11.02.2011

Schengenzaun

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Schengenzaun

Im türkisch-griechischen Grenzgebiet von Jiannis Papadopoulos

Die Straßen verlieren sich im Nebel. Die feuchte Kälte beißt ins Gesicht. Ein düsterer Wintermorgen am Tor nach Europa. Die acht Männer mit den dreckverkrusteten Hosen konnten sich noch nicht umsehen in der Neuen Welt, die sie endlich erreicht haben. Sie sind mitten in der Nacht zu Fuß hier angekommen. Der Dialog mit den beiden griechischen Grenzern, denen sie auf dem Dorfplatz von Nea Vissa in die Arme gelaufen sind, ist kurz und knapp. Papiere? Haben sie nicht. Namen? Haben sie auch nicht, nur eine Hautfarbe und ein Herkunftsland: Die Weißen sagen, sie sind Palästinenser, die Schwarzen sagen, sie sind aus Ruanda. Die Sitze in dem Bus, mit dem sie abtransportiert werden, haben Plastikbezüge. Kaum haben sie sich hingesetzt, fallen ihnen die Augen zu. Während ringsum das Dorf erwacht, schlafen sie vor Erschöpfung ein.

Für die Dorfbewohner ist der Frontex-Bus nichts Neues und schon gar nicht die Fremden. Die Frontex-Soldaten, die aus verschiedenen Ländern der Europäischen Union stammen, sind für die Überwachung der EU-Außengrenzen zuständig. Seit Herbst letzten Jahres sind sie auch an der griechisch-türkischen Landgrenze stationiert.1 Die Leute von Nea Vissa haben schon viele Migranten durchkommen sehen. Im letzten Sommer waren es manchmal 300 am Tag. Um den Zustrom einzudämmen, wollen die griechischen Behörden einen 12,5 Kilometer langen Zaun errichten. Er soll den Abschnitt dichtmachen, der nicht am Grenzfluss Evros entlangführt: das Gebiet zwischen den Dörfern Kastanies und Nea Vissa (siehe Karte Seite 6), die für die Grenzgänger die erste Durchgangsstation auf ihrem Weg nach Athen sind.

Die Einheimischen glauben, dass der Zaun ihren Alltag kaum verändern wird. Die Migranten haben hier nie länger Halt gemacht, es gibt deshalb kaum Klagen über irgendwelche Schadensfälle oder Gewalttätigkeiten. Und niemand, der für den Zaun ist, argumentiert mit einem „Schutzbedürfnis“. Nein, in Zeiten der ökonomischen Krise soll das geplante Bauwerk den Griechen am Evros nicht Sicherheit, sondern Arbeit bringen.

Die Bauern von Nea Vissa leben vorwiegend – und mühsam genug – vom Spargelanbau für die EU-Märkte. Und die traditionellen Besenhersteller von Kastanies haben ihre Produktion über die Grenze nach Bulgarien verlagert. „Die Arbeit muss hierbleiben“, fordert Stelios Kasparidis, der ein Kafenion betreibt. „Für den Bau des Sperrzauns sollen sie die jungen Leute aus den Dörfern einstellen.“

In beiden Dörfern hat die Arbeitslosigkeit die produktivsten Kräfte schon vertrieben: die junge Generation und die Familien. Auswanderung hat in der Gegend Tradition. Das erste Jahr des langen Abschieds war 1923. Nach dem im Vertrag von Lausanne vereinbarten Bevölkerungsaustausch mussten die griechischen Bewohner von Bosna (damals Vosnochori) ihr Dorf verlassen, weil es der türkischen Seite zugeschlagen worden war. Sie ließen sich vier Kilometer weiter südlich nieder, in der Hoffnung, eines Tages in ihre alten Häuser zurückzukönnen. Heute lebt Vosnochori nur noch auf den alten Schwarzweißfotos in den Wohnstuben von Nea Vissa.

Der Tankstellenbesitzer Evangelos Kanidis hat in seinem Kassenraum ein Foto seines Großvaters hängen, der zu osmanischen Zeiten in der Türkei geboren wurde. Aber noch stärker ist für Kanidis wie für die meisten seiner Landsleute die Erinnerung an das „Eldorado“, die legendäre Zeit des Wohlstands, die mit der Auswanderungswelle der 1960er Jahre begann.(2) Viele Dorfbewohner fanden damals Arbeit in Deutschland und schickten Geld nach Nea Vissa, während das Dorf rasch auf fast 7 000 Einwohner anwuchs. Die Daheimgebliebenen saßen im Kafenion und spielten Karten oder Tavli, einige lebten auch vom Schmuggel

mit Haschisch und Lederwaren. In dieser Zeit entstanden Häuser mit Fassaden im Stil von Wildwest-Saloons. Die meisten waren einmal Geschäfte und stehen heute leer. Und viele Dorfbewohner sind in die nächste Stadt, nach Orestiada abgewandert.

Heute hat Nea Vissa nur noch 2 000 Einwohner. Die meisten sind ehemalige Bauern, die mit ihren Familien von den Renten der Agrarkasse leben. Die Männer sitzen oft im Kafenion, dessen Besitzer sie „Sherifi“ nennen, weil er mal Polizeibeamter war. Gegenüber verlaufen die Eisenbahngleise, an denen häufig die Migranten entlangmarschieren. Vor ein paar Tagen stand ein Pakistaner barfuß vor dem Kafenion. Der „Sherifi“ hat ihm Strümpfe und Schuhe gegeben.

Für die Einheimischen ist die „Parelasi“ der Fremden ein vertrauter Anblick. Das Wort „Aufmarsch“ ist im Sommer 2010 aufgekommen, als erstmals Scharen von illegalen Migranten eintrafen, darunter Kinder ohne Eltern, Frauen mit Babys und sogar ein alter Mann im Rollstuhl. Der Winter und die Frontex-Leute, die seit letztem November an der Evros-Grenze im Einsatz sind, haben dafür gesorgt, dass der Zustrom nachgelassen hat: 30 pro Tag sind jetzt die Ausnahme. Inzwischen sind die meisten auch erstaunlich gut gekleidet. Zum Beispiel die beiden Algerier, die wir an diesem Morgen an den Gleisen treffen. Sie tragen Lederschuhe und Flanellmäntel, die sie im Rucksack hatten und erst auf der griechischen Seite angezogen haben.

Dimitris Komninos war im letzten Sommer oft der Erste, der die Grenzgänger begrüßte. Er machte wie immer morgens um halb fünf sein Kaffeehaus auf, um Bugatsa3 zuzubereiten. „Sobald sie bei mir Licht gesehen haben, kamen sie von der anderen Straßenseite herüber und bestellten Kaffee und etwas zu essen. Und sie haben immer bezahlt. Jeden Morgen saßen hier 15 Leute. Und danach sagten sie, ich soll die Polizei anrufen.“ Die brachte sie dann zum Aufnahmezentrum, von wo sie wenig später nach Athen weiterfuhren. Die Sondertransporte organisierte die lokale Busgesellschaft, die pro Kopf 60 Euro oder 85 Dollar kassiert.

Die Leute in den Grenzdörfern haben schon lange gelernt, mit den „Fremden“ zu leben. Jeden Sommer beschäftigen die Bauern von Nea Vissa und Kastanies mehr als tausend bulgarische Saisonarbeiter, für einen Tageslohn von 17 Euro. Manche Familien lassen die Bulgaren bei sich wohnen. Türkische Radiosender sind in der ganzen Gegend zu empfangen. Und bei klarem Wetter kann man am Horizont die Minarette von Edirne sehen.

Zwei scharf bewachte Feldwege

In Nea Vissa ist eine Einheit der Ethnofilaki stationiert: mehrere Hundertschaften einer Grenztruppe, die stolz darauf ist, „die Thermopylen zu bewachen“. Der Bauer Nikos Kazantzis, dessen Hof nahe an der Grenze liegt, hat ein G3-Sturmgewehr mit 200 Schuss Munition im Schrank. Er ist überzeugt, dass die Illegalen keinen Ärger machen. „Wenn sie hier ankommen, wollen sie einfach nur weiter. Und wahrscheinlich wissen sie auch, dass wir Waffen haben. Der Zaun wird sie vielleicht stören, aber gelöst ist das Problem damit nicht.“

Georgios Salamaga dagegen, der Polizeichef von Orestiada, hält den Sperrzaun für unerlässlich: „Das wird den massenhaften Zustrom von illegalen Migranten über die Landgrenze unterbinden“, gibt er die offizielle Position wieder. Der Zaun soll zwischen zwei Feldwegen verlaufen, von denen der eine griechisch, der andere türkisch ist. Ähnliche Sperranlagen gibt es bereits an der Grenze zwischen Marokko und den beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla: zwei scharf bewachte Doppelzäune, acht beziehungsweise zwölf Kilometer lang und drei Meter hoch. Im September 2005 kamen hier 13 Menschen ums Leben, als sie die Grenzanlage zu überwinden versuchen. Danach wurde der Zaun auf bis zu sechs Meter erhöht.

Das letzte Mal, dass jemand versucht hat, über den Doppelzaun zu klettern, war im vergangenen November, erklärt Pressesprecher Maria Jesus Vega, als wir die Vertretung des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Spanien anrufen: „Die Menschen wurden durch die Zäune zwar aufgehalten, aber jetzt suchen sie eben andere Wege, so dass die Schlepper nur noch mehr profitieren.“

Auch in Nea Vissa sagen die Leute: „Den Hungrigen kannst du nicht stoppen. Der findet dann eben andere Wege.“ Zum Beispiel weiter im Süden, wo die Grenze am Evros verläuft. 2010 hat die griechische Polizei 56 türkische Schlepper verhaftet, die Illegale mit Booten über den Fluss brachten. Aber das ist sehr gefährlich, besonders bei Hochwasser. Nach Angaben der Frontex sind letztes Jahr 40 Ertrunkene aus dem Fluss gezogen worden.

Wer es auf die griechische Seite schafft, kann dennoch Pech haben und im Haftlager von Filakio landen. Das Dorf hat nur 374 Einwohner, aber mehr als 500 festgenommene Migranten hausen in einer ehemaligen Kaserne. Einer von ihnen ist der Marokkaner Mohammed Dia. Da uns der Zutritt verwehrt wird, kann sich Dia nur von weitem verständlich machen: „Sie treiben ein ganz übles Spiel mit uns. Die ziehen uns hier das Geld aus der Tasche“, schreit er aus dem ersten Stock herüber, die Hände an das Fenstergitter geklammert. „Die sollen uns entweder freilassen oder ausweisen. Und wenn sie uns nicht wollen, sollen sie ihre Grenze dichtmachen.“

Im türkischen Osten wie im griechischen Westen Thrakiens war der diesjährige Winter bislang eher milde. Und der Evros ist nicht das reißende Gewässer wie in anderen Jahren. Der Fluss liegt vier Kilometer östlich von Nea Vissa. Die Einheimischen können ihn sogar überqueren, wenn sie über den Grenzübergang von Kastanies nach Edirne fahren. Dafür brauchen sie keinen Pass, es reicht der griechische Personalausweis.

Eine Spritztour in die Türkei ist für die griechischen Grenzgänger heute so selbstverständlich wie der Gang zum Zigarettenladen. Und doch ist2 es jedes Mal wie der Eintritt in eine andere Welt. Die griechische Grenzstation liegt am Ende einer Straße mit lauter Tavernen und Kaffeehäusern, von denen eines „Perasma“ (Übergang) heißt. Auf türkischer Seite erwartet sie eine ländliche Idylle: Die Grenzstation liegt inmitten von Bäumen, und die Grenzsoldaten halten sich Enten und Pfauen, um Gesellschaft zu haben.

Von hier ist es nur zehn Kilometer bis Edirne. Die Region ringsum hat über die Jahrhunderte viele große Schlachten und Stellungskriege erlebt. Und den Durchzug von hunderttausenden Griechen und Türken, die im Zuge des ersten offiziellen Bevölkerungsaustausch der Geschichte – vereinbart im Lausanner Vertrag von 1923 – ihre Heimat verlassen mussten.

Im heutigen Edirne, das die Griechen nostalgisch Adrianopolis nennen, steht gleich neben der Moschee eine Schönheitsklinik – das konservative Element und „der Fortschritt“ sozusagen Wand an Wand. Das Thema Grenzzaun spielt in der türkischen Öffentlichkeit keine Rolle. Auch im Fernsehen wird es nicht aufgegriffen. Klare Worte hört man dagegen von Türken, die sich auf der anderen Seite umgesehen haben. „Der Zaun ist nötig“, meint Cengiz Vesnikli, ein pensionierter Zollbeamter. „Wie soll Griechenland bei dieser Wirtschaftskrise noch mehr Leute verkraften?“ Gegen einen Grenzzaun spricht sich Mehmet Gramesin aus, der als Mitglied eines Kulturvereins regelmäßig nach Orestiada fährt: „Man kann doch nicht einfach zwischen zwei Völkern einen Zaun ziehen.“

Busfahrer, Nebenberuf Schlepper

In Edirne ist das kosmopolitische Flair des osmanischen Balkans noch lebendig. Die Stadt war immer ein Zentrum, in dem sich unterschiedliche Religionen und Kulturen berührten und durchdrangen. Und ein Fluchtpunkt für Jäger und Gejagte. Heute ist es ein Ort, an dem die Hoffnung und die Ausbeutung aufeinandertreffen, das Tor, durch das die illegalen Migranten nach Europa gelangen. „Auf dem sichersten, billigsten und kürzesten Weg“, sagt der Mann am Steuer. Bevor er den Zündschlüssel umdreht, steckt er sich eine Zigarette an. Dann stellt er die Rockmusik leiser und mustert uns prüfend.

Der Mann ist vielleicht Ende vierzig. Er hat graue Schläfen und eine tiefe Stimme: „Ich kenne jeden Stein an der Grenze. Ich habe meine eigenen Wegmarken. Von denen, die ich rübergebracht habe, ist noch nie einer geschnappt worden.“ Er ist zu einem Gespräch bereit, wenn sein richtiger Name nicht gedruckt wird. „Nennt mich Mehmet“, sagt er und erzählt seine Geschichte, während wir in seinem Taxi sitzen und durch die trüben Scheiben auf die Selimiye-Moschee starren.

Mehmets Familie stammt aus der Ebene von Almopia in der heutigen griechischen Provinz Westmakedonien. Die Muslime dieser Region landeten im Zuge des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs in Edirne. Mehmet wurde Busfahrer, aber er hatte bald einen Zweitjob. Schlepper. Neun Jahre lang hat er illegale Migranten von Istanbul nach Edirne gebracht und von dort zur Grenze am Evros, der auf Türkisch Meric heißt. Pro Kopf brachte ihm das 100 Dollar.

Als Mehmet 2003 festgenommen wurde, hatte er mehr als 1 000 Menschen über den Evros geschleust. „Ich hatte keine Chance“, sagt Mehmet. „Die Polizei fand bei mir die Pässe von Migranten, die ich ihnen zurückgeben wollte, wenn sie es nicht nach Griechenland schaffen würden. Das brachte mir 20 Monate Gefängnis.“ Er schätzt, dass es in Edirne heute an die 60 Schlepper gibt. Aber die sind nur für die letzte Etappe der Reise zuständig. Geplant wird das ganze Unternehmen in Aksaray, einem Viertel des Istanbuler Stadtteils Fatih, wo die meisten Migranten landen.

Die aktivsten Schlepper sind Kurden, erzählt Mehmet, weil sie das Bindeglied zwischen dem Südosten und Istanbul sind. Sie schicken die Migranten aus dem Irak auf Lastwagen oder mit dem Bus an den Bosporus. Die aus Algerien und Marokko kommen mit dem Flugzeug. In Istanbul werden sie von den Schleppern aus Edirne übernommen und mit Pick-ups zur Grenze gebracht.

Bis vor kurzem war die Route Istanbul–Edirne–Evros nicht die erste Wahl. 2009 wurden auf der griechischen Seite der Grenze nur 3 520 Illegale festgenommen. 2010 hat sich diese Zahl verzehnfacht, auf 36 000. Die Verlagerung der Migrationsströme hat mehrere Gründe: die schärfere Überwachung der Seegrenzen im Süden von Spanien und Italien; die Gefahren und die hohen Kosten der Überfahrt mit einem türkischen Boot zu den griechischen Inseln; die Abschaffung des Visumzwangs für Türkeireisende aus den Staaten Nordafrikas. Zum Zentrum des Schleppergeschäfts wurde damit Istanbul.

Mit dem Auto braucht man vom Bosporus nach Edirne nur zwei Stunden. „Die Migranten schaffen es hier ganz leicht auf die andere Seite“, erklärt uns Gökhan Sözer, der Präfekt von Edirne, „das ist wie ein Gang von einem Ende meines Büros zum andern.“ Der hagere Mann mit dem dichten, schwarzen Schnurrbart und einem offenen Blick ist der höchste Repräsentant des Staats in der Provinz Edirne. Er empfängt uns in Anzug und Krawatte an seinem Schreibtisch sitzend, an der Wand hinter ihm das obligatorische Atatürk-Porträt, rechts vor ihm eine türkische Fahne.

Dann passiert wieder, was man in jedem Haus und jedem Geschäft von Edirne erlebt. Anfangs läuft das Gespräch ganz locker. Aber beim Thema Menschenschmuggel wird Sözer plötzlich ernst: „Die illegalen Migranten sammeln sich bei uns wie die Bienen auf der Sirupflasche. Unsere Aufgabe ist es, den Verschluss auf die Flasche zu machen. Griechenland kann uns keine Untätigkeit vorwerfen. Das ist eine Aufgabe, bei der beide Seiten anpacken müssen.“ In und um Edirne hat der türkische Staat drakonische Maßnahmen angeordnet, sagt der Präfekt, zum Beispiel regelmäßige Patrouillen. Die Gerüchte, wonach die Schlepper Soldaten oder Polizisten bestechen, bestreitet er mit Nachdruck: „2010 haben wir 11 400 Flüchtlinge und 500 Schlepper festgenommen. Wir leisten harte Arbeit.“

Die Migranten, die das türkische Militär an der Grenze abfängt, werden im Aufnahmezentrum am Stadtrand von Edirne untergebracht. Dort bleiben sie so lange, bis ihr Herkunftsland ermittelt ist. Das kann eine Woche dauern, manchmal aber auch ein Jahr. Das türkische Zentrum hat mit dem griechischen Haftlager am anderen Evros-Ufer nicht viel gemein: Es gibt weder einen Stacheldrahtzaun noch Wachtürme, auf denen Soldaten mit Gewehr sitzen. Es ist auch nicht so streng abgeschottet. Auf griechischer Seite hat man uns nicht einmal durch den äußeren Gitterzaun gelassen. In Edirne schaffen wir es bis zum Haupteingang, wo zwei Polizisten an einem Tisch sitzen und die Aufnahmeformulare von drei Migranten ausfüllen. Im Hintergrund warten fünf weitere, offenbar gerade erst eingetroffene Männer. Einer der Polizisten fordert uns freundlich auf, das Gelände zu verlassen, im Übrigen seien Fotos und Interviews verboten.

Das türkische Aufnahmelager ist nicht mal halb so groß wie das griechische Haftlager in Filakio mit seinen 1 500 Quadratmetern. Hier in Edirne gibt es nur Platz für 80 Personen. Nebenan entstehen die Fundamente für ein neues Gebäude, das einmal 650 Migranten aufnehmen soll. Wie uns der Repräsentant des UN-Hochkommissars für Flüchtlingsfragen in der Türkei, Metin Corabatir, erklärt, können in seinem Land nur europäische Staatsangehörige einen Asylantrag stellen. Für Migranten aus dem Osten sind 10 000 Plätze in provisorischen Unterkünften vorgesehen, allerdings nur für diejenigen, die in den USA, in Kanada oder Australien Asyl beantragen wollen. Aber diese Plätze gibt es nicht. Und alle, die für dieses Programm nicht infrage kommen, bleiben als rechtlose Flüchtlinge im Lande. Um wegzukommen, bleibt ihnen nur der illegale und gefährliche Ausweg, sich mit der Schleusermafia einzulassen.

Kleiner türkisch-griechischer Grenzverkehr

Edirne ist mit seinen 50 000 Studenten eine ziemlich „jugendliche“ Stadt. Angesichts der hohen Arbeitslosenrate und einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 600 Lira (300 Euro) erscheint die Arbeit für eine Schlepperorganisation als bequeme und lukrative Alternative. Wer nicht von dieser Branche lebt, empfindet die illegal eingereisten Migranten eher als Belastung für die heimische Wirtschaft. So auch Emin Imamoglu, der in dem Dorf Karaagac ein Kaffeehaus besitzt: „Wir werden erst frei sein, wenn die nicht mehr hier durchkommen. Jetzt greift man sie auf und steckt sie in die Auffanglager. Da versorgt man sie und schickt dann jede Woche eine Gruppe zurück an die iranische und die irakische Grenze. Das alles kostet sehr viel Geld.“ Andere Klagen äußert der Bauer Metin Akinturk, der 15 Hektar Ackerland an der Grenze besitzt: „Auf dem Weg zur Grenze trampeln sie durch unsere Getreidefelder und richten dabei großen Schaden an.“

Karaagac ist das ehemals griechische Dorf Orestiada. Heute ist es der erste Ort auf türkischem Boden, wenn man am Grenzübergang Kastanies den Evros überquert hat. Das Dorf hat sich zu einem Vorort von Edirne entwickelt. Neben den Feldwegen gibt es inzwischen mit Zementsteinen gepflasterte Wohnstraßen. Die Häuser werden mit Braunkohle beheizt. Je kälter es ist, desto dicker und stickiger wird die Luft.

Für die Dorfbewohner gehören Begegnungen mit illegalen Migranten zum Alltag. Der 82-jährige Mehmet Zaza erzählt, wie er eines Nachts auf dem Weg ins Kaffeehaus von einem etwa gleichaltrigen Mann angehalten wurde. Der fragte ihn: „Yunanistan?“ Er kannte nur dieses eine türkische Wort, das Griechenland bedeutet. Als Antwort zeigte Mehmet Zaza in Richtung der Pappeln, die den Weg zum Evros säumen.

Die meisten Migranten suchen den Weg nach Europa über das Dorf Bosna, das vor 90 Jahren noch griechisch war. Die ehemaligen Bewohner haben sich nach dem Bevölkerungsaustausch zehn Kilometer jenseits der Grenze in Nea Vissa niedergelassen. Das heutige Bosna versinkt im Schlamm. Das Dorf liegt in dem schmalen türkischen Gebietsstreifen westlich des Evros. Die Straße von Edirne führt über eine Brücke, auf der türkische Grenzposten schon vor Bosna unsere Pässe kontrolliert haben.

Das Haus des Bürgermeisters in Bosna hat rosa getünchte Mauern, im Hof ist eine türkische Fahne aufgezogen. Dahinter liegt der baufällige Bauernhof von Ahmet Gönkur, bewacht von zwei weißen Hunden. Der eine verschlingt gerade die Eingeweide eines toten Schafs. „Wenn ich die frei rumlaufen lasse, kommt hier kein einziger Illegaler vorbei“, erklärt uns der Bauer. „Aber wir haben schon etliche erwischt. Vor allem frühmorgens gegen halb vier, wenn uns die Schafe mit ihrem Blöken aufwecken. Wenn die Leute uns sehen, rennen sie los und werfen ihre schwereren Sachen weg. Die wissen nämlich, dass wir das Militär benachrichtigen.“

Wir sind noch keine zwanzig Minuten in Bosna, als hinter uns ein Militärjeep hält. Vier Soldaten steigen aus. Sie gehören zur Jandarma, die hier für den Grenzschutz zuständig ist. Der Offizier will wissen, warum wir hier sind. Zwei von ihnen tragen Waffen. Sie fragen einen Mann aus dem Dorf, warum er mit uns gesprochen hat. Sie sehen sich die Fotos in unseren Pässen genau an. Als wir unseren Termin mit dem Präfekten erwähnen, lassen sie uns gehen. Die Leute in Bosna bekommen es häufiger mit der Gendarmerie zu tun. Vor kurzem haben sich einige von ihnen mit türkischen Journalisten über den geplanten Grenzzaun unterhalten. Da kamen die Soldaten und sagten, sie dürften keine Interview geben.

Die Menschen in Bosna und Karagats halten den Bau eines Zauns an der türkisch-griechischen Landgrenze für richtig. Mehmet, der Schlepper, den wir in Edirne getroffen haben, ist anderer Meinung: „Sie können machen, was sie wollen, es wird nichts nützen. Irgendwie wird man immer durchkommen. Wer sich auf diesen Weg macht, hat sowieso einen Haufen Geld.“

Wenn die Illegalen von den Schleppern aus Istanbul in Thrakien abgeliefert werden, gehen sie nie am selben Tag über die Grenze. Wann sie den Übertritt wagen, hängt vom Wetter ab und davon, welche Soldaten gerade Dienst schieben. Die Migranten bleiben also zunächst in Edirne, manchmal auch für mehrere Nächte. Ihre bevorzugten Quartiere sind drei Pensionen im Stadtzentrum, die pro Kopf 20 Lira oder 10 Euro die Nacht kosten. Wir steigen in einer dieser Pensionen ab. Der Besitzer sitzt selbst an der Rezeption und besteht darauf, unsere Pässe zu behalten. Warum das? „Nachts kommt die Polizei vorbei und kontrolliert, wer hier untergebracht ist. Wenn ihr die Pässe nicht hierlasst, kommen sie hoch und klopfen an eure Zimmertür.“ In unserer Etage stehen alle anderen Zimmer leer. Unsere Tür lässt sich durch einen Riegel sichern. Im Bad gibt es nur eine Schüssel und als Abfluss ein Loch im Boden.

Im Morgengrauen brechen wir wieder auf. Die Uhr zeigt halb sieben. Genau die Zeit, zu der sich die meisten aufmachen, die schwarz über die Grenze nach Griechenland wollen. Anders als der Präfekt gesagt hatte, steht auf der Brücke, die über den Fluss nach Süden führt, kein Wachposten. Nach einem Kilometer sehen wir den ersten und einzigen Polizisten. Gleich nach der Brücke beginnt linker Hand die staubige Straße mit der Pappelreihe.

Die Straße, die nach Bosna führt. Zu dem Übergang, an dem sich der Osten und der Westen treffen. Oder aufeinanderstoßen, je nachdem, wie man es sieht.

Fußnoten:

1 Die erste Frontex-Mission an der griechisch-türkischen Grenze war der Einsatz von Flugzeugen, die in der Ägäis Flüchtlingsboote aufspüren sollten. Seitdem sind deutlich weniger Migranten von der türkischen Küste zu den griechischen Inseln gelangt. Seit dem 1. August 2010 unterhält die Frontex ein Operationszentrum in Piräus. 2 80 Prozent der Griechen, die damals nach Mitteleuropa auswanderten, gingen nach Deutschland. Die Zahl der Griechen in der Bundesrepublik stieg bis 1973 auf 430 000. 3 Blätterteigtaschen mit Cremefüllung, die warm serviert werden. Aus dem Griechischen von Niels Kadritzke Jiannis Papadopoulos ist Reporter bei der griechischen Tageszeitung Ta Nea. © Ta Nea, Athen; für die deutsche Übersetzung: Le Monde diplomatique, Berlin

Fluchtpunkt Griechenland

Die türkisch-griechische Grenze ist heute die durchlässigste Zone für die illegale Migration in die EU und den Schengenraum. Das hat mit dem „Erfolg“ der „Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ (Frontex) zu tun.

Die EU-Grenzwächter haben den Zustrom von Migranten aus Nordafrika nach Spanien und Italien erheblich eingedämmt. 2010 kamen laut Frontex 90 Prozent aller Flüchtlinge, die EU-Territorium erreichten, über Griechenland. 2009 lag der Anteil noch bei 75 Prozent, und die meisten Migranten wurden von türkischen Booten auf griechischen Inseln abgesetzt.

Seit Frontex-Flugzeuge die Ägäis-Grenze überwachen, suchen die Flüchtlinge ein Loch in der 206 Kilometer langen griechisch-türkischen Landgrenze. 47 000 der etwa 100 000 Festnahmen auf griechischem Boden erfolgten an dieser Grenze, davon allein 44 000 an dem 12,5 Kilometer langen Abschnitt, an dem die Grenze nicht am Evros verläuft (siehe Karte).

Seit dem 4. November 2010 sind Frontex-Einheiten auch in Thrakien im Einsatz, die Zahl der Festnahmen reduzierte sich seither erheblich. Weit über die Hälfte der Flüchtlinge sind Iraker und Afghaner, sehr viele stammen auch aus Somalia, dem Sudan (Darfur) und Nordafrika.

Auf griechischem Gebiet erwartet die illegalen Grenzgänger eine doppelte Katastrophe: Erstens verstößt ihre Unterbringung gegen minimale Standards der Menschenwürde, zweitens wird ihnen das Recht, Asyl zu beantragen, systematisch vorenthalten. So lautet auch der Befund des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Die Straßburger Richter urteilten am 21. Januar 2011 aufgrund der Klage eines afghanischen Flüchtlings einstimmig, dass Griechenland zwei Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt: Art. 3 (Verbot „unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung“) und Art. 13 (Recht auf „wirksame Beschwerde“ bei Verletzung anerkannter Rechte oder Freiheiten).

Der zweite Punkt bezieht sich auf das Recht auf politisches Asyl: Bis zur letztinstanzlichen Entscheidung vergehen im Durchschnitt fünf Jahre, zurzeit sind 46 435 Asylanträge unerledigt. Laut UNHCR lag die Anerkennungsquote in Griechenland 2008 bei 0,1 Prozent, im EU-Durchschnitt dagegen bei 36,3 Prozent.

Aufgrund dieser Defizite hat das Straßburger Gericht entschieden, dass illegale Migranten, die es in andere EU-Staaten geschafft haben, nicht nach Griechenland zurückgeschickt werden dürfen. Damit ist das Prinzip der Rücküberführung in das Eintrittsland ausgesetzt, das im sogenannten Dublin-II-Abkommen festgelegt wurde. Schon vor dem EGMR-Urteil hatten die EU-Staaten Schweden, Dänemark, Finnland, Großbritannien und Deutschland ebenso wie Norwegen und die Schweiz auf die Rückführung nach Griechenland verzichtet.

Niels Kadritzke

Le Monde diplomatique vom 11.02.2011, von Jiannis Papadopoulos