Endlos warten in Sugdidi
Die Georgier aus Abchasien und Südossetien haben ihre Heimat verloren – für immer von Angela Robson
Rosa muss aufpassen, wo sie hintritt, wenn sie in ihrem schicken Kleid und mit den abgewetzten Stöckelschuhen durch das Flüchtlingslager Freseti stakst. Die anzüglichen Bemerkungen der drei Männer in den schwarzen Bomberjacken, die an einer Ecke herumlungern, versucht sie zu ignorieren. „Ich muss Arbeit finden“, sagt Rosa und geht schneller. Sie nimmt ihre Sonnenbrille ab und blinzelt in die grelle über den Bergen stehende Sonne. „Ich versuche so oft wie möglich von hier wegzukommen. Einige Leute hier haben eine solche Wut im Bauch, dass es mich nervös macht.“
Das Lager Freseti liegt am Fuß des Großen Kaukasus, etwa 20 Kilometer südlich der Grenze zwischen Georgien und Südossetien. Rechts und links säumen zwei Reihen weiß gestrichener Baracken die asphaltierte Straße, die aus dem grünen Tal heraufführt. Hier wohnen etwa 600 der Binnenflüchtlinge (in der internationalen Terminologie: IDP oder internally displaced person), die während des russisch-georgischen Kriegs im August 2008 aus ihren Dörfern im südossetischen Bezirk Achalgori fliehen mussten.1
Die Behelfsheime machen von außen einen ordentlichen Eindruck, aber innen sieht man, dass die Dächer undicht und die Wände feucht sind. Und wenn es regnet, rauschen die Wassermassen an den Berghängen herunter und lassen die Häuser im Schlamm versinken. „Die hat damals die Regierung auf die Schnelle bauen lassen, um die Flüchtlinge vor dem Winter zu schützen“, erklärt Nino Gwianischwili, der für die Hilfsorganisation Oxfam Georgia arbeitet. „Keiner von den Leuten dachte damals, dass sie nach zwei Jahren immer noch hier sein würden.“
Während und nach dem Krieg vom August 2008 mussten 192 000 Menschen fliehen. Von ihnen konnten 26 000 bis heute nicht in ihre Dörfer zurück, in den meisten Fällen, weil ihre Häuser von südossetischen Milizen angezündet oder geplündert wurden.2
Eines der größten Probleme ist die Arbeitslosigkeit, die bei den Binnenflüchtlingen viel höher liegt als bei der Gesamtbevölkerung. Fast alle leben unterhalb der Armutsgrenze und sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. „In so ungesicherten Verhältnissen zu leben, gehört zu den härtesten Erfahrungen überhaupt“, meint Gwianischwili, „Wir versuchen den Flüchtlingen Mut zu machen, ihre Lebenssituation zu verbessern und zu normalisieren. Die meisten wollen einfach nur in ihre Heimatorte zurück. Aber dort sind viele Häuser zerstört oder okkupiert.“
Aus einer Gruppe von Frauen kommen zornige Stimmen. Eine gehört der 52-jährigen Suria Alder: „Die Regierung hat ihr Versprechen, uns in unsere Häuser zurückzubringen oder uns hier ein besseres Leben zu ermöglichen, nicht gehalten.“ Suria und ihr Mann hatten eine Bauernwirtschaft in Südossetien. Arbeit haben beide nicht gefunden. „Man hat uns in dieser bergigen Gegend angesiedelt, mitten im Nirgendwo. Hier gibt es weder Schulen noch Krankenhäuser noch Läden. Wir wollen nicht von Hilfsgeldern abhängig sein. Wir wollen für unseren Lebensunterhalt arbeiten, aber wie soll das hier gehen?“
Tia Maschi ist 70 Jahre alt und zum zweiten Mal in ihrem Leben zum Flüchtling geworden. „Wir haben alles in Achalgori zurückgelassen, unsere Kühe, die Schweine und das ganze Federvieh. Wir hatten ein zweistöckiges Haus und einen großen Garten mit Haselnusssträuchern. Hier sind wir nichts und niemand.“ Auf die Frage, ob sie wieder zurückwill, macht sie ein erschrockenes Gesicht: „Ich würde niemals zurück, solange da noch Russen und Osseten sind. Wir haben Angst vor neuen Feindseligkeiten. Wir sind dort geboren, wir sind Georgier. Wir können nicht zu Russen werden. Die Russen sollten unsere Häuser und unsere Dörfer verlassen. Dann erst können wir auch zurückgehen.“
Die Flüchtlinge vom August 2008 sind nicht die einzigen und nicht die ersten. Schon zu Beginn der 1990er Jahre kamen schätzungsweise rund 220 000 Georgier aus Abchasien und Südossetien. Zusammen mit den rund 26 000 Binnenflüchtlingen aus dem russisch-georgischen Krieg machen diese Vertriebenen etwa 6 Prozent der georgischen Gesamtbevölkerung aus. Von den IDPs der 1990er Jahre leben noch 42 Prozent in Sammelunterkünften wie ehemaligen Krankenhäusern, Kasernen oder Fabrikgebäuden, die für eine derartige Nutzung natürlich nicht gedacht sind. Die meisten sind ältere Menschen, Kinder und Behinderte, die sich keine andere Unterkunft leisten können.
Ohne Strom und Wasser, von Arbeit ganz zu schweigen
In ihrem jüngsten Bericht über die Sammelunterkünfte in Georgien aus dem Jahr 2003 gibt die UN-Behörde für die Koordinierung humanitärer Einsätze (Ocha) an, dass rund 70 Prozent dieser Behausungen völlig unzureichend sind. Sie bieten weder richtigen Schutz noch eine angemessene Privatsphäre, sind schlecht isoliert, haben nicht genug Wasseranschlüsse und kein funktionierendes Abwassersystem. Und über die letzten Jahre haben sich die Verhältnisse weiter verschlechtert.
Im August 2010 forderte Oxfam die Behörden in Tiflis auf, mehr für die Binnenflüchtlinge zu tun, nachdem man 5 000 von ihnen in einer nächtlichen Aktion gewaltsam aus ihren Unterkünften in der Hauptstadt vertrieben hatte. Manche bekamen keine andere Wohnmöglichkeit angeboten und wurden aufgefordert, sich bei Verwandten oder Freunden einzuquartieren. Viele verloren bei dieser zweiten Vertreibung ihre letzten Habseligkeiten.
Seitdem werden die Betroffenen in das Dorf Postchozeri verfrachtet, das im Grenzgebiet zum abtrünnigen Abchasien liegt. Dieses Dorf, das zur Gemeinde Zalenjicha gehört, ist ähnlich abgelegen wie das Lager Freseti und bietet keine Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben, meint Keti Getiaschwili, die Vorsitzende von Oxfam Georgia. Viele Flüchtlinge haben weder Strom noch Wasser, und auch hier sind die Aussichten auf Arbeit sehr begrenzt. Nicht einmal der Zugang zum Dorf ist sicher, denn es grenzt fast an die abchasische Provinz Gali, in der abchasische und russische Soldaten stationiert sind.
Zwei Jahre nach dem russisch-georgischen Krieg ist die Lage in diesem Teil der Kaukasus-Region noch immer „unsicher und gefährlich“, erläutert Lawrence Scott Sheets von der International Crisis Group (ICG). Der ICG zufolge haben 2008 alle drei Seiten – Georgier, Russen und Südosseten – Kriegsverbrechen begangen. Aber am schlimmsten waren die ossetischen Milizen, die noch nach dem 12. August, als Russland schon die Einstellung der Kampfhandlungen verkündet hatte, georgische Dörfer geplündert, abgebrannt und in einigen Fällen mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht haben.
Obwohl Russland im September 2009 einen von Frankreich vermittelten Waffenstillstand unterzeichnet hat, der den Abzug der russischen Truppen vorsah, blieben russische Soldaten bis zum 18. Oktober 2010 in dem georgischen Grenzdorf Perewi stationiert. Wie die Regierung in Tiflis danach erklärte, war „die Beendigung der Besatzung für Georgien und speziell für die Bewohner dieser Dörfer äußerst wichtig“, aber sie betonte auch: „Der Rückzug der russischen Truppen aus Perewi ist nur ein winziger Schritt, wenn man bedenkt, welche Verpflichtungen aus dem Waffenstillstandsabkommen vom 12. August 2008 Russland alle noch nicht erfüllt hat.“
Russland hat nach wie vor tausende Soldaten in Südossetien und Abchasien stehen. Zudem hat Moskau mit den abtrünnigen Regionen vertraglich vereinbart, dass die Russen zunächst noch mindestens fünf Jahre für die Bewachung der Grenzen zu Georgien verantwortlich sind. Zudem darf die russische Armee in Südossetien 49 Jahre lang Militärstützpunkte unterhalten. Mittlerweile hat Russland allen internationalen Organisationen, einschließlich der Beobachtermission der EU, den Zutritt zu beiden Gebieten untersagt. Überdies hat es – trotz weltweiter Verurteilung – Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannt.
Mit seinen Militärbasen verfügt Moskau über „das Potenzial, um beträchtliche Teile des östlichen und westlichen Georgien zu kontrollieren“, meint der ICG-Experte Sheets. Von diesen Basen aus können die Russen mit ihren Panzern, ihrer Artillerie und ihren Raketen- und Luftabwehrsystemen sowohl Tiflis als auch die Ost-West-Schnellstraße erreichen, die russische Truppen im Krieg von 2008 erobert hatten. Seit August 2008 konnte Moskau also seine Position in Abchasien und Südossetien weiter konsolidieren und bekam dafür, wenn überhaupt, nur verhaltene Kritik zu hören.
Klavierklänge können kaum trösten
Von Sugdidi im Westen Georgiens fahre ich mit meinem Übersetzer Eliso in Richtung abchasische Grenze. „Der Abchasienkrieg war für ganz Georgien ein fürchterlicher Schock“, erzählt Eliso, „unsere Träume, unsere Hoffnungen, unsere Sicherheit – all das schien mit einem Schlag zerstört zu sein.“ Der Verkehr zwischen Abchasien und dem von der georgischen Regierung kontrollierten Gebiet ist seit dem Krieg von 2008 erheblich eingeschränkt. An der sogenannten Verwaltungsgrenzlinie (Administrative Boundary Line, ABL) stehen auf abchasischer Seite russische Soldaten, die alle Bewegungen über die ABL hinweg scharf kontrollieren. Theoretisch können Georgier, die in der Provinz Gali im Süden Abchasiens leben, die ABL überqueren, aber ob sie es im Einzelfall tatsächlich dürfen, das entscheiden allein die Grenzposten.
Seit der Stationierung russischer Soldaten sind Binnenflüchtlinge beim Grenzübertritt immer wieder Schikanen und Misshandlungen ausgesetzt. Ab und zu werden sie auch willkürlich gefilzt und müssen irgendwelche „Strafgelder“ zahlen. Das macht es den in Sugdidi lebenden Flüchtlingen schwer, mit ihren in Abchasien gebliebenen Angehörigen in Kontakt zu bleiben.
An der Grenze blättert ein Sicherheitsoffizier unsere Papiere durch und erklärt uns, dass wir bis in die Mitte der Brücke gehen dürfen, die den Grenzfluss Inguri überspannt. Dem abchasischen Grenzposten dürfen wir uns aber nur auf 100 Meter nähern. Es kommen nur wenige Leute über die Brücke, die meisten zu Fuß, einige auch mit Pferdefuhrwerk. Ein paar schwarz gekleidete alte Frauen schleppen schwere Lasten über die Brücke. Kaum jemand will mit einem reden.
Nur mit einem etwa 60-jährigen Mann, der jetzt in Georgien lebt, aber hin und wieder nach Gali zurückgeht, ergibt sich ein kurzes Gespräch. „In Georgien fühle ich mich sicherer, aber im Herzen bin ich in Abchasien. Dort ist meine Heimat. Doch seit wir weg sind, ist es nicht mehr derselbe Ort. Dieser Zustand zieht sich einfach schon zu lange hin. Wir brauchen eine Versöhnung. Die Grenzen müssen sich öffnen, damit wir wieder Kontakte entwickeln können.“
Viele Flüchtlinge aus Abchasien sind schon vor 17 Jahren gekommen. Ana war neun, als sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester fliehen musste. Heute ist sie Ende zwanzig. Ich besuche sie in ihrer winzigen Behausung, in einer ehemaligen Chemiefabrik am Stadtrand von Sugdidi. Es stinkt nach Urin, die Gemeinschaftstoilette liegt gleich um die Ecke. In dem einen Raum, den man ihnen zugewiesen hat, lebt Ana mit ihrem Mann und den zwei Kindern und mit ihrer Mutter.
Ana klimpert auf einem verstimmten Klavier herum. Ihre Mutter hält ein Kruzifix umklammert und brummt leise mit. Im Abchasienkrieg von 1993 gab es mehrere tausend Tote. Am Ende waren fast alle ethnischen Georgier aus der heutigen Minirepublik vertrieben. In Georgien sprach man damals von ethnischen Säuberungen. Die trafen auch Ana und ihre Familie. Sie hatten in einem georgischen Dorf in der Nähe der Industriestadt Tkwarcheli gelebt, an das Ana oft zurückdenkt: „Bis zum Krieg führten wir in Abchasien ein friedliches und ungestörtes Leben. Zwischen Georgiern und Abchasen gab es keinen Unterschied, jedenfalls dachte ich das. Wir gingen bei unseren Nachbarn ein und aus. Bis mein Vater getötet wurde.“
Da floh die Familie nach Sugdidi. In dieser Kleinstadt, die nur 10 Kilometer südlich der heutigen Grenzen liegt, strandeten damals tausende Georgier aus Abchasien. „Untergekommen sind wir in dieser Fabrik hier“, berichtet Ana weiter, „es gab kein fließend Wasser, keinen Strom, keine Toiletten. Die Fensterscheiben waren kaputt, manche durch Pappe ersetzt. Im Winter war es so kalt, dass wir dauernd krank waren. Mama hat versucht, uns Kinder mit Geschichtenerzählen zu trösten. Aber das war alles zu viel für sie und sie bekam psychische Probleme. 17 Jahre später leben wir immer noch hier, und die Verhältnisse sind inzwischen noch schlechter. Wir haben schon soundso oft versucht, eine andere Wohnung zu finden. Wir wissen nicht, ob wir irgendwann nach Abchasien zurückkönnen oder ob wir für den Rest unseres Leben hier hängen bleiben.“
Ana starrt aus dem Fenster, dann beginnt sie wieder auf dem Klavier zu spielen. Das Stück trage den Titel „Der Frühling ist gekommen und die Blumen blühen“, meint Anas Mutter. Doch Ana flüstert mir zu, dass ihre Mutter inzwischen an Wahnvorstellungen leidet.
Fußnoten: