Neue Herren in Kirkuk
Rivalitäten und Bündnisse nach dem Anschluss der Erdölregion an Kurdistan von Allan Kaval
Seit dem 12. Juni wird die Stadt Kirkuk von den Einheiten der Regionalregierung Kurdistans kontrolliert. Nur 50 Kilometer entfernt weht über der sunnitischen Ortschaft Hawija die Fahne der Isis (Islamischer Staat im Irak und in (Groß-)Syrien). Auf der Landstraße wenden mit quietschenden Reifen fünf Jeeps eines kurdischen Militärkonvois. Ohne es zu merken, hatte der Fahrer an der Spitze des Konvois den letzten kurdischen Kontrollpunkt passiert und war geradewegs auf den kaum einen Kilometer entfernt liegenden Isis-Stützpunkt zugefahren. Er hat seinen Irrtum gerade noch rechtzeitig bemerkt.
Diese Grenze ist nämlich noch ganz neu. Die Betonhäuser des ehemaligen Postens der irakischen Sicherheitskräfte haben neue Bewohner bekommen. An einer Wand sind noch die durch Sonne und Staub verblichenen Farben der irakischen Flagge zu erkennen, aber die jungen Peschmergas1 haben bereits ihre eigene Fahne gehisst, die Fahne Kurdistans. Ein paar hundert Meter weiter führt die Straße unter einer Brücke hindurch, die die Grenzlinie markiert. Auf der anderen Seite warten die Isis-Milizen. Nach zwei Tagen ohne Zusammenstöße muss man das Schicksal nicht herausfordern. Die Soldaten sind nur leicht bewaffnet. Heute wird nicht gekämpft.
„Wir sind hier, um die kurdischen Territorien zu sichern, die von der irakischen Armee verlassen wurden, nicht, um uns in einen Bürgerkrieg einzumischen“, erklärt der kurdische Regionalkommandant, General Sherko Fatih. Seit dem Ende des Zweiten Golfkriegs (1990/1991) hat sich das irakische Kurdistan der Autorität Bagdads faktisch entzogen. Nach dem Sturz von Saddam Hussein wurde die Autonomie in der Verfassung festgeschrieben. Und jetzt, da die Strukturen des von den arabisch-schiitischen Parteien beherrschten Zentralstaats hier im Norden des Landes zusammengebrochen sind, erfüllen sich die historischen Territorialansprüche der Kurden.
Als im Kielwasser der Isis eine zusammengewürfelte Allianz aus Islamisten, Nationalisten und Baath-Anhängern die von Sunniten bewohnten Gebiete und Mossul angriff, traten die irakischen Streitkräfte den Rückzug an. Ihre Stützpunkte und ihre Waffen ließen sie zurück. Das so entstandene Sicherheitsvakuum in den „umstrittenen Gebieten“ wurde schnell von den Peschmergas gefüllt. Die beiden wichtigsten kurdischen Parteien, Demokratische Partei Kurdistans (PDK) und Patriotischen Union Kurdistans (PUK), machen dem Zentralstaat diesen Teil der Provinz bereits seit 2003 streitig.
Die eigentliche Front des neuen Irakkriegs verläuft jedoch woanders, nämlich in den Städten, die von der sunnitischen Isis erobert wurden. Ihr stellen sich Milizen und Freiwillige entgegen, die in Massen dem Aufruf Ajatollah Ali al-Sistanis gefolgt sind, dem geistlichen Oberhaupt der Schiiten im Irak, der seine Anhänger zu den Waffen gerufen hat.2
Kontrollposten, Enklaven und Exklaven
Abseits dieses Glaubenskriegs sichern die Kurden das von ihnen besetzte Territorium. Eine neue, 1 500 Kilometer lange Grenze erstreckt sich von der Stadt Chanaqin nahe der iranischen Grenze bis in die kurdischen Gebiete in Syrien, die auch von den Isis-Kämpfern bedroht werden und seit Juli 2012 unter Kontrolle der Partei der Demokratischen Union (PYD) stehen, des syrischen Zweigs der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Auf einer Diagonale, die den Irak von Nordwesten nach Südosten durchschneidet, reihen sich jetzt Kontrollpunkte aneinander, die die neue Grenzlinie zwischen Kurdistan und den aufständischen Gebieten markieren. Zwar kommt es hier und da zu Scharmützeln, aber von einem offenen Krieg ist man weit entfernt. „Ihr gemeinsamer Gegner, der schiitische Zentralstaat, existiert im Norden des Irak nicht mehr. Kurden und sunnitische Araber haben größtes Interesse daran, ihre guten Nachbarschaftsbeziehungen aufrechtzuerhalten“, sagt ein gut informierter früherer Baath-Funktionär in Kirkuk.
Die übertriebene Konfessionalisierung der irakischen Politik wird so auf die Spitze getrieben. Jedoch betonen arabisch-sunnitische Nationalisten, die einen beträchtlichen Teil der mit Isis verbündeten Gruppen ausmachen, die Notwendigkeit einer gewissen Übereinkunft mit den Kurden. „Es kann zwar zu Kämpfen kommen, und es gibt auch Tote, aber nur weil die sunnitische Bewegung weder einig ist noch ausreichend von ihren Anführern kontrolliert wird. Auf höchster Ebene vermeidet man Auseinandersetzungen“, erklärt ein Aktivist, der den Aufständischen nahesteht.
Durch diese paradoxe Situation konnten sich die Kurden im Irak eine wesentliche Forderung erfüllen: Sie kontrollieren die Provinz und die Stadt Kirkuk, die für die Nationalisten das „Jerusalem der Kurden“ darstellt. Dabei leben in der Provinz auch größere turkmenische und arabische Minderheiten. Seit 2005 hing ihr Schicksal am nie umgesetzten Artikel 140 der irakischen Verfassung, der eine Volkszählung und ein Referendum über den etwaigen Anschluss an das autonome Kurdistan vorsieht.
Seit der US-amerikanischen Invasion von 2003 verfügen die Kurden über die Mehrheit im Provinzrat von Kirkuk, und der Rückzug der irakischen Armee hat ihre Vorherrschaft noch verstärkt. Die Peschmerga besitzen jetzt das Machtmonopol. Sollte sich der Zentralstaat wieder zurückmelden, werden sie es nicht kampflos wieder abgeben.
So schwinden auch die letzten juristischen und institutionellen Fiktionen, mit denen nach Saddam Husseins Sturz die Aufteilung der Macht zwischen Bagdad und Erbil, der Hauptstadt der Regionalregierung Kurdistans, organisiert werden sollte.3 Die Kurden, die sich 2008 mit Gewalt einen Teil des riesigen Erdölfelds von Kirkuk angeeignet hatten, greifen jetzt nach dem Ganzen. Der kurdische Rohstoffminister Ashti Haurami kündigte gleich nach dem Rückzug der irakischen Armee den Aufbau von Infrastrukturen an, um das offiziell immer noch durch den Zentralstaat kontrollierte Erdöl aus Kirkuk in die kurdische Pipeline Richtung Türkei einzuspeisen. Der Export auf die internationalen Märkte werde dann autonom über die Türkei erfolgen.
Die erste Öllieferung ging nach Israel
Am 21. Juni 2014 kam die erste Lieferung von Rohöl aus dem irakischen Kurdistan an und wurde vom türkischen Hafen Ceyhan nach Aschkelon in Israel verschifft. Aus ihrer gegenwärtigen Position der Stärke könnten die Kurden der Zentralregierung, deren Souveränität über das gesamte irakische Territorium international immer noch anerkannt ist, einen günstigen Vertrag abringen.
Im Namen der kurdischen Regionalregierung hat sich ihr Ministerpräsident Nechirvan Barzani für die Schaffung einer autonomen arabisch-sunnitischen Zone um Mossul ausgesprochen. Es wäre jedoch falsch, daraus zu schließen, dass eine verstärkte Autonomie der Region sie von einer weiteren Teilnahme am irakischen Machtpoker ausschließen würde. Dort sind verschiedene Triebkräfte am Werk, in denen neben Bagdad auch Ankara eine Schlüsselrolle spielt, ebenso wie Teheran, das großen Einfluss auf die schiitische Politik im Irak besitzt. Die kurdische Elite ist darauf aus, auch weiterhin ihren Einfluss innerhalb des irakischen Staats geltend zu machen, selbst wenn die Grenzen verschwimmen und immer mehr Akteure beteiligt sind.
Überdies bilden die irakischen Kurden weder eine kohärente Einheit noch wird ihr Handeln von einer gemeinsamen Agenda bestimmt. PDK und PUK bleiben gewissermaßen Parteienstaaten mit eigenen Territorien und eigenem Militär. Sie verfolgen ihre eigenen Interessen und schließen bisweilen unterschiedliche Allianzen. So beherrscht die PDK den Erdölsektor und orientiert sich an den diplomatischen Positionen Ankaras, weil sie das Öl nur über die Türkei exportieren kann.
Die PUK, die selbst unter internen Spannungen leidet, unterhält hingegen beste Beziehungen zum Iran und indirekt zur PKK. Letztere stemmt sich wiederum gegen den Einfluss der PDK im türkischen und vor allem im syrischen Kurdistan, wo die PKK-nahe Partei der Demokratischen Union (PYD) dominiert.
Die Verantwortlichen auf beiden Seiten bemühen sich zwar, solche Meinungsverschiedenheiten herunterzuspielen, doch die Spannungen werden durch das aktuelle Chaos im Irak eher noch verstärkt. Jabar Jawar, der Generalsekretär im für die Peschmerga zuständigen Ministerium, behauptet, im Südosten des irakischen Kurdengebiets kollaboriere die dominierende PUK in bestem Einvernehmen mit der irakischen Armee, die ein paar Dutzend Kilometer vor der iranischen Grenze steht. Die PDK, die den Nordwesten dominiert, neigt eher dazu, sich mit bestimmten Teilen der sunnitischen Bewegung zu verständigen.
Kirkuk liegt nicht nur an der Grenze zwischen dem arabischen Irak und Kurdistan, sondern auch zwischen den Einflussgebieten von PUK und PDK. Seit dem Sturz des alten Regimes wurde die Stadt von der PUK beherrscht. Nach dem Abzug der irakischen Truppen rückt sie nun wieder ins Zentrum der Rivalität zwischen den beiden wichtigsten kurdischen Gruppierungen.
In den umstrittenen Gebieten wird die Tendenz zur Zersplitterung durch die Heterogenität der Bevölkerung verstärkt. Hier leben nicht nur Kurden, Turkmenen und Araber nebeneinander. Die konfessionelle Trennlinie zwischen Schiiten und Sunniten verläuft auch noch quer durch diese drei Gemeinschaften. Die Sicherheitskontrollen werden von PUK und PDK sowohl gemeinsam als auch getrennt durchgeführt. Doch in den Zwischenräumen treiben diverse Milizen ihr Unwesen, die sich auf eine dieser lokalen Identitäten berufen. All diese bewaffneten Gruppen nehmen je nach Zugehörigkeit auch die früheren Sicherheitskräfte des Staats in ihre Reihen auf. Und sie alle haben Verbündete in der Ferne, von denen sie Unterstützung gegen ihre nahen Feinde erhalten.
Die neue Grenze Kurdistans ist also keine eindeutige Linie, sondern eine zerstückelte und verwüstete Zone aus Kontrollposten, Enklaven und Exklaven, in denen diverse, vor allem an Gewalt gewöhnte Autoritäten kooperieren, konkurrieren, sich ignorieren oder bekämpfen. Während im Stadtzentrum von Kirkuk das Leben trotz der Nähe des Krieges seinen normalen Lauf nimmt, sieht es im zehn Kilometer entfernt liegenden Taza, in dem vorwiegend schiitische Turkmenen leben, bereits ganz anders aus. Das Nachbardorf Bechir, ebenfalls turkmenisch und schiitisch, wurde kürzlich von Angehörigen sunnitischer Clans erobert, die das Saddam-Regime 1986 dort angesiedelt hatte und die 2003 von den ursprünglichen Bewohnern vertrieben worden waren. Durch den Vormarsch der Isis bot sich ihnen nun die Gelegenheit, Land und Besitztümer von ihren Nachbarn zurückzuerobern. Durch die stillen Straßen von Taza gehen junge bewaffnete Männer zur Moschee. Dort ruft der örtliche Vertreter von Ajatollah al-Sistani in Uniform und Turban zum Martyrium für die Rückeroberung von Bechir auf.
Im Hof stehen ergraute Mitglieder der schiitischen Dawa-Partei, die einst im Exil in Iran lebten. Von dort sind sie mit der Kopfbedeckung und dem Bart der Revolutionsgarden zurückgekehrt. Sie sind gekommen, um an einer Versammlung teilzunehmen, die von den Kommandanten der Badr-Brigaden4 geleitet wird. Das Treffen wurde einberufen, um die Aktionen der Badr-Brigaden mit den schiitischen Milizen abzustimmen, die vor sechs Monaten von der Zentralregierung entsandt wurden. Ein paar Kilometer entfernt haben etwa einhundert kurdische Kämpfer an dem Kanal, der Taza von den sunnitischen Stellungen trennt, mit einem sowjetischen Panzer und ein paar Panzerfahrzeugen, die die Peschmerga 2003 aus den Kasernen des Saddam-Regimes erbeutet hatten, Stellung bezogen. Sie kontrollieren die Brücke ans andere Ufer. Eine Delegation der PKK hat bei ihrem Besuch dort eine Fahne mit dem Porträt ihres Anführers Abdullah Öcalan aufgehängt, der in der Türkei im Gefängnis sitzt.
Etwas weiter am Ufer dieses nur zehn Meter breiten Wasserlaufs steht ein Zelt des Hohen Kommissars für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR). Drinnen sitzen unter einer Fahne zum Ruhme Alis5 etwa ein Dutzend bewaffnete Jugendliche, die Schutz vor der sengenden Sonne suchen. Ein junger Mann, der beim Einmarsch der Amerikaner 2003 noch keine zehn Jahre alt war, hat sich eine umgebaute Kalaschnikow umgehängt, die wie ein amerikanisches Sturmgewehr aussehen soll. Unter dem Kampfanzug trägt er ein gefälschtes Trikot von Olympique Lyon. Er lässt sich mit einem desertierten Polizisten fotografieren, der dem Ruf Ajatollah al-Sistanis zu den Waffen gefolgt ist, während in der Ferne ein paar Schüsse abgegeben werden. Auf welches Ziel, bleibt unklar.
Allan Kaval ist Journalist: www.allankaval.com.