11.02.2011

Zwischen Wau und Blauem Nil

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Zwischen Wau und Blauem Nil

Am ersten Januar 1956 erklärte der Sudan seine Unabhängigkeit. Aber bereits im Juli 1955 hatte im Süden des Landes ein Aufstand begonnen: Die Soldaten eines in der Garnisonsstadt Torit stationierten Bataillons rebellierten gegen ihre Offiziere. Darin kam die Weigerung des Südens zum Ausdruck, die Schlüsselpositionen des neuen Staats den Politikern des Nordens zu überlassen, die mit der Kolonialmacht paktiert hatten und dem Land eine arabisch-muslimische Prägung geben wollten.

Der Bürgerkrieg, den die Rebellenbewegung Anyanya (Schlangengift) begann, dauerte bis 1972. Unterstützt wurden die Rebellen nicht nur von den christlichen Kirchen, sondern auch – in Zeiten des Kalten Kriegs – vom Äthiopien des Haile Selassie und von Israel.

Die Unabhängigkeitsbestrebungen des Südens wurden auch anderen Bruchlinien zugeordnet: der zwischen Orient und Okzident, der zwischen arabischer Welt und südlichem Afrika und der zwischen Christentum und Islam. Dieser letzte Gegensatz bildete sich heraus, obwohl der Süden erst Anfang des 20. Jahrhunderts missioniert wurde und hier weniger als 20 Prozent der Bevölkerung Christen waren. Die große Mehrheit hielt an ihren animistischen Naturreligionen fest, gerade einmal 5 Prozent waren Muslime.

Den westlichen Befürwortern der Unabhängigkeitsbewegung ging es darum, das Vordringen des Islams nach Schwarzafrika zu verhindern und die arabischen Staaten und vor allem Nassers Ägypten in Schach zu halten, das damals für die Blockfreiheit und den palästinensischen Widerstand eintrat. Zudem erschien ihnen die Rebellion im Südsudan als probates Mittel, die Sowjetunion von Afrika fernzuhalten.

Der Südsudan ist ein etwa 650 000 Quadratkilometer großes Gebiet mit ganz unterschiedlichen Regionen, deren Bevölkerung sich teils dem Nordsudan und teils Ostafrika zugehörig fühlt.

Als der „Süden des Südens“ gilt das von Regenwald und Savanne bedeckte Äquatoria, das an die Zentralafrikanische Republik (RCA), den Kongo (RDC), Uganda, Kenia und Äthiopien grenzt. Hier leben zumeist kleine lokale Gemeinschaften von Ackerbauern. Es ziehen aber auch größere Gruppen von Reiternomaden durch, die sich wie das Zweimillionenvolk der Zandé zwischen der Zentralafrikanischen Republik und dem Kongo bewegen. Andere Nomaden wie die Toposa nutzen mit ihren Herden die sehr trockenen Gebiete im Osten.

Auf diesen äußersten Süden und vor allem deren Zentralregion richtete die Kolonialmacht ihr besonderes Augenmerk. Die Missionare betrieben nicht nur Schulen, sondern bauten auch Kontakte zu den britischen Kolonien Kenia und Uganda auf. Aus der lokalen Elite – ein Produkt dieser Kolonialpolitik – rekrutierten sich später die Separatisten der Anyanya. Die Bewegung orientierte sich aber auch deshalb so stark nach Ostafrika, weil die Briten mit ihrer Politik der „closed districts“ bis 1947 die Verbindungen zwischen Nord- und Südsudan gekappt hatten. Damit wollten sie die Arabisierung und Islamisierung des Südens durch Händler und Prediger aus dem Norden verhindern.1

Weiter nördlich, beiderseits der Sumpfgebiete am Oberen Nil, liegen die Provinzen Bahr al-Ghazal und A’ali an-Nil, die durch den Weißen Nil und seine Zuflüsse entwässert werden. Diese Regionen pflegten seit dem frühen 19. Jahrhundert enge Beziehungen zu Khartum, das 1824 am Zusammenfluss von Blauem und Weißem Nil gegründet wurde. Nachdem die Ägypter 1840 bis Gondokoro im Süden vorgedrungen waren, wurde die Region zum Revier von Sklavenjägern, die osmanische und europäische Händler belieferten. Im westlichen Savannengebiet von Bahr al-Ghazal jagten sie noch bis in die 1870er Jahre hinein schwarze Sklaven für die Märkte in Ägypten und in Istanbul.

In der Umgebung der Provinzhauptstadt Wau und einiger neuer Ortschaften entstand in der Folge ein Bevölkerungsgemisch aus Sklaven, Freigelassenen und Soldaten, in dem sich der Islam und die arabische Sprache ausbreiten konnte. Mit der Zeit wurden die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen der Region zum Nordsudan immer intensiver, und 1960, nach dem Ende der britischen Herrschaft, wurde sogar eine Eisenbahnlinie von Wau nach Khartum gebaut.

Insgesamt jedoch blieben die Beziehungen Norden und Süden uneinheitlich und sporadisch. Wo es sie gab, waren sie weniger durch eine kulturelle Nähe als durch geografische, historische und wirtschaftliche Faktoren bestimmt. Das erklärt auch, warum das 1972 in Addis Abeba ausgehandelte Friedensabkommen dem Süden eine weitgehende Autonomie zugestand, während der Norden die hoheitlichen Funktionen behielt.

Mit der anfänglichen Begeisterung in Juba – wo man jetzt ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung hatte – war es jedoch bald vorbei, denn die Regierung in Khartum begann eine Politik des „Teile und herrsche“. Seit 1977 wurden die Sonderrechte des Südens zunehmend infrage gestellt: Die Zentralregierung verfügte die Neuaufteilung in drei Regionen (Äquatoria, Bahr al-Ghazal und Oberer Nil) und ordnete diskriminierende Maßnahmen gegen Staatsdiener an, die dem schwarzafrikanischen Volk der Dinka angehörten. Auch verweigerte Khartum dem Süden den verabredeten Anteil an den künftigen Erdölerträgen.

Im Mai 1983 setzte sich Oberst John Garang, ein ehemaliger Anyanya-Kommandeur, der in die sudanesische Armee übernommen worden war, an die Spitze einer neuen Rebellenbewegung. Im Gründungsmanifest seiner Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung (SPLM) kam allerdings die Unabhängigkeit des Südens nicht mehr vor. Stattdessen forderte man gleiche Rechte für alle Sudanesen, ohne Ansehen von Religion und Herkunft, in einem neuen gemeinsamen Staat.

Dieser Entwurf eines „Neuen Sudan“ war ein Angebot an alle entrechteten Sudanesen, an alle, die – ob im Norden oder im Süden – gegen die politische, wirtschaftliche und soziale Übermacht der arabisch-islamischen Bevölkerung des Niltal aufbegehrten. Im Süden standen vor allem die großen nilotischen Ethnien in den Provinzen Oberer Nil und Bahr al-Ghazal (die Dinka, Nuer und Shilluk) hinter diesem Konzept, aber auch kleinere Volksgruppen in Äquatoria, von denen der erste Befreiungskrieg ausgegangen war.

Nach dem Tod von John Garang im August 2005 geriet die Idee des Neuen Sudan zunehmend in Vergessenheit. Während einige sehr arme Regionen des Nordens und die Städte mit gemischter Bevölkerung immer noch große Hoffnungen in einen geeinten Sudan setzten, war davon im Südsudan schon lange nichts mehr zu spüren.

Jetzt drohen neue Spannungen, vor allem in drei Regionen im Zentralsudan. Im Bundesstaat Obernil, im Sonderterritorium Abyei und in den Nuba-Bergen leben viele unterschiedliche Ethnien, für die sich mit der Sezession des Südens jetzt die Frage stellt, ob sie beim Norden bleiben wollen oder nicht.

Marc Lavergne

Fußnote: 1 Von der Oberhoheit Ägyptens (1821 bis 1885) befreite sich der Sudan durch einen Aufstand unter dem politisch-religiösen Führer Muhammad Ahmad (al-Mahdi), der ein Kalifat errichtete. Als dieses 1898 durch eine britische Truppe unter Lord Kitchener zerschlagen wurde, fiel der Sudan unter ein britisch-ägyptisches Kondominium. Damit verhinderte London, dass sich die ägyptischen Hoffnungen auf eine Annexion des Landes erfüllten. Siehe auch Georg Brunold, „Das Erdenrund ein Gottesstaat. Im 19. Jahrhundert begründete der Mahdi im Sudan den modernen politischen Islam“, Le Monde diplomatique, Mai 2008. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Marc Lavergne ist Forschungsdirektor am französischen Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und am ägyptischen Forschungs- und Dokumentationszentrum für Wirtschaft, Recht und Soziales (Cedej) in Kairo und Khartum.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2011, von Marc Lavergne