Die Mutter allen Kapitals
Piketty und der blinde Fleck in der westlichen Wahrnehmung von Chandran Nair
Trotz der jüngsten Wirtschaftskrise, deren plötzlicher Ausbruch die Experten überraschte, besitzen die Ökonomen noch immer Autorität bei den Medien, Politikern und führenden Geschäftsleuten. Thomas Piketty hat mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ nicht nur im exklusiven Kreis der Wirtschaftswissenschaftler für Aufruhr gesorgt, sondern auch einen Bestseller für die breitere Öffentlichkeit geschrieben. Seine Hauptthese lautet: Der Kapitalismus sorgt „normalerweise“ dafür, dass Zinserträge aus Kapital über der volkswirtschaftlichen Wachstumsrate liegen, und sorgt so dafür, dass sich die große Ungleichheit der Einkommen und Vermögen entwickelt und langfristig verstetigt.
Im Westen hat fast jeder Intellektuelle, der auf sich hält, Piketty kommentiert, wobei die Ansichten, wie zu erwarten, je nach ideologischer Position auseinandergingen. Die 800 Seiten lange Untersuchung über Armut und Reichtum war bereits im August 2013 auf Französisch erschienen, größere Wellen schlug das Buch aber erst nach der Publikation in den USA in diesem Frühjahr. Es geriet dann ein zweites Mal in die Schlagzeilen, als einige Experten die Korrektheit seiner statistischen Daten in Zweifel zogen.1 Dabei dreht sich die Kontroverse stets um die Frage, ob Piketty nun recht hat oder nicht. Aber kaum jemand stellte die viel wichtigere Frage, ob der Autor das Entscheidende einfach übersehen hat.
Denn es ist ja doch erstaunlich, dass eine Analyse über „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ in einer dem 20. Jahrhundert verhafteten Anschauung wurzelt, nämlich dass das, was die Welt und ihre Zukunft bestimmt, ausschließlich im Westen geschehe. Der Erfolg des Buchs hat natürlich großenteils damit zu tun, dass das Thema Ungleichheit im Westen gerade die angesagte intellektuelle Geschmacksrichtung ist. Bei der Hitze und Leidenschaftlichkeit der Diskussionen über Pikettys Buch kann man fast den Eindruck bekommen, das Phänomen Ungleichheit sei gerade erst entdeckt worden. Was ja auf viele Leute „im Westen“ durchaus zutreffen mag.
Doch für den Rest der Welt, zumal für die ehemaligen Kolonialgebiete mit ihrer Erfahrung der fürwahr obszönen Ungleichheiten, die den Westen so reich gemacht haben, ist die Diskussion ein alter Hut. Viele dieser Länder haben sich erst in jüngster Zeit von den Folgen erholt, die der Kolonialismus mit dem Raubbau an Bodenschätzen, der Zerstörung sozialer Strukturen, kultureller Institutionen und der natürlichen Umwelt hinterlassen hat. Zynischerweise hängen die Herren der Finanzmärkte diesen Ländern heute das Etikett „emerging markets“ an.
All das beschäftigt Piketty nicht. Er bezieht sich ausschließlich auf die historischen Erfahrungen des Westens, wobei seine Analyse leider außer Acht lässt, in welchem Kontext der Reichtum des Westens entstanden ist. Und das, obwohl zahlreiche interessierte Mächte diesen Ausbeutungskontext auch heute noch gern fortsetzen und erneuern würden.
Diese Fixierung auf den Westen ist selbst bei einem kritischen Kopf wie Paul Krugman zu beobachten. Der schreibt in seiner Besprechung des Piketty-Buchs, das spektakulärste Beispiel für die dramatisch zunehmende Ungleichheit in der heutigen Welt sei das Anwachsen der Einkommen und Vermögen beim reichsten Perzentil (ein Prozent der Bevölkerung) in der angelsächsischen Welt, insbesondere in den USA.2 Dass einer der einflussreichsten Ökonomen der Welt so argumentieren kann, ist bezeichnend. Er müsste doch wissen, dass ein Land wie Indien heute einerseits auf der Weltrangliste der Dollarmilliardäre Platz sechs belegt und andererseits die weltweit höchste Anzahl von Analphabeten und von Menschen ohne Zugang zu sanitärer Grundversorgung aufweist.
Wenn man den neuen indischen Regierungschef Narendra Modi fragen würde, was er denn von Pikettys Analyse hält, würde er vermutlich antworten, dessen Buch sei für Indien und ihn selbst irrelevant. Dieselbe Antwort würde übrigens Chinas nicht mehr ganz so neuer Präsident Xi Jinping geben, und auch Joko Widodo, der aussichtsreichste Kandidat für das Präsidentenamt in Indonesien.3 Und diese drei Herren repräsentieren immerhin knapp 3 Milliarden Menschen.
Wie alle anderen Ökonomen will auch Piketty die Welt allein im Hinblick auf das ökonomische Kapital erklären. Außer Acht bleibt die „Mutter allen Kapitals“ – das Naturkapital. Damit ignoriert er die wissenschaftlich belegten Erkenntnisse über den Zustand unserer Welt.
In einer Welt, die den Gesetzen der Natur unterliegt, gilt für das Kapital folgende Hierarchie: Zuerst kommt das Naturkapital, also die Gesamtheit aller natürlichen Ressourcen wie Wasser, Luft, Flora und Fauna, geologische Formationen, Böden und anderes mehr. Das Naturkapital stellt die Grundlagen aller Leistungen des Ökosystems, auf die das menschliche Leben angewiesen ist und ohne die nichts produziert werden kann.
An zweiter Stelle kommt das menschliche Kapital. Hier geht es um das Wohlergehen der Menschen, um unser körperliches Befinden, unsere Gesundheit und unsere Ideen, unsere Motivation und Kreativität. Danach kommt, drittens, das soziale Kapital, aber weniger im Sinne von gesellschaftlichem Status als vielmehr in Gestalt der Institutionen, die es den Menschen ermöglichen, ihr individuelles Potenzial zu verwirklichen, also etwa: Bildungswesen, Rechtssystem und Sicherheit, Gesundheitsversorgung, aber auch die verschiedenen Strukturen von Familie, Gemeinschaft und religiösen Organisationen.
Die schärfste Form der Ungleichheit
Erst nach diesen drei Kategorien kommt das ökonomische Kapital, das zugleich das am wenigsten wichtige ist. Denn die Menschen können viel leichter ohne Aktienoptionen leben als zum Beispiel ohne Wasserversorgung, Gesundheitsdienste oder ein Minimum an Recht und Ordnung. Tatsächlich hat das ökonomische Kapital keinen eigenständigen Wert; wichtig ist es nur als Instrument, um die anderen Arten von Kapital zu besitzen, zu erwerben oder zu veräußern. Eine Welt, in der es nichts gäbe außer Bargeld, Staatsanleihen, Aktien und anderen Finanzinstrumenten, wäre eine Welt, deren Reichtum in der Summe null wäre.
Das Grundproblem des heutigen Kapitalismus ist also nicht, dass ein paar Leute zu viel ökonomisches Kapital haben und andere zu wenig. Das Problem ist vielmehr unser Wirtschaftssystem selbst, das die allgemeine organisierte Selbstbedienung auf Kosten des Naturkapitals nicht nur erlaubt – es beruht darauf.
Die entscheidende Herausforderung im 21. Jahrhundert wird deshalb sein, die Ungleichheit in den Entwicklungsländern – und nicht im Westen – anzugehen und zugleich einen nachhaltigen Umgang mit dem Naturkapital zu gewährleisten. Dass Milliarden Menschen in Indien und China in einer – verglichen mit dem wohlhabenden Westen – bedrückenden Armut und Enge leben, ist ein Problem, das die Regierungen dieser Länder anpacken müssen.
Die schärfste Form der Ungleichheit wird bei alldem allerdings oft übersehen: die zwischen den Menschen auf der untersten Stufe der ökonomischen Leiter und denen, die es nicht einmal bis auf die Leiter schaffen. Ich meine damit jene Hunderte Millionen Menschen in aller Welt, die nicht einmal über die elementarsten Ressourcen verfügen: Wohnraum, ausreichendes und unbedenkliches Essen, sauberes Wasser, eine Toilette. Diese Menschen gehören nicht einmal zum ökonomischen System, sie sind, das ist ganz wörtlich zu verstehen, entrechtet; deshalb sind ihre Beschwerden nicht auf Facebook oder Twitter zu hören. Ihnen ist nicht geholfen, wenn das ökonomische Kapital immer weiter anwächst, sondern nur, wenn das Naturkapital geschützt und gerechter verteilt wird.
Stattdessen verschleudern es die heutigen Regierungen und externalisieren die Kosten der entstandenen Umweltprobleme wie Bodenerosion und CO2-Belastung, während zugleich die wertvollsten Naturressourcen wie saubere Luft und sauberes Wasser ohne Gegenleistung zu haben sind – alles im Namen des Wirtschaftswachstums und mit dem Ziel einer kurzfristigen Konsumbelebung. Auf lange Sicht läuft dies jedoch auf die Plünderung der globalen Naturressourcen hinaus. Das macht die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen immer schwieriger und führt zu sozialen Unruhen, weil Milliarden Menschen keinen Zugang zu den elementaren Ressourcen haben, die eigentlich allen zustehen.
Nehmen wir das Beispiel Birma. Das Land ist heute einer der „heißesten“ Märkte für Investoren überhaupt. Zugleich hat es eine der höchsten Abholzungsquoten weltweit: In den zwei Jahrzehnten zwischen 1990 und 2010 hat Birma 20 Prozent seiner Waldflächen verloren. Doch die Menschen, die in diesen Gebieten leben, haben auf das Schicksal der Wälder, von denen sie abhängig sind, so gut wie keinen Einfluss. Sie sind bedroht durch das Ziel, ausländische Investitionen anzuziehen, um ökonomisches Kapital zu erzeugen.
Solange die politischen Macher die Welt einzig und allein aus der Perspektive des ökonomischen Kapitals sehen und auf technische Indikatoren wie den Gini-Koeffizienten4 fixiert sind, wird der Schaden für das menschliche, das soziale und das Naturkapital unbeachtet bleiben. Ein Umsteuern in die richtige Richtung ist damit ausgeschlossen. Um es klar zu sagen: Selbst ein Kapitalismus mit mehr Einkommensgerechtigkeit wird in der Katastrophe enden, wenn er weiterhin auf Konsumsteigerungen und kurzfristiges Wachstum setzt statt auf einen vernünftigen Umgang mit dem Naturkapital. Die immer weiter steigenden CO2-Emissionen und der dadurch verursachten Klimawandel sind der Beweis dafür.
Der wichtigste konkrete Vorschlag, den Piketty macht, ist eine weltweite Steuer, die den Reichen nimmt und den Armen gibt. Aber eines sollte dabei klar sein: Das reine Umverteilen des ökonomischen Kapitals ist so, als würde man sich bei einem Abendessen, bei dem nichts zu essen auf dem Tisch steht, darauf konzentrieren, das Tafelsilber gerechter zu verteilen.
Die weitsichtigere Lösung wäre eine satte Steuer auf den Abbau natürlicher Ressourcen. Nur dann wird das Wirtschaftswachstum nicht mehr darauf beruhen, dass die Industrie kostenlos das Wasser verschmutzen, fruchtbare Böden zerstören oder degradieren und billige und ungesunde Nahrungsmittel produzieren darf. Wenn wir die Ursachen der weltweiten Ungleichheit bekämpfen wollen, müssen wir als Erstes aufhören, an der falschen Stelle nach ihnen zu suchen.
Chandran Nair ist Gründer und Direktor des Global Institute for Tomorrow (Gift) in Hongkong und Autor von „Der Große Verbrauch: Warum das Überleben des Planeten von den Wirtschaftsmächten Asiens abhängt“, München (Riemann Verlag) 2011. © Le Monde diplomatique, Berlin