Häuser bauen sie in Eigenarbeit wieder auf. Als provisorische Unterkunft dienen ramponierte Wohncontainer. Ein paar kleine Läden sind wieder geöffnet, aber die Straßensperren der Armee schrecken die Kundschaft ab.
Die Palästinenser werden die Kämpfe um Nahr al-Bared dereinst als historischen Einschnitt empfinden, sagt Ali Hassan. Auch er glaubte lange Zeit, ihre Zukunft werde sich in dem großen, bei Saida liegenden Lager Ain al-Helweh entscheiden, auf das alle Blicke gerichtet waren. Denn dort waren schon seit langem dschihadistische Gruppierungen aktiv, mit denen es immer wieder zu Konflikten kam.2 Doch die palästinensischen Organisationen waren stark genug, um die Sicherheit im Lager zu gewährleisten: „Die meisten Extremisten stammten aus diesem Lager. Ihre Familien lebten dort. Deshalb wollten sie nicht alles in Schutt und Asche legen. In Nahr al-Bared traten sie erst seit 2006 auf, und die meisten Aktivisten waren nicht Palästinenser, sondern Libanesen, Saudis, Jemeniten und Iraker. Woher kamen die? Und in wessen Auftrag?“ Das sind wichtige Fragen, aber sie lenken von dem entscheidenden Problem ab, und das ist der rechtliche Status der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon.3
„Dass sie kein Bleiberecht haben, ist in der Verfassung wie in den Taif-Abkommen4 festgeschrieben – und damit werden alle möglichen Diskriminierungen gerechtfertigt“, erläutert Sari Hanafi, der an der Amerikanischen Universität in Beirut Soziologie lehrt.5 Er räumt ein, dass die Reform des libanesischen Arbeitsrechts im August 2010 einige Fortschritte gebracht hat. Jetzt dürfen die Palästinenser endlich eine Reihe von Tätigkeiten ausüben, die ihnen verboten waren, und können legale Arbeitsverhältnisse in der Privatwirtschaft eingehen. Aber die meisten freien Berufe bleiben ihnen verschlossen. Und auch ein Gesetz von 2001, das ihnen den Erwerb von Grundeigentum untersagt, ist nach wie vor in Kraft. Das war die größte Hürde beim Wiederaufbau in Nahr al-Bared, sagt Hanafi, weil zunächst der Staat die Grundstücke kaufen musste.
Hanafi ist Mitglied der Kommission für den Wiederaufbau von Nahr al-Bared. Deshalb kennt er sich aus: „Es ist nicht das erste Mal, dass ein Palästinenserlager im Libanon zerstört wurde, wohl aber ist es der erste Wiederaufbau: ein echtes Pilotprojekt, schon weil es in Zusammenarbeit mit den Flüchtlingen, den palästinensischen Organisationen, dem Komitee für den libanesisch-palästinensischen Dialog6 , den libanesischen Behörden und der UNRWA umgesetzt wird.“
Die UNRWA steht hier vor der größten Aufgabe in ihrer Geschichte, bei der es um ihre Glaubwürdigkeit insgesamt geht. Salvatore Lombardo engagiert sich mit Feuereifer für das Projekt, mit dem die UNRWA ihn vor zwei Jahren betraut hat. „Wenn wir scheitern sollten, würde das nicht nur große Enttäuschung auslösen, sondern womöglich auch soziale Unruhen und eine Destabilisierung Nordlibanons.“
Achtzehn Monate hat allein die Planung gedauert: „Zunächst musste die Lage jedes Hauses, jeder Straße rekonstruiert werden. Wo waren welche Grundstücke, wie groß waren sie? Danach ging es um geplante Umbauten und das mit Einverständnis der Familien. Sie können sich denken, was das für ein Aufwand war.“ Die Architekten waren bemüht, das soziale Gefüge in Nahr al-Bared zu berücksichtigen. Das basiert – wie in den meisten Lagern – auf den nachbarlichen Beziehungen, die bis in die palästinensischen Herkunftsorte vor 1948 zurückreichen. Deshalb entstanden Beratungsgruppen unter Einschluss der Bewohner, die überwiegend aus den Dörfern Safuri und Safsaf in Galiläa stammen.
Als der Flächennutzungsplan den libanesischen Behörden vorgelegt wurde, tauchten neue Probleme auf. Die baurechtlichen Bestimmungen sehen für Gebäude in Flüchtlingslagern maximal vier Stockwerke vor. Eine Unterkellerung ist nicht erlaubt, Balkone nur im dritten und vierten Stock. Bei Straßenunruhen soll niemand in den Häusern Zuflucht finden können. Und die Straßen müssen mindestens viereinhalb Meter breit sein, damit im Ernstfall Panzer durchrollen können. All diese Vorschriften reduzieren die Wohnfläche für die Familien im Lager um ungefähr 15 Prozent.
Nach Genehmigung des Plans konnte es endlich an die Umsetzung gehen. Dabei wurden acht Wiederaufbauzonen („Pakete“) gebildet, die vor ihrer Fertigstellung durch Kontrolleure des Bauministeriums „abgenommen“ werden mussten.
Weitere Schwierigkeiten tauchten auf, als Anfang 2009 in Orthosia7 archäologische Funde gemacht wurden. Die Ausgrabungen blockierten monatelang die Arbeiten im Lager – bis die UNRWA eine Zahlung an das Amt für Kulturschätze leistete. Michel Aoun, der Chef der christlichen Freien Patriotischen Bewegung (FPM), nutzte die Gelegenheit, um einen Baustopp zu fordern. Aber die Angst vor einer dauerhaften Verwurzelung der Palästinenser herrscht bei allen libanesischen Parteien.8 Sie befürchten zum einen, dass sich damit das konfessionelle Gleichgewicht verändern würde, zum anderen, dass man dies als Verzicht auf das Rückkehrrecht der Flüchtlinge interpretieren könnte.
Die neuen Straßen – breit genug für Panzer
Die Gesamtkosten für den Wiederaufbau des alten Lagers beliefen sich auf 328 Millionen Dollar, von denen nur 119 Millionen, also ein gutes Drittel bewilligt waren. Selbst für die Fertigstellung der Bauabschnitte drei und vier – gerade einmal die Hälfte des alten Lagers – fehlten noch 46 Millionen. Die UNRWA hielt die Geberländer über den Fortgang der Arbeiten ständig auf dem Laufenden, um sie von weiteren Zahlungen zu überzeugen.9
Die Bewohner des „neuen Lagers“ müssen den Wiederaufbau dagegen selbst bewältigen. Die UNRWA hat für sie kein Mandat, aber immerhin einen Notfallfonds, den sie für die Arbeiten in Anspruch nehmen kann.
Nachdem die Temperaturen im vergangenen Sommer 45 Grad überschritten hatten, wollte die UNRWA, dass die Bewohner der letzten 300 Wohncontainer ausziehen. Aber die Menschen weigern sich. Sie haben Angst, und sie wollen mit ihrer Anwesenheit ihren Rückkehrwillen demonstrieren. Familien, die eine Unterkunft außerhalb des Lagers haben, bekommen Wohngeld. Das wurde im Herbst 2009 von 200 auf 150 Dollar reduziert, während inzwischen die Durchschnittsmiete in dieser Gegend von 75 auf 250 Dollar gestiegen ist.
Die Palästinenserorganisationen sind sich einig, dass sie sich am Wiederaufbau beteiligen wollen. „Wir haben die Schlacht um Nahr al-Bared verloren“, erklärt Jemal Chehabi, Vertreter der Hamas im Nordlibanon. „Wir konnten die Zerstörung des Lagers nicht verhindern und müssen uns jetzt eben für den Wiederaufbau einsetzen.“ Ähnlich sieht es Abu Jihad Fayad, der Vertreter der Fatah in Badaoui: „Nahr al-Bared war ein Unglücksfall, der Opfer unter den Palästinensern wie bei der Armee gefordert hat.“ Doch er erinnert auch daran, dass die Menschen in erster Linie zurück nach Palästina wollen.
Abdallah Abdallah, der neue Botschafter der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in Beirut, zeigt sich erfreut, dass Fatah und Hamas bei diesem Projekt erstmals zusammenarbeiten: „Wir bilden gerade eine gemeinsame Delegation. Wie wollen nicht, dass hier nur Sicherheitsaspekte eine Rolle spielen. Es geht auch um unsere politischen Rechte und die Verbesserung der humanitären Lage. Wir hoffen auch die Vorurteile abzubauen, die diese Lager in Verruf gebracht haben. Entscheidend ist jetzt eine gute Zusammenarbeit, bei der niemand übervorteilt wird, denn das könnte neuen Zündstoff liefern.10 Wir brauchen vor allem den Kontakt mit der Bevölkerung und Vertrauen in unsere eigene Kraft.“
Bei der PLO ist Marwan Abdel-Al für das Lager zuständig. Er kennt die Situation, denn er hat selbst während der dreimonatigen Belagerung hier gelebt. Abdel-Al ist zugleich Vorsitzender des zentralen Planungsausschusses für Nahr al-Bared. Er sieht die Hindernisse für den Wiederaufbau des Lagers als überwunden an – bis auf die Frage des Zugangs: „Die Straßensperren, der Stacheldraht, die Kontrollen beim Betreten und Verlassen des Lagers, die Sonderausweise für alle Bewohner – das darf so nicht bleiben.“ Im Februar 2009 wollte das Verteidigungsministerium neben dem alten Lager einen Marinestützpunkt einrichten. Davon habe die Regierung inzwischen wieder Abstand genommen. „Aber neue Sorgen macht uns jetzt der Plan, innerhalb des Lagers eine Polizeiwache einzurichten.“
Auf der Konferenz von Wien soll eine Summe von 5 Millionen Dollar für die Sicherheit im Lager beschlossen worden sein – für Aufgaben, die bislang die palästinensischen Organisationen wahrgenommen haben. Das sehen die Bewohner mit großer Skepsis. Sie befürchten eine Art Test, nach dem die Armee dann irgendwann auch die anderen Flüchtlingslager unter ihre Kontrolle bringen will.