11.02.2011

Pachamama

zurück

Pachamama

Wie eine Andengottheit zur Schutzheiligen der Umwelt wurde von Renaud Lambert

Am 22. April 2010 erschallte es laut in den Anden: „Pachamama o muerte!“ Mit erhobener Faust stand Boliviens Präsident Evo Morales auf einem Podium in Cochabamba und forderte seine Gäste auf, es ihm gleichzutun. Und 5 000 Vertreter ökologischer, politischer und globalisierungskritischer Gruppen, die aus aller Welt zur alternativen Klimakonferenz in Bolivien zusammengekommen waren, riefen es im Chor: „Pachamama oder Tod!“

Pachamama? „Die ‚Mutter Erde‘ der lateinamerikanischen Indianer“, wie Präsident Morales bereitwillig erklärt. Seit einigen Jahren taucht dieser Begriff immer häufiger in der Presse, in NGO-Publikationen und ökologischer und globalisierungskritischer Literatur auf. „Pachamama mía“, titelte die französische Tageszeitung Libération am 23. August 2010 zu ihrem Bericht über die 11. Sommeruniversität von Attac. Pachamama heißt auch die umweltpolitische Zeitschrift des französischen Grünen Patrick Farbiaz. Seit die Bedrohungen durch den Klimawandel keine Hypothesen, sondern längst Tatsachen sind, gilt die Andengottheit als Inkarnation der nährenden Mutter Erde, die es vor menschlichen Übergriffen zu schützen gilt. Wer „Pachamama“ sagt, meint damit auch die „indigene Bevölkerung, die im Einklang mit ihr lebt“.

Da passt alles zusammen. Die ökologische Bewegung ist ebenso wie die Regierungen der Industrieländer und der aufsteigenden Großmächte an einer Begrifflichkeit von „nachhaltiger Entwicklung“ interessiert, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur integriert. Nach Ansicht der argentinischen Wissenschaftler Diego Domínguez und Daniela Mariotti führt die Suche nach Modellen harmonischen Miteinanders zur Vorstellung des „Indigenen als dem ‚natürlichen Ökologen‘ “1 – als Relikt einer Zeit, in der alle Menschen, wie der britische Ökologe Edward Goldsmith glaubt, „überall in Einklang mit der Natur leben konnten“.2 So fordert uns, die Bewohner des industrialisierten Nordens, die Pachamama zur Wiederentdeckung der vergessenen Weisheit unserer Ahnen auf. Wie sieht es aber bei den Indios aus?

Die Ethnologin Antoinette Molinié stellt fest, dass „noch vor dreißig Jahren in Südamerika kaum von Pachamama die Rede war“.3 Auch würde das Wort in den Anden traditionell eine Gottheit bezeichnen, die sowohl Fruchtbarkeit als auch Dürre bringt und begierig ist nach Opfergaben. Das Wort hat etymologisch wenig mit Mutter und Erde zu tun. „Pacha gehört in ein weites Bedeutungsfeld, das den zeitlichen, räumlichen und irdischen Lebenszyklus umfasst, und mama bezieht sich auf Autorität, welche aber nicht spezifisch weiblich ist“, erklärt der Soziologe Franck Poupeau.4

Für die – mestizischen – Stadtbewohner Lateinamerikas ist „das Etikett ‚indianisch‘ Synonym für Armut“, schreibt die peruanische Anthropologin Marisa de la Cadena.5 Reizvoll erscheine es hingegen dann, wenn es sich auf die Verehrung der „Mutter Erde“ beziehe; so hätten einige von ihnen, die sich längst von ihren Wurzeln entfernt hätten, ihre indianische Identität „wiederentdeckt“ – auch wenn dafür gewisse Aspekte der präkolumbianischen Vergangenheit ausgeklammert wurden.

„Ich habe regelrechte Missionsveranstaltungen erlebt“, erzählt Antoinette Molinié. „Dozenten von irgendeiner Universität kamen in abgelegene Dörfer und verkündeten den Indios – also den sozusagen ‚echten‘ Indios –, wer diese ‚Pachamama‘ ist, von der sie noch nie gehört hatten.“ Die Riten, die sie wieder(er)fanden, „werden aus allen möglichen historischen und anthropologischen Texten zusammengesponnen, manchmal völlig zusammenhanglos, so dass surrealistische Patchworkarbeiten entstanden“. Die französische Wissenschaftlerin konnte miterleben, was außerhalb der Universität aus ihren eigenen Forschungsarbeiten wurde.

Nichts deutet darauf hin, dass diese Lehren in den traditionellen ländlichen Gemeinschaften auf fruchtbaren Boden fallen. Sie kommen aber Begrifflichkeiten wie „überlieferte Harmonie“, „ursprüngliche Reinheit“ oder „kulturelle Authentizität“ entgegen, die den von NGOs und Tourismusindustrie propagierten Vorstellungen Resonanz geben. Westliche Beobachter bekommen deshalb oft genau das angeboten, was sie beobachten wollten. Etwa auf dem „Hexenmarkt“ der bolivianischen Hauptstadt La Paz.

An den Buden und Ständen kann man inzwischen überall Lamaföten kaufen, um sie der Pachamama zu weihen. Als spirituelles Alltagsritual soll diese Opfergabe, so ein Reiseführer, „für die Fruchtbarkeit und den Schutz der Pachamama sorgen“ oder neuen Häusern Segen bringen. Noch Ende der 1990er Jahre war sie allerdings beim „Flehen in einer hoffnungslosen Situation“ angezeigt, erinnern Antoinette Molinié und Jacques Galinier. Lamaföten wurden lokalen Göttern dargebracht, die auf bestimmten Berggipfeln wohnten. Um an die kostbaren Objekte heranzukommen, „musste man verwandtschaftliche Beziehungen spielen lassen“ – und oft lange warten. Heute, so berichten die beiden Anthropologen, bieten die Stände der „Schamanen“ die Föten kistenweise feil. „Neue Lieferungen werden ausgerufen und werbewirksam zwischen ausgestopften Kondoren ausgestellt, die in den Opferriten nie eine Funktion hatten.“6

Allseitige Harmonie für Berge, Ameisen und Lithium

In welcher Form auch immer, die Präsenz der Pachamama in der lateinamerikanischen Realität lässt sich nicht mehr bestreiten. Beweist sie tatsächlich, dass „Indigene“ auch „natürliche Ökologen“ sind? Glaubt man der Abschlusserklärung des zweiten „Kontinentalen Treffens der indigenen Völker und Nationalitäten“ (Juli 2004), ist dies ohne Zweifel so: „Unsere Vorfahren, unsere Großeltern haben uns gelehrt, unsere fruchtbare Pachamama zu lieben und zu verehren und mit den in ihr zusammenlebenden natürlichen und geistigen Wesen in Freiheit und Harmonie zu leben.“ Und die Deklaration fährt fort: „Wir lehnen […] alle Pläne zur Exploration und Ausbeutung von Erzen und fossilen Energieträgern ab.“

Humberto Cholango ist Vorsitzender der Konföderation der Quechua-Völker Ecuadors (Ecuarunari). Er sagt, dass der Kampf der Indios um ihr Land, ihre Gewässer oder Erdgasvorkommen „dafür sorgen soll, dass die Naturschätze nationalisiert werden und Millionen von Ecuadorianern zugutekommen, nicht nur einer Clique von Familien und transnationalen Konzernen“. Wäre also der jahrhundertelange Kampf der Ureinwohner Lateinamerikas um ihr Land gar nicht notwendigerweise ein Kampf für Mutter Erde? Wäre ihre Verteidigung der Naturschätze des Landes gar nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Verteidigung einer unbefleckten Pachamama?

Bei seiner Amtseinführung im Januar 2006 dankte Boliviens indianischer Präsident Morales der Pachamama für seinen Sieg. In der neuen Verfassung von Ecuador, Artikel 71, steht geschrieben, dass die Natur ein Recht darauf hat, dass ihre Existenz und Bewahrung, die Erhaltung und Regeneration ihrer lebenswichtigen Zyklen, Strukturen, Funktionen und evolutionären Prozesse umfassend geachtet werden. Doch in Bolivien wie auch in Ecuador werden neben dem Pachamama-Kult auch andere Forderungen laut. Starke Volksbewegungen – die sich indianisch nennen oder auch nicht – haben politische Führer an die Macht gebracht, die unter anderem versprachen, die Naturschätze zu nationalisieren, um die Armut zu bekämpfen.

Das ist keine leichte Aufgabe. Und es kann eben leichter fallen, „die Indios zu verteidigen“, indem man eine bestimmte Kosmogonie übernimmt, als das von ihnen bekämpfte Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell anzutasten. In einer Ansprache vom 20. April 2010 vertrat Boliviens Außenminister David Choquehuanca (selbst ein Indio) das indigene Weltbild: „Das Wichtigste sind die Flüsse, die Luft, die Berge, die Sterne, die Ameisen, die Schmetterlinge […]. Der Mensch kommt zuletzt.“ Eine Woche später begrüßte er den Vorschlag der Bolloré-Gruppe, die bolivianischen Lithiumvorkommen (die größten der Welt) auszubeuten, weil die französischen Industriellen– ganz ernsthaft – versprochen hatten, „in Harmonie mit der Pachamama“ arbeiten zu wollen.7

Domínguez und Mariotti befürchten, dass die indianischen Volksbewegungen sich unter dem Einfluss der NGOs nach und nach von ökologischen Begrifflichkeiten vereinnahmen lassen – und die politisch-soziale Bedeutung ihrer Forderungen vergessen könnten. Die Pachamamisierung des Denkens schreitet voran als ein Phänomen, das im Grunde nur die neueste Variante der jahrhundertealten Suche nach dem „edlen Wilden“ Lateinamerikas ist.

Die Figur des „Indigenen“ ist in den Andenstaaten, vor allem in Peru, im 19. Jahrhundert aufgetaucht. Im Zuge der Unabhängigkeit vor zweihundert Jahren suchten die bestimmenden Eliten nach einer sozialen Gruppe, die als Grundlage für den Aufbau der neuen Nationen geeignet wäre. Diese politischen Führer, gewöhnlich Weiße (seltener Mestizen), distanzierten sich sowohl von den Europäern, von denen sie sich emanzipieren mussten, als auch von den Indios, die über territoriale Legitimität verfügten, aber deren verachteten Untertanenstatus niemand ernsthaft infrage stellen wollte.

Die Gründer der neuen Republiken bedienten sich der präkolumbianischen Kultur als einer vermeintlich idealen autochthonen Weltordnung voller Weisheit und Harmonie, mit der sich die Nation identifizieren konnte, ohne die Gesellschaftsordnung zu ändern. Bald sprach man „nicht mehr von ‚Indios‘, den wirklichen, verächtlich als solche bezeichneten Menschen, sondern von ‚Indigenen‘, einem entsoziologisierten, von seinem pejorativen Inhalt gereinigten Begriff“, schreiben Molinié und Galinier. „Die Worte ‚Indio‘ und ‚Indigener‘ haben so viel miteinander zu tun wie Wirklichkeit und Fiktion.“

Die auf der Vorstellung solcher imaginärer Gemeinwesen gegründeten Nationalmythen legitimierten nach der Unabhängigkeit oft die Erhaltung eines Systems, das von tiefer Ungleichheit geprägt war. Bei den Sozialisten des 20. Jahrhunderts mutierte dieselbe Vorstellung zum politischen Projekt der radikalen Veränderung. In Peru glaubte der Soziologe Hildebrando Castro Pozo in den 1930er Jahren, die traditionelle indigene Gemeinschaft (ayllú) eröffne „den Weg des wirtschaftlichen Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit für das sozialistische Peru von morgen“.8 Aber lebten nicht die Inkas in einer strengen Aristokratie, die die Zwangsarbeit institutionalisiert hatte?

Seit Beginn der 1980er Jahre erfreut sich eine bestimmte Spielart des Indigenismus auch der Unterstützung der internationalen Finanzinstitutionen. Mitten in der Schuldenkrise – nachdem die marxistischen Guerillas der Region größtenteils ausgerottet waren – machten IWF und Weltbank ihre Finanzhilfen oft von der Wahrung der kulturellen Rechte von Minderheiten und deren Anerkennung abhängig. Von 1990 bis 2000 haben mehr als ein Dutzend lateinamerikanischer Staaten sich für multiethnisch oder multikulturell erklärt und den Indios besondere – aber nicht unbedingt soziale – Rechte gewährt. Diese Politik trug auch dazu bei, dass die Nationalstaatlichkeit im Hinterhof der USA geschwächt wurde; man entledigte sich nach und nach der Diktaturen, hatte aber dem Siegeszug des Neoliberalismus nichts entgegenzusetzen.

Den Indigenismus, der je nach Bedarf immer wieder neu erfunden wird, charakterisiert eine Paradoxie, die der peruanische Sozialist Alberto Flores Galindo 1986 so beschrieb: „In der Andenregion wurde die ideale Gesellschaft – als Vorbild jeder möglichen Gesellschaft und alternatives Zukunftsmodell – im kollektiven Bewusstsein in die Zeit vor der Ankunft der Europäer verlegt.“9 Wenn es diese ideale Gesellschaft aber tatsächlich gegeben hätte, fährt Galindo fort, wäre die „überlieferte Weisheit“ der indigenen Bevölkerungen durch die Ankunft des Kapitalismus, der zur „Entwurzelung und Auflösung der ländlichen Gesellschaften“ und „der traditionellen Welt“ führte, zerstört worden.

Demgegenüber meint die Abschlusserklärung von der Klimakonferenz von Cochabamba – die das kapitalistische Modell ja vehement kritisiert –, dass die Welt, um der Zerstörung des Planeten ein Ende zu machen, nicht nur „die überlieferten Prinzipien und Betrachtungsweisen der indigenen Völker wiederentdecken“, sondern die „Mutter Erde als lebendiges Wesen anerkennen“ und ihr Rechte zubilligen müsse. Ein Gedanke, der bei Teilen der globalisierungskritischen Bewegung durchaus Beifall fand.

Der Geograf David Harvey, dem die Dringlichkeit ökologischer Politik ebenfalls bewusst ist, wendet sich gegen jede Dichotomie von menschlicher Gesellschaft und Natur. „Die Menschen sind wie alle anderen Lebewesen aktive Subjekte, die die Natur nach ihren eigenen Gesetzen ungestalten.“ Über die Veränderung bestimmter Ökosysteme nachzudenken, heiße also weniger, die Rechte einer hypothetischen „Mutter Erde“ zu verteidigen, als vielmehr „Formen der sozialen Organisation zu verändern, die diese hervorgebracht haben“.

Fußnoten:

1 Realidad económica, Nr. 256, Buenos Aires, Juli 2006. 2 Edward Goldsmith, „The Way: An Ecological World View“, Athens (University of Georgia Press) 1998. 3 Im Gespräch mit dem Verfasser. 4 Franck Poupeau, „L’eau de la Pachamama“, erscheint demnächst bei L’Homme, Paris. 5 Marisa de la Cadena, „Indigenous Mestizos: The Politics of Race and Culture in Cuzco, Peru, 1919–1991“, Durham (Duke University Press) 2000. 6 Jacques Galinier und Antoinette Molinié, „Les Néo-Indiens. Une religion du IIIe millénaire“, Paris (Odile Jacob) 2006. 7 Associated Press, 28. April 2010. 8 Hildebrando Castro Pozo, „Del ayllú al cooperativismo socialista“, Lima (Biblioteca Peruana) 1936. 9 Alberto Flores Galindo, „Buscando un inca“, Lima (Editorial horizonte) 1994. 7 David Harvey, „The nature of environment: dialectics of social and environmental change“, Socialist Register, Bd. 29, London 1993. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien

Le Monde diplomatique vom 11.02.2011, von Renaud Lambert