11.02.2011

Die Bahnhofslektion

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Die Bahnhofslektion

Das Beispiel Stuttgart 21 und die Grundlagen der Demokratie von Lutz Wingert

Kein Zweifel: Für viele Beobachter gehört China die Zukunft. Nicht nur wegen seiner Ressourcen, darunter die seltenen Erden, über die das Land verfügt. Chinas Kartell gnadenlos autoritärer Entscheider besitzt auch einen unschätzbaren Vorteil gegenüber den Regierenden in Brüssel oder Berlin. Anders als in Deutschland wird der chinesische Weg in die Zukunft nicht von unüberhörbaren Protesten der Regierten gebremst.

Als der deutsche Architekt Gerhard Starzetz in Peking seine Olympiabauten vorstellte, lobte er das zügige Verfahren: „Ein solches Vorhaben wäre in Europa undenkbar – aber hier geht alles schnell und ohne große Diskussion.“ Auch der BASF-Chef Jürgen Hambrecht verlangt mehr Respekt dafür, dass die Chinesen und Russen in Sachen Freiheit und Demokratie anders denken.

Noch mag die autoritäre Versuchung eines aggressiven Durchregierens im Westen so fern liegen wie Peking. Aber der Ruf der Eliten nach einem Ende von Diskussion und Protest wird lauter. So sorgen sich deutsche Industrieverbände darum, dass die Bürgerproteste zum Investitionshemmnis Nummer eins in Deutschland werden. Dieser Sorge hat sich der deutsche Innenminister Thomas de Mazière angenommen und mit einem Gesetzentwurf zu Infrastrukturplanungen reagiert. Gab es bislang eine eingeschränkte Pflicht zur öffentlichen Erörterung solcher Vorhaben, so soll zukünftig die Diskussion mit Bürgern ins Ermessen der Behörden gestellt werden. „Irgendwann muss […] ein Schlusspunkt gesetzt werden. Ansonsten verlieren wir unsere Zukunftsfähigkeit!“, befürchtet der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle.1

Schlusspunkte von politischen Debatten sind ein Zeichen hoheitlichen Handelns. Mit ihnen zeigen staatliche Akteure Macht und Autorität. Sie tun das aber nicht immer. Nicht selten wird hoheitliches Handeln ersetzt durch ein Handeln, bei dem Regierungen, Behörden, Parlamente keine Anordnungen erteilen, sondern Vereinbarungen treffen. „Wie viel seid ihr bereit zu zahlen?“, soll die Bundesregierung die Chefs der deutschen AKW-Betreiber im Herbst 2010 gefragt haben. Die Antwort wurde partnerschaftlich diskret zunächst nur in einem internen, nächtlichen Zusatzprotokoll niedergelegt.

Es fällt auf, dass der Ruf nach Schlusspunkten und nach der Einhaltung von Regeln immer dann laut wird, wenn Bürger protestieren. Kaum hörbar ist dieser Ruf hingegen, wenn es um starke Investoreninteressen geht. Hier beharren die staatlichen Akteure nicht darauf, dass im Namen der „Zukunftsfähigkeit“ Großprojekte möglich bleiben müssen. Ein solches Großprojekt wäre zum Beispiel die viel diskutierte Einrichtung einer standardisierten, europaweiten Haftung privater Gläubiger bei Staatsanleihen. Diese Gläubigerhaftung könnte ein Baustein der Grenzen sein, die zukünftige hochriskante Kettenreaktionen auf den Finanzmärkten verhindern helfen.

Ebenso unterschiedlich ausgeprägt ist die Empfindlichkeit gegenüber der Aushöhlung von Regeln, zum Beispiel gegenüber der Vorgabe, die Budgethoheit der Parlamente zu wahren. Unter Verweis darauf wurde ein Volksentscheid zum Bahnprojekt Stuttgart 21 wegen seiner Konsequenzen für den Landeshaushalt abgewiesen. Fast zeitgleich missachtete die Regierung den vorgeschriebenen Parlamentsvorbehalt bei der milliardenschweren Bürgschaft des Landes Baden-Württemberg für den Kauf der Anteile von dem französischen Konzern Électricité de France (EdF). Offensichtlich hatte sich der Verkäufer EdF geweigert, den verfassungsgemäßen Parlamentsvorbehalt zu akzeptieren. In diesem Fall begleitete nur Schweigen die Herabstufung des Landesparlaments zu einem Notar.

Auch dürfen noch Wetten abgegeben werden, was in Brüssel mit Blick auf Budapest dauerhaft mehr Bedenken erzeugen wird: das grundrechtsfeindliche Mediengesetz oder die wettbewerbsfeindliche Sondersteuer für ausländische Unternehmen in Ungarn.

All das bezeugt eine beunruhigende Unwucht im staatlichen Handeln – hier das kooperative Aushandeln, dort das hoheitliche Anordnen. Nun mögen gelassenere Gemüter vielleicht einwenden: In der Demokratie habe das Volk dem anordnenden Staat seine Macht bloß geliehen, und das Volk besitze das letzte Wort. Die Bedingung sei lediglich, dass sich das Volk auf den legitimen Wegen der politischen Verfahren äußert, also insbesondere durch Wahlen. Wer so argumentiert, scheint sich nicht sonderlich daran zu stören, dass auf den etablierten politischen Kanälen die Stimmen von Bürgern regelmäßig dann untergehen, wenn marktgewichtige Eigentümermacht gefährdet wird.

So zog die Deutsche Bahn AG während des großen Pro und Contra zum geplanten Stuttgarter Tiefbahnhof die Trumpfkarte einer Bauherrenklage für den Fall, dass sich in der Schlichtung die Gegenargumente durchsetzen sollten. Die Drohung der Bahn AG wirkte wie ein Veto. Sie genügte, damit der Schlichter Heiner Geißler die wochenlang erörterten Argumente wieder einsammelte mit dem Hinweis, die sachliche Alternative könne wegen der Eigentümerrechte des Bauherrn nicht wirklich erwogen werden.

Nicht nur die Stimmen hinter solchen Argumenten verhallen oft ungehört. Das gilt zum Beispiel auch für die einhellige Forderung nach einem nennenswerten, privatwirtschaftlichen Sicherungsfonds von Banken, der den Vollkaskoschutz durch den Steuerstaat vermeidet und sicherstellt, dass der Anleger nicht auf Kosten Dritter mehr gewinnt, als er selbst riskiert.

Diese Entwicklung führt dazu, dass Demokratie im Sinne einer gemeinwohlorientierten Selbstbestimmung freier Bürger verloren geht. Statt dessen breitet sich eine Art Restaurant-Demokratie aus: Vorzugsweise am Wahltag äußern die Bürger ihre Wünsche. Der Kellner in Form einer Partei nimmt sie entgegen und trägt sie in die gut abgeschirmte Küche. Dort halten die ministeriellen Köche gerne Rücksprache mit den meist privatwirtschaftlichen Experten über Grundlage und Zutaten des Menüs, je nachdem, ob es sich um ein Menü in Sachen Gesundheit, Finanzmarktregulation oder Stadtentwicklung handelt. Nach der Vorspeise werden Umfragen im Gästeraum des Bürgerpublikums gemacht und an die Kellner gemeldet. Wem die dann servierten Entscheidungen nicht schmecken, der kann beim nächsten Mal andere Wünsche anmelden oder sich an andere Kellner wenden.

In dieser Vorstellung von Demokratie kommen die Bürger ohne Verbands- oder Investorenmacht hauptsächlich als Zuschauer vor. Ihnen bleibt das Recht, den vermeintlichen Entscheidern an Wahltagen Generalvollmachten auszustellen oder sie wieder zurückzunehmen. Das ist zu wenig. Denn die Entscheidungen zwischen den Wahltagen sind ja oft weitreichend und unumkehrbar. Und sie werden von den Beauftragten, den „Regierungsköchen“, auch nicht ohne Einwirkung mächtiger Interessenten getroffen.

Gewiss, Wahlen sind unverzichtbar für eine Demokratie. Aber sie allein können den Zweck von Entscheidungsverfahren nicht erfüllen. Der erschöpft sich nämlich nicht darin, verschiedene Seiten in die Entscheidungsfindung einzubeziehen und danach die Logik des „mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen“ walten zu lassen. Wer die Legitimation durch Verfahren darauf beschränkt, irrt. Es kommt eben nicht nur darauf an, dass entschieden wird, sondern dass auf richtige Weise entschieden wird. Wenn die Verfahrensregeln schlecht sind, wird die auf ihnen beruhende Legitimation brüchig und die Bereitschaft, sich an diese Regeln zu halten, schwindet.

Was die Maßstäbe für richtige Entscheidungsverfahren sind, ist eine der großen Streitfragen der politischen Philosophie. Sie wird auch mit Blick auf die direkte Demokratie der Volksabstimmungen gestellt und oft von der Befürchtung begleitet, der Einzelne gerate dabei unter die Räder der Mehrheit. Um diese Befürchtung zu zerstreuen, darf eine erdrückende Mehrheit nicht einfach per Entscheid über elementare Rechte des Einzelnen verfügen. Denn kein Mensch geht in der Gemeinschaft auf, welche auch immer das sei.

Zu den Maßstäben für richtige Entscheidungen und dazu passende Verfahren gehört deshalb, dass die Grundrechte gewahrt bleiben. Ein anderer Maßstab ist, dass sie mutmaßlich das Gemeinwohl befördern. Dieser Maßstab kommt in einer Restaurant-Demokratie leicht zu kurz. Im Restaurant denken die Leute ja zu Recht nur an ihr eigenes Wohl. Wer weiß, vielleicht kommt ihnen auch noch das Wohl von Amigos in den Sinn. Das ist zu wenig. In einem demokratischen Gemeinwesen müssen sich die Bürger auch fragen, was gut für alle zusammen ist. Das ist die Frage nach dem Gemeinwohl und sie kann nicht ohne Diskussion beantwortet werden. Ein bloßes Protokollieren von Wählerwünschen durch die Parteien reicht nicht. Auch deshalb sind Generalvollmachten per Wahlzettel unzulänglich.

„Gemeinwohl“ ist allerdings ein großes Wort. Es wirft einen langen Schatten, in dem vieles dunkel und für die Politik untauglich bleibt. Das Gemeinwohl kann aber auch in der schärfer umrissenen Gestalt von Gemeinschaftsgütern oder öffentlichen Gütern auf die politische Bühne treten.

Leistungsfähige, öffentliche Verkehrswege oder Telekommunikationsnetze in der gesamten Fläche gehören zu solchen Gütern; wie auch ein Gesundheitssystem, das allen benötigte Gesundheitsleistungen gewährt und das ein ruinöses, aber individuell vorteilhaftes Hin- und Herwechseln zwischen den Kassen vermeidet. Bei solchen Gütern darf ein allgemeiner Bedarf unterstellt werden, den private Anbieter allein kaum decken können. Ganz einfach weil diese öffentlichen Güter allen zugänglich und also nicht exklusiv verkäuflich sein sollen.

Natürlich wird man ohne zähen Streit kaum zu einer Antwort kommen, was das Gemeinwohl ausmacht. Stromleitungen zum Beispiel dürften als Teil einer flächendeckenden Infrastruktur zu den öffentlichen Gütern zählen. Nur sind ihre belastenden Wirkungen nicht so gleich verteilt wie ihr Nutzen. Damit handelt man sich Auseinandersetzungen über die Frage ein, ob die ungleiche Belastung eine unfaire Härte ist und ob sie nicht durch eine – pro Haushalt ein bis zwei Euro im Monat teurere – unterirdische Trassenführung auf alle verteilt werden sollte.

Gleichwohl ist es nicht nutzlos zu fragen: Was ist gut für alle zusammen? Was sollte ein öffentliches Gut und was eine öffentliche Last sein, also etwas, das alle Mitglieder eines Kooperationszusammenhangs genießen können oder schultern sollten? Denn mit dieser Frage wird der Sinn geschärft für das feine Geflecht an gesellschaftsweiten und auch übernationalen Kooperationen, von denen man individuell oder einzelstaatlich zehrt.

Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Zuarbeiten und Abhängigkeiten wird deutlicher, wo es an Gegenseitigkeit mangelt und wo Folgekosten von individuellen Vorteilen und wirtschaftlichen Erträgen auf Dritte abgewälzt werden. Überdies wird ein Kooperationsbedarf spürbarer, der sich auch auf übernationale öffentliche Güter und Lasten erstrecken kann.

Nicht jede Bürgerinitiative kämpft fürs Gemeinwohl

So ist eine CO2-Senke wie der Yasuni-Regenwald in Ecuador sicher ein globales öffentliches Gut. Seine Bewahrung verlangt eine internationale Kooperation, die die üblichen, unfairen Ungleichheiten überwindet. Anderenfalls wird man die ecuadorianische Regierung kaum zu dem Verzicht bewegen können, den Regenwald abzuholzen, um an das riesige Erdölfeld darunter heranzukommen. Mit anderen Worten, eine unfaire oder kurzsichtige Klientel- und Kirchturmpolitik, sei sie sektoral, regional oder national, gerät leichter ins Blickfeld, wenn man nach dem Gemeinwohl fragt.

Wer sich um eine Legitimation durch richtige Verfahren bemüht, wird neben dem Grundrechtsschutz auch die Gemeinwohlorientierung zum Maßstab machen müssen. Was bedeutet das für die Verfahren demokratischer Repräsentation? Zweierlei: Zum einen muss erreicht werden, dass eine demokratische Repräsentation solche Gesichtspunkte zutage fördert, die für die Bestimmung öffentlicher Güter und Lasten, also für das nüchtern verstandene Gemeinwohl wichtig sind. Zum anderen muss sichergestellt werden, dass jeder einzelne Bürger das tatsächliche Recht hat, sich Gehör zu verschaffen mit seiner Stellungnahme dazu, was in seinen Augen Erfordernisse des Gemeinwohls sind. Es gibt also zwei Bestandteile der demokratischen Repräsentation: eine Bürger- und eine Gemeinwohlseite. Wie verhalten sich diese beiden Seiten zu einander?

Es wäre falsch zu glauben, die Bürger- und die Gemeinwohlseite fielen einfach zusammen. Denn das Volk, verstanden als die Gesamtheit der Stimmbürger, ist nicht auf das Gemeinwohl geeicht. Wer einen bekundeten Bürgerwillen mit dem Gemeinwohl gleichsetzt, landet schnell bei dem alten Spiel einer fadenscheiniger Antiparteienrhetorik. In diesem Spiel wird der korrupten „politischen Klasse“ ständig die Rote Karte dafür gezeigt, dass sie fähige, tugendhafte Bürger bevormundet. Das auffallend ökonomieferne, reaktionäre Stück kommt mit großem Erfolg seit einiger Zeit in den USA unter dem Namen „Tea-Party-Bewegung“ zur Aufführung. In Deutschland wird es derzeit im Badischen als „Stolz und Wut des Besserverdieners“ unter der Leitung von Peter Sloterdijk geprobt. Seine Dramaturgen verkennen, dass es nahezu unvermeidlich immer nur Teile des Volks sind, die „Wir sind das Volk!“ rufen.

Die Gemeinwohlseite und die Bürgerseite sind aber auch keine voneinander trennbaren Elemente in der demokratischen Repräsentation. Wer das annimmt, neigt zur Auffassung von Demokratie als Regierung nicht durch das Volk, sondern für das Volk. Das passt zur Restaurant-Demokratie, bei der die Bürger von den Entscheidungsprozessen in den Küchenkabinetten ferngehalten werden. Ihre Anhänger loben die Distanz von den Bürgern, die durch das Delegieren der Entscheidungsprozesse an das Regierungspersonal aufgebaut wird. Sie tun das in der Annahme, dass sich diese Distanz vorteilhaft auswirke: Die Erfordernisse des Gemeinwohls kämen so besser in das Blickfeld, und es können schwierigere Themen angemessen behandelt werden, von denen die Bürger ohnehin kaum etwas verstünden.

Diese angenommene positive Wirkung bleibt aber oft aus. Denn die Repräsentanten des Volkes – die Abgeordneten, die Regierung et cetera – rücken auf dem Weg der Delegation nicht bloß von den Bürgern ohne Verbands- oder Investorenmacht ab. Sie rücken oft zugleich in die VIP-Lounge ein, wo machtgeschützte Sonderinteressen bedient werden. Ebenso wenig führt dieser Weg der Delegation von sich aus schon dazu, dass komplexe Sachverhalte sachkundiger behandelt werden.

Im Fall von Stuttgart 21 waren es übrigens nicht die in den Regierungsdienst genommenen smarten Experten, sondern eine Handvoll ungestriegelter Politiker und Vertreterinnen von Nichtregierungsorganisationen zusammen mit vielen informierten Bürgern und einigen gründlichen Journalisten, die den Großkonzern Bahn AG und die Ministerien zur gesteigerten Sachkenntnis zwangen.

Anders gesagt: Die Bürgerseite und die Gemeinwohlseite sind verschiedene und zusammengehörige Elemente der Demokratie. Eine bürgerschaftlicher Repräsentation macht beide Elemente im politischen Entscheidungsprozess gegenwärtig: die Stimmen der Bürger und die Erfordernisse gemeinschaftlicher Güter.

Nur wenn eine solche bürgerschaftliche Repräsentation zustande gebracht wird, besteht Hoffnung auf eine Wiederaneignung der Demokratie im anspruchsvollen Sinne einer gemeinwohlorientierten Selbstbestimmung freier Bürger. Doch dafür reicht es nicht, immer mehr „Dialogforen“ zwischen der organisierten Politik und den Bürgern einzurichten. Denn es geht nicht bloß um mehr Anhörung, sondern um tatsächliche Einflusschancen. Bei bestimmten Themen wären rechtsverbindliche statt bloß empfohlene Mediationen eine solche Chance. Dabei müsste die Prüfung von Alternativen vorgeschrieben werden. So wird mit einem Zuwachs an möglicher Beteiligung von Bürgern ohne Verbands- und Investorenmacht auch ein Zuwachs an sachlich wichtigen Hinsichten ermöglicht.

Die Berücksichtigung von Sachalternativen ist auch für die direktdemokratische Einflussnahme erforderlich. Eine solche Form der direkten Demokratie bestünde in der Möglichkeit zu einer Gesetzesinitiative mit Finanzierungsvorbehalt, die eine erhebliche Anzahl an Stimmbürgern dem jeweiligen Parlament unterbreiten. Wie in der Schweiz üblich, sollten solche Vorstöße zusammen mit alternativen Gegenvorschlägen aus dem Parlament zur Volksabstimmung gestellt werden.

Man darf allerdings nicht übersehen, was vor Abstimmungen und Wahlen liegt. Dazu gehört die Macht, Dinge gar nicht erst zur Entscheidung zu bringen. Global handelnde Finanzmarktakteure zum Beispiel haben eine solche Macht. Vielleicht werden ihre Anlagebewegungen neben anderen Faktoren bald europäische Staatsanleihen zur Stabilisierung des Euros erforderlich machen. Das wiederum dürfte zu einer Einschränkung des Haushaltsrechts führen, über das die immerhin direkt gewählten, nationalen Parlamente in der EU noch verfügen. Denn großformatige EU-Institutionen wie die Brüsseler Kommission und der Ministerrat würden sich dann vor die nationalen Parlamente setzen und im Interesse der Haushaltsdisziplin einschneidende Vorgaben machen. In diesem Fall gäbe es für die nationalen Parlamente in der EU einfach weniger zu entscheiden. In dem langen Kanal zwischen Wahlbürgern, delegierten Parlamentariern und tatsächlichen Entscheidungen würden die Stimmen der Bürger noch weniger ankommen. Zur Wiederaneignung der Demokratie gehört deshalb, dass die Vetomacht von Behörden oder Marktakteuren zurückgedrängt wird.

Die Minderung einer solchen Macht und erhöhte politische Einflusschancen von unorganisierten Bürgern lassen jedoch die öffentliche Diskussion nicht schon zu einer einigermaßen informierten und vernünftigen Auseinandersetzung werden. Sie braucht vielmehr Bürger, die die Sache der Allgemeinheit auch zu ihrer eigenen machen. Demokratie ist anstrengend. Essen gehen ist angenehmer als demonstrieren gehen und sich gründlich über Pro und Contra informieren. Nur, wer alles schluckt, wird irgendwann gar nicht mehr gefragt.

Fußnote: 1 Süddeutsche Zeitung vom 13. Oktober 2010, S. 5: „Wer Duelle liebt, soll ins Kino gehen“. Lutz Wingert ist Professor für Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und Mitglied des Zentrums für Geschichte des Wissens an der Universität und ETH Zürich. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.02.2011, von Lutz Wingert