10.07.2014

Der Verschrotter

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Der Verschrotter

Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi muss reformieren und hat keinen Plan von Raffaele Laudani

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Seit seinem Triumph bei den Europawahlen ist Ministerpräsident Matteo Renzi auch außerhalb Italiens zum Begriff geworden. Für viele stellt der ehemalige Bürgermeister von Florenz „die größte Hoffnung für den reformorientierten Flügel in Europa“ dar.1 Mit seinen 39 Jahren wird ihm die Fähigkeit zugeschrieben, die italienische Linke radikal zu erneuern und sie zur führenden Kraft im Land zu machen – nach 20 Jahren Berlusconismus. Und wirklich: Die 41 Prozent, die Renzis Partito Democratico (PD) bei den EU-Wahlen im Mai erzielt hat, sind beispiellos in der Geschichte der italienischen Linken. Sie übertreffen sogar die Resultate des einstigen PCI, der kommunistischen Partei Italiens, die mit ihrem legendären Vorsitzenden Enrico Berlinguer im Jahr 1976 mit 34 Prozent der Stimmen ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Die Analyse der Wählerwanderung ergibt, dass die Zuwächse im Vergleich zu den nationalen Wahlen im Februar 2013 zum Großteil von der Scelta Civica stammen, der in Auflösung begriffenen Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Mario Monti. Insgesamt hat die regierende Mitte-links-Koalition also nicht signifikant an Bedeutung gewonnen. Der Einbruch von Berlusconis Forza Italia (FI) wie auch die Verluste von Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), die von 30 Prozent auf 20 Prozent zurückfiel, haben den Sieg Renzis noch spektakulärer gemacht. Dabei sind diese beiden Entwicklungen vor allem auf die geringe Wahlbeteiligung zurückzuführen, im Fall des M5S auch auf die Gewinne der Lega Nord (6 Prozent) und der linken „Liste Tsipras“ (4 Prozent). Es handelt sich also im Ganzen besehen weniger um einen echten Stimmenzuwachs als um einen Ausgleich und eine vom Wähler gewünschte Vereinheitlichung innerhalb des Mitte-links-Lagers.

Viel wichtiger ist allerdings, dass das Bild des Reformers, das heute von Renzi im Umlauf ist, in die Irre führt. Gewiss, Italien ist ein Land, in dem vorwiegend alte Männer die Schlüsselpositionen in Bildung, Politik und Wirtschaft besetzen.2 Ein neues Gesicht wie Renzi muss da einfach Erfolg haben, zumal die Bürger der herrschenden Kaste schon lange jede Legitimation absprechen. Dieses Image hat aber wenig bis gar nichts mit einer Erneuerung der italienischen Linken zu tun, zu deren Geschichte Renzi mit seiner politischen Biografie schlicht nicht gehört: Er ist der Sohn eines Christdemokraten aus der Toskana und hat seine Karriere außerhalb der Kommunistischen Partei und ihrer Nachfolgerin Democratici di Sinistra (Linksdemokraten) gemacht. Erst als sich diese im Oktober 2007 mit der gemäßigt-katholischen Partei Margherita zum PD zusammenschloss, kreuzten sich die Wege Renzis und der italienischen Linken.

Im Grunde muss man Renzis Aufstieg im PD vielmehr als feindliche Übernahme begreifen, seit er sich beim Mitgliederentscheid über den Kandidaten für den Florentiner Bürgermeisterposten gegen den von der Parteispitze favorisierten Lapo Pistelli durchsetzte, der inzwischen Vizeaußenminister in Renzis Kabinett ist.

In der Partei war Renzi lange ein Fremdkörper, und er zeigte wenig Neigung, daran etwas zu ändern. Sein innovativer Ehrgeiz beschränkt sich bislang auf Image und Kommunikation. Er pflegt eine klare Sprache, trägt zuweilen etwas zu dick auf und hat keine Scheu vor Fernsehauftritten; außerdem liebt er es, gegen die eingeübten Sitten des politischen Betriebs zu verstoßen. Er ist damit der wahre Erbe Berlusconis, der keine Gelegenheit auslässt, seine Wertschätzung zu betonen und der Renzi gern als Nachfolger auf die eigene Seite gezogen hätte.

Wie Berlusconi als Politiker, Geschäftsmann und Präsident des Fußballvereins AC Mailand, so ist auch der neue Ministerpräsident Italiens eine Projektionsfläche für die im Land so verbreitete wie diffuse Sehnsucht nach Veränderung. Also konzentriert sich Renzi auf die angestrebten „Reformen“ – die der Institutionen und des Wahlsystems – und auf die Eindämmung der Privilegien der politischen Klasse. Die Ergebnisse sind dabei äußerst bescheiden und sollen wohl eher den Revanchegelüsten des Durchschnittsbürgers genügen. Konkret geschah nicht viel mehr, als dass 15 000 Autos aus dem staatlichen Fuhrpark versteigert wurden – die weggingen wie warme Semmeln. Denn die Italiener hassen die Mächtigen, träumen aber davon, selbst zu ihnen zu gehören.

Starker Auftritt mit symbolischen Gesten

Bei der Wahlrechtsreform und der angestrebten Reform des Senats haben Renzis Vorstöße hingegen nur zu einem Kuddelmuddel geführt. Hauptsache, seine Regierung erscheint als tatkräftig und verkörpert in der öffentlichen Meinung das Image der Veränderung – mit einem entschlossenen Renzi als Anführer. Denn anders als zu Berlusconis Zeiten reicht das pure Versprechen heute nicht mehr aus. Es muss schon wenigstens der Schein gewahrt bleiben, dass aus Träumen Wirklichkeit wird. Renzi hat dafür eine symbolisch wichtige Maßnahme gewählt: 80 Euro mehr für jeden der knapp zehn Millionen Arbeitnehmer, die unter 1 500 Euro netto im Monat verdienen, war das hartnäckig verfolgte Ziel des Regierungschefs im Vorfeld der Europawahlen.

Gleichzeitig scheint Renzi die Lektion von Beppe Grillo3 und seinem M5S verstanden zu haben. Träume und Versprechen verkaufen sich derzeit nicht ohne Anti-System-Rhetorik. Renzi ist der „Verschrotter“, der eine mit sich selbst beschäftigte und nur die eigenen Interessen verfolgende politische Klasse (vor allem die innerhalb des PD) herausfordert. Wie bei Grillo soll der Bruch mit dem Alten die demokratischen Institutionen erneuern, wobei am Ende doch der Pragmatismus siegt – auch Institutionen im Endstadium müssen besetzt und geführt werden.

Dass Renzi sich ein schwaches Kabinett zusammengestellt hat, mit politisch unerfahrenen Frauen und Männern ohne Profil, die er je nach Laune befördern oder rauswerfen kann, spricht für seine Geringschätzung der parlamentarischen Demokratie und ihrer Institutionen. Bekannt ist auch, dass Renzi aus Gründen der Öffentlichkeitswirksamkeit die Spitzenplätze der Listen für die Europawahlen 24 Stunden vor Schluss ausschließlich mit Frauen besetzen ließ, was teils völlig unbekannte Kandidatinnen nach vorne brachte. Aber für Renzi und Grillo zählt die oder der Einzelne nicht, es geht nur um den bestmöglichen Verkauf.

Am wenigsten wird Renzi vielleicht der Vergleich mit Massimo D’Alema gefallen – und umgekehrt. D’Alemas Erbe anzutreten heißt, mit einem Mann gleichgesetzt zu werden, der wie kein anderer in den vergangenen 20 Jahren den Typus des klassischen Politikers in Italien repräsentiert. Ein Linker an der Regierung, der stolz darauf war, sich machiavellistisch im Labyrinth der Macht bewegen zu können (oder es zumindest dachte), indem er je nach Situation und Augenblick Allianzen schmiedete und wieder zerbrechen ließ.

Renzi kennt sowohl die kommunistischen als auch die christdemokratischen Methoden des Machterhalts. Nachdem er es als junger „Verschrotter“ lange von sich gewiesen hatte, die Partei führen zu wollen, zögerte er keinen Augenblick, eben das zu tun, als ihm klar wurde, dass es für ihn keinen anderen Weg zum Posten des Regierungschefs geben würde. Ganz wie D’Alema 1998 keinen Moment zögerte, als es darum ging, den Posten als Regierungschef von Romano Prodi zu übernehmen, hat auch Renzi seinen Parteifreund und Vorgänger im Amt, Enrico Letta, umstandslos abserviert, obwohl er zuvor stets versichert hatte, auf gar keinen Fall ohne Legitimation durch den Wähler ins Amt kommen zu wollen.

Die größte Kontinuität mit allen Regierungen der „Zweiten Republik“ zeigt Renzi allerdings in seinen wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen. Er vertritt hier eine veraltete New-Labour-Politik à la Tony Blair, die nur in einem zurückgebliebenen Land wie Italien noch auf Aufmerksamkeit hoffen darf. Das pompös „Jobs Act“ genannte Gesetz zur Arbeitsmarktreform wird de facto zur Prekarisierung der Arbeit beitragen. Die Gültigkeit befristeter Arbeitsverträge – die bis zu achtmal verlängert werden dürfen – wird von 12 auf 36 Monate ausgeweitet.

Ähnlich liegt der Fall bei den Renten. Hier hatte Renzi die ungeliebte, noch von der Regierung Monti verabschiedete Fornero-Reform (von der damaligen Arbeitsministerin Elsa Fornero Ende 2011 eingebracht) zunächst kritisiert. Inzwischen ist von Änderungen nicht mehr die Rede. Im Gegenteil, Wirtschaftsminister Giancarlo Padoan hat inzwischen sogar erklärt, dass er eine stufenweise Anhebung der Pensionsgrenze begrüßen würde.4 Eine Revision des EU-Spardiktats scheint nicht wirklich auf Renzis politischer Agenda zu stehen.

Steuerschuldenerlass für Renzis Spezis

Verglichen mit seinen Vorgängern scheint Renzi allerdings deutlich besser gerüstet, um endlich auch in Italien eine neoliberale Politik durchzusetzen. Die Medien sind ihm wohlgesinnt, die großen Tageszeitungen haben sich in Megafone des Regierungschefs verwandelt, Figuren des öffentlichen Lebens stehen ihm zur Seite – zuletzt Fiat-Chef Sergio Marchionne, der erklärte: „Renzis Agenda ist alternativlos. Hoffentlich hören die Leute auf ihn.“5 Renzi hat es nie an Dankbarkeit für seine Unterstützer fehlen lassen. Kaum war er an der Regierung, erließ er der Industrieholding Sorgenia – nach eigenen Angaben der fünftgrößte Stromversorger Italiens – 23 Millionen Euro Steuerschulden. Sorgenia gehört zum Imperium der Familie De Benedetti, die die Mediengruppe L’Espresso kontrolliert, zu der auch Italiens größte Tageszeitung La Repubblica gehört.

Im Parlament hat Renzi keine echte Opposition zu fürchten. Die Rechte muss sich erst noch von Berlusconi erholen, und die Linke, ob sozialdemokratisch oder linksalternativ, bleibt chronisch einflusslos. Auch die Grillo-Bewegung, die sich Renzi noch als einzige entgegenstellt, scheint wenig Interesse an den großen sozioökonomischen Fragen zu haben. Sie verharrt lieber in einem abstrakten Moralismus oder verfängt sich in euroskeptischen Positionen, wie sie auch Europas extreme Rechte vertreten.

Stehen wir also am Beginn einer neuen politischen Ära? Ist der Berlusconismus nach 20 Jahren tatsächlich überwunden, abgelöst von einem neuen hegemonialen Block, der in Renzi sein Gummiarabikum gefunden hat? Möglich, aber längst nicht ausgemacht. Der „Verschrotter“ Renzi war bis jetzt geschickt genug, um die Auflösung des politischen Systems in Italien zu seinem Vorteil zu nutzen. Er hat die Unfähigkeit der alten PD-Führung erkannt, die tatenlos zusah, wie er als Christdemokrat Partei und Regierung eroberte. Zudem erfüllt Renzi genau das Anforderungsprofil des Kapitalismus all’italiana, der immer neue charismatische Führer hervorbringen muss, die mit einer Blut-und-Tränen-Politik vom Volk Opfer verlangen können.

Verschrotten ist das richtige Stichwort. Es passt zu den seit Jahren immer wieder aufgelegten hilflosen Versuchen der italienischen Regierungen, der Industrie ein wenig Luft zu verschaffen, indem man die Leute aufforderte, ihre alten Autos und Haushaltsgeräte zu entsorgen, ohne einen echten Plan zur Erneuerung der italienischen Wirtschaft vorzulegen. Und es passt zu den politischen Führungsfiguren, die sich getreu dem Wegwerfprinzip schnell erschöpfen und auswechseln lassen, nachdem sie den Bürgern allenfalls einen Anschein von Veränderung vorgegaukelt haben, während in Wahrheit nur das neoliberale Politikmodell für Kontinuität steht.

Wenn Renzi seiner eigenen Verschrottung zuvorkommen will, muss er eine Partei zähmen oder besser gleich neu erfinden, die ihn zwar fürs Erste stützt, die aber auch keinen Moment zögern wird, ihn später vom Thron zu stürzen. Als wahrer Christdemokrat muss er zudem seinen Reformeifer mit konkreten Wohltaten für die weniger wohlhabenden Schichten flankieren und gleichzeitig die Interessen der ihn tragenden Koalition bedienen. Die politische Klasse – von den Genossenschaften über die Unternehmen und Geldinstitute bis hin zur katholischen Kirche und den Freimaurern – will schließlich nicht auf ihre Privilegien verzichten. All das muss er schaffen, ohne allzu sehr vom neoliberalen Diktat der EU-Troika abzuweichen, und er muss dabei vor allem schnell sein. Denn die Mühle der Verschrottung wird auch den nicht verschonen, der sie am geschicktesten zum Laufen gebracht hat.

Fußnoten: 1 Siehe „Matteo Renzi et le syndrome du ‚matador‘ en Europe“, Les Echos, Paris, 4. Juni 2014. 2 Laut einer Studie des Bauernverbands Coldiretti und der Università della Calabria hat die Führungsebene in Italien mit 59 Jahren das höchste Durchschnittsalter in der EU, bei den Hochschulprofessoren sind es 63 Jahre, beim Regierungspersonal 64 und bei den Bankern sogar 67 Jahre; siehe: Corriere della sera, 17. Mai 2012. 3 Siehe Raffaele Laudania, „Fünf Sterne für Italien“, in: Le Monde diplomatique, September 2012. 4 Siehe Huffingtonpost Italia, 31. Mai 2014. 5 La Stampa, 1. Juni 2014.

Aus dem Italienischen von Ambros Waibel

Raffaele Laudani ist Professor für Ideengeschichte an der Universität Bologna.

Le Monde diplomatique vom 10.07.2014, von Raffaele Laudani