15.11.1996

Die Taliban als Wächter der Scharia und der Pipeline

zurück

Die Taliban als Wächter der Scharia und der Pipeline

EINIGE Wochen nachdem die Taliban-Truppen in Kabul einmarschiert sind, ist die Lage in Afghanistan noch immer unklar. Unter den Bewohnern der Hauptstadt, die gleichmütig zugesehen hatten, wie die alten Machthaber das Weite suchten, wächst der Unmut über die religiöse Sittenstrenge der „Koranstudenten“. Leidtragende des neuen Regimes sind vor allem die Frauen, die nicht mehr zur Arbeit gehen dürfen und sich den Bestimmungen eines mittelalterlichen Sittengesetzes unterwerfen müssen. Militärisch können die Taliban, die dem Volk der Paschtunen angehören, mit der offenen Unterstützung Pakistans und mit verdeckter Hilfe aus Saudi-Arabien und den USA rechnen. Doch inzwischen geraten sie in Kabul unter Druck, weil sich die zuvor verfeindeten Verbände des früheren Verteidigungsministers Ahmed Schah Massud (eines Tadschiken) und des usbekischen Generals Raschid Dostam gegen sie verbündet haben. Neben den ethnischen und religiösen Rivalitäten fachen auch die strategischen Interessen der USA und Pakistans in Zentralasien den Konflikt in Afghanistan immer neu an und sorgen dafür, daß er nicht so schnell ein Ende finden wird.

Von OLIVIER ROY *

Die Entstehung der Taliban-Bewegung ist zunächst auf interne Faktoren zurückzuführen, wie etwa die Ablehnung, die die Afghanen ihrer Regierung und den „Kommandanten“ entgegenbrachten, die ihre Macht einst im Widerstand gegen die sowjetische Intervention erlangt hatten. Daß sich die Bewegung so rasch ausbreiten und schließlich am 26. September Kabul einnehmen konnte, ist jedoch nur mit ihrer direkten Unterstützung durch die pakistanische Regierung zu erklären, die allerdings mit Billigung der Vereinigten Staaten und Saudi-Arabiens erfolgte. Dahinter steht das Interesse an einem großangelegten Projekt, um Erdöl und Erdgas aus Zentralasien über Afghanistan und Pakistan zu exportieren und auf diese Weise Rußland und den Iran zu umgehen.

Die Taliban rekrutieren ihre Anhänger im Süden Afghanistans, und zwar aus den Koranschulen, den Medresen, der ländlichen Gegenden im Siedlungsgebiet der Paschtunen, beim Stamm der Durrani ebenso wie bei den Ghilsay.1 Diese höheren Lehranstalten des Islam nehmen Schüler aus allen Schichten auf, ohne Ansehen der Zugehörigkeit zu einem Stamm oder einer der großen Grundbesitzerfamilien. In Krisenzeiten bieten sie also einen Rahmen, in dem ein friedliches Miteinander der Stämme möglich ist.

Andererseits gehören die Taliban durchweg zum Volk der Paschtunen, das traditionell die politische Macht in Afghanistan ausgeübt hat. Die einzige Unterbrechung dieser Vorherrschaft war jene kurze Episode im Jahre 1928, als der Tadschike Baksche-i Saqqao Kabul eroberte, dann jedoch von den Stämmen gehenkt wurde, die sich um den künftigen König Nadir Khan geschart hatten.

Im Krieg gegen die sowjetischen Truppen (1979-1988), der sich vorwiegend im Norden abgespielt hatte, schwächte sich der Einfluß der Paschtunen allerdings ab, auch weil sie sich politisch aufsplitterten. Die drei anderen großen Völker der Region hingegen konnten jeweils eigene, relativ homogene Parteien hervorbringen: Die schiitischen Hasara bildeten die Hisb-i Wahdat, die persisch sprechenden sogenannten Tadschiken schlossen sich in der Dschamiat-i Islami zusammen, und die Usbeken unterstützten den General Dostam. Im April 1992 eroberten die verbündeten usbekischen und tadschikischen Truppen unter der Führung von Ahmed Schah Massud die Hauptstadt Kabul. Da die Taliban sowohl über eine religiöse als auch eine ethnische Legitimationsbasis verfügten, konnten sie als Rächer der Paschtunen auftreten und hatten daher nur wenig Mühe, den „paschtunischen Gürtel“ einzunehmen. Das sind die weiten Gebiete im Süden Afghanistans, die traditionell unter der Herrschaft ihres Volkes gestanden hatten.

Diese Rückbesinnung auf die Tradition war auch eine Antwort auf das Scheitern der islamisch orientierten Ordnung, die Ahmed Massud und Gulbuddin Hekmatjar, der Führer der Hisb-i Islami, vertreten hatten. In der afghanischen Gesellschaft konnte dieses modernere und stärker ideologisch orientierte Konzept offenbar keinen Bestand haben: Es zerbrach in den Richtungskämpfen, und die islamistischen Planer mußten das Feld den traditionellen Mullahs überlassen, deren Programm sich darauf beschränkt, die Scharia einzuführen und die Frauen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen.2

Andererseits verdanken die Taliban ihren Erfolg zu einem nicht geringen Teil der direkten Unterstützung durch Pakistan. So verfügten sie über Panzerfahrzeuge und Flugzeuge und ein funktionierendes Telekommunikationsnetz, und den Umgang mit solchen modernen Geräten lernt man bekanntlich nicht auf der Koranschule. Daß es ihnen 1995 gelang, ein russisches Frachtflugzeug im Luftraum über Kandahar abzuschießen, läßt auf eine Radarüberwachung schließen, über die in der Region allein Pakistan verfügt.

Die Medresen der Taliban sind nur die Filialen eines weitgespannten Netzes von Koranschulen mit Zentrum in Pakistan, das von der reformistischen Fundamentalistenbewegung der Deobandi betrieben wird. Deren politische Organisation, die Dschami'at-i Ulema Islami, gehört zu den Bündnispartnern der Pakistanischen Volkspartei (PPP) von Benazir Bhutto.

Diese scheinbar widernatürliche Verbindung erklärt sich daraus, daß die Dschami'at-i Ulema Islami ihren Hauptfeind in der Dschama'at Islami sieht, einer radikalen islamistischen Partei, die einst den General Zia ul-Haq unterstützt hatte.3 Diese letztere Gruppierung wiederum unterstützte in Afghanistan lange Jahre die Hisb-i Islami Gulbuddin Hekmatjars, eines Paschtunen, der bis 1991 auch der wichtigste Adressat pakistanischer Hilfe war.4

Seit 1993 suchte der pakistanische Geheimdienst nach Ersatz für seine Marionette Hekmatjar. Den USA und Saudi- Arabien war nur allmählich bewußt geworden, daß die sunnitischen islamistischen Organisationen, die mit ihrer Hilfe gegen die sowjetische Armee in Afghanistan gekämpft hatten, nun auch gegen sie Front machten, etwa indem sie Saddam Hussein unterstützten.

Die wichtigsten Rollen in den Netzwerken der Islamisten spielten die pakistanische Dschama'at Islami, Gulbuddin Hekmatjar und Usama Bin Laden (ein reicher Saudi, dem inzwischen die Nationalität aberkannt wurde und der zum Dschihad gegen die Amerikaner aufruft); hinzu kommen noch einige saudische und sudanesische NGOs mit Sitz im pakistanischen Peschawar. Die antiamerikanischen Anschläge nach 1992 waren das Werk von Mitgliedern dieser Organisationen, die im übrigen mit dem Iran nichts zu schaffen haben. Das ist zum Beispiel auch beim Anschlag auf das World Trade Center in New York im Sommer 1993 und bei den Attentaten auf amerikanische Berater in Saudi-Arabien im November 1995 deutlich geworden.

Durch einen genialen Streich ihres Innenministers General Nasserullah Babar gelang es den Pakistani, eine neue Lösung zu finden, ohne die eigenen strategischen Interessen zu gefährden: abermals ein Bund mit einer Gruppe von fundamentalistischen Paschtunen, den Taliban. Der Geheimdienst und die Dschami'at Ulema kümmerten sich um Rekrutierung, Beratung und materielle Versorgung. Für Pakistan geht es dabei um drei strategische Ziele: Erstens sollen die ethnischen Bindungen (unter den pakistanischen Offizieren sind viele Paschtunen) ausgenutzt werden, um in Kabul eine abhängige Regierung einzusetzen; zweitens will man sich einen strategischen Vorteil gegenüber Indien verschaffen; und drittens soll ein Korridor nach Zentralasien geöffnet werden. Damit könnte Islamabad nicht nur die Energieversorgung des Landes sichern, sondern eine strategische Schlüsselposition einnehmen, die dem Land amerikanische Unterstützung und Einnahmen aus dem Erdöltransport sichern soll.

Saudi-Arabien geht es nach wie vor darum, den Iran und derzeit auch die radikalen sunnitischen Islamisten daran zu hindern, sich zu den einzig wahren Hütern der Religion aufzuschwingen. Auch die Saudis brauchen neue Verbündete, nachdem die Muslimbrüder, die algerische Islamische Heilsfront (FIS) und die palästinensische Hamas im Golfkrieg die Gefolgschaft verweigert haben. Mit dem Islam der Taliban können sie auskommen. Er unterscheidet sich zwar von der wahhabitischen Glaubensrichtung, ist ihr aber, was die Sittenstrenge bei gleichzeitiger prowestlicher Einstellung angeht, einigermaßen ähnlich. Riad möchte auch verhindern, daß der Iran an der Ausbeutung der Erdölvorkommen in Zentralasien beteiligt wird und auf diese Weise seine strategische Rolle im Nahen Osten stärkt.

Trotz gegenteiliger Erklärungen finden die drei pakistanischen Ziele ungeteilte Zustimmung in Washington. Im Oktober 1994 begleitete John C. Monjo, der amerikanische Botschafter in Pakistan, den pakistanischen Innenminister bei einem Besuch in der von den Taliban beherrschten westlichen Region Afghanistans, ohne bei der afghanischen Regierung die Genehmigung einzuholen. Für die USA war die Regierung von Massud und Rabbani von Anfang an nur eine von mehreren Konfliktparteien, und die Wiedereröffnung der amerikanischen Botschaft in Kabul stand nie zur Debatte. Kaum war jedoch die Stadt in der Hand der Taliban, bezeichnete das Außenministerium in einem Kommuniqué diesen Sieg als „positive“ Entwicklung und kündigte die Entsendung einer offiziellen Delegation nach Kabul an.

Die Eile Washingtons hängt mit einem Aspekt zusammen, der die gegenwärtige Entwicklung in Afghanistan entscheidend bestimmt: dem Projekt einer Erdgaspipeline von Turkmenistan durch den Osten Afghanistans bis zum pakistanischen Hafen Guadar. Federführend bei diesem Vorhaben ist die amerikanische Ölgesellschaft Unocal, der es im Verein mit der saudischen Delta Oil gelang, die argentinische Gesellschaft Bridas auszustechen und die Gunst des turkmenischen Präsidenten zu gewinnen. Diese Gasleitung, deren Kosten auf zwei Milliarden Dollar geschätzt werden und die durch eine Ölpipeline ergänzt werden soll, erfüllt zwei vorrangige Anforderungen der amerikanischen Interessenpolitik: zum einen stellt sie eine direkte Verbindung zu den Öl- und Gasvorkommen in Zentralasien und am Kaspischen Meer her, in deren Ausbeutung amerikanische Firmen, darunter Chevron, derzeit große Summen investieren. Zum anderen bedeutet sie, ganz im Sinne der augenblicklichen US-Doktrin, eine weitere Isolierung des Iran, durch dessen Staatsgebiet die Pipeline eigentlich geführt werden müßte, weil es den Förderquellen am nächsten liegt und bereits über eine hinreichende Infrastruktur verfügt.5

Unocal und Delta haben sich beim „Einkauf“ afghanischer Militärführer massiv eingemischt, ganz zu schweigen von der Lobbyarbeit in Washington und der Abstimmung mit Pakistan. Als politischen Berater verpflichtete Unocal den Amerikaner Charles Santos, der über gute Kontakte zu Regierungskreisen in Washington verfügt und Stellvertreter des früheren UNO-Sondergesandten für Afghanistan, Mahmud Mestiri, gewesen ist. Chris Taggart, Vizepräsident von Unocal, macht kein Hehl daraus, daß seine Gesellschaft die Taliban unterstützt. Er bezeichnete ihren Vormarsch als eine „positive Entwicklung“ und versicherte, daß „die jüngsten Ereignisse sich vermutlich vorteilhaft auf das Projekt [der Pipeline] auswirken“ werde. Und fügte hinzu, daß man sogar mit der Anerkennung der Taliban- Regierung durch Washington rechne.6

Das Öl aus Zentralasien bündelt die Interessen

DIE USA greifen heute in Afghanistan auf das gleiche Rezept zurück, das die Ölgesellschaft Aramco in den dreißiger Jahren in Saudi-Arabien angewandt hatte. Seine Bestandteile sind islamischer Fundamentalismus, Stammesinteressen und Öl. Das einzige, was fehlt, ist ein gekröntes Haupt. Der frühere König Zaher zeigt zwar kein Interesse, aber die pakistanischen und amerikanischen Drahtzieher werden die Taliban zu überzeugen versuchen, daß man mit einer Regierung von Technokraten aus königstreuen Kreisen mehr Staat machen kann als mit den jetzt regierenden Mullahs. Und an diesem Punkt werden die Probleme beginnen.

Denn auf die Taliban zu setzen ist riskant. Es setzt voraus, daß der usbekische Militärführer Raschid Dostam bereit ist, sich auf einen Handel einzulassen, der ihm Autonomie zugesteht, und daß es gelingt, die schiitischen Kräfte und Ahmed Massud in ihren Schlupfwinkeln in den Bergen in Schach zu halten. Und vor allem wird es darauf ankommen, ob die Koalition der Taliban Bestand hat beziehungsweise ob sie die Verantwortung an eine kompetentere Regierung übergibt.

Aber in Afghanistan haben sich die Verlierer schon immer gegen den Sieger verbündet. Ahmed Massud verfügt noch über bedeutende militärische Kräfte und einen Teil der Luftwaffe. General Dostam hat zwar nie versucht, Kabul zu beherrschen, jedoch wird er es nicht hinnehmen, daß man ihn in seinem angestammten Gebiet herausfordert. Und auch die Hasara haben noch keineswegs vergessen, daß die Taliban vor zwei Jahren ihren Führer Abdul Ali Masari ermordet haben.

Im Siegesrausch dürften die Taliban nun versuchen, zur Eroberung der Regionen anzutreten, die noch nicht unter ihrem Einfluß sind und in denen eine nichtpaschtunische Bevölkerung lebt. Nicht zuletzt droht dem Bündnis der Taliban eine Schwächung von innen, vor allem durch Stammesrivalitäten: Die großen paschtunischen Stämme werden mit einer Führung, in der sie nicht angemessen vertreten sind, kaum einverstanden sein.

Finanzielle Interessen verschärfen die Spaltungen und Versuche, sich gegenseitig das Wasser abzugraben. Dabei geht es nicht nur um die Gaspipeline, sondern auch um das Drogengeschäft. Das Bild von den frommen Taliban, die einen Kampf gegen das Rauschgift führen, ist naiv. Um die Bauern am Opiumanbau zu hindern, müßten gewaltige Summen in die Umstellung der Landwirtschaft investiert werden. Statt dessen scheint der Krieg der Mullahs gegen die Drogenhändler eher ein Kampf um die Kontrolle des Marktes zu sein.

In Kabul macht offensichtlich Pakistan das Rennen, Rußland, der Iran und Indien bleiben auf der Strecke. Teheran hat bei seinem Versuch, in Afghanistan ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen, seinen Einfluß überschätzt, vor allem in bezug auf seine Verbündeten von der schiitischen Hisb-i Wahdat. Als die Taliban im September 1995 die Stadt Herat in der persischsprachigen Region an der Grenze zum Iran eroberten, wurde deutlich, daß sie die Vorherrschaft beanspruchten und daß von einem Gleichgewicht nun nicht mehr die Rede sein konnte. Dennoch versuchte der Iran weiterhin, die verschiedenen Gruppierungen in Afghanistan im Spiel zu halten, und schürte die internen Differenzen in der Regierungspartei Dschami'at. Aber auch die inneren Rivalitäten, die im Iran zwischen den regionalen Behörden, dem Außenministerium und den Geheimdiensten herrschen, verhinderten die Entwicklung einer konsistenten Strategie.

Mit ihrer abwartenden Haltung nach dem Fall von Herat hat sich die Führung in Teheran endgültig um ihren Einfluß in Afghanistan gebracht. Andererseits kann die Islamische Republik einer Entwicklung nicht tatenlos zusehen, die ihr als Einkreisung durch die Amerikaner vom Golf bis zum Kaspischen Meer erscheinen muß, und dies in einer Zeit, da Rußland geschwächt ist. Da Teheran nicht über die Mittel zu einer Gegenoffensive verfügt, muß in Zukunft eher mit verdeckten Aktionen von iranischer Seite gerechnet werden.

Der andere große Verlierer ist Rußland. Die Ereignisse in Afghanistan beruhen nicht so sehr auf einer strategischen Fehleinschätzung, sie bestätigen vielmehr, daß Rußland in Zentralasien immer mehr an Einfluß verliert. Auf dem Gipfeltreffen in Almaty am 4. Oktober7 beschwor Moskau das Gespenst einer islamistischen Welle in der Region herauf, um die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten auf einen gemeinsamen Kurs festzulegen. Vergeblich: Usbekistan und Turkmenistan haben sich für die Pipeline entschieden, sie rechnen mit der amerikanischen Unterstützung und haben nichts gegen die Herrschaft der Taliban einzuwenden, wenn ihnen gewisse Garantien gegeben werden.

Der Garant der Usbeken heißt Raschid Dostam. Die USA und Pakistan werden ihn dazu bringen, mit den Taliban zu verhandeln und ihm gleichzeitig den Schutz seines Gebiets versprechen. Dostam hat sich dabei flexibel gezeigt und ist ein neues Bündnis mit Ahmed Schah Massud eingegangen, während er bereits Gespräche mit den Taliban führt.

Der Sieger Pakistan und sein Risiko

RUSSLAND wird sich hingegen auf wachsende Spannungen in Tadschikistan gefaßt machen müssen. Die dort sehr aktiven islamistischen Widerstandsgruppen operieren von afghanischem Gebiet aus. Ihre Aktivitäten waren während der Regierung von Rabbani und Massud, die sich um eine Verständigung mit Rußland bemühte, gezügelt worden, aber sie fanden auch Hilfe in der arabischen Welt.8

Ein Vorrücken der Taliban bis zur Grenze könnte die Kämpfe wieder aufflammen lassen. Moskau findet immer weniger Unterstützung für seinen Krieg in Tadschikistan. Die Fehler rächen sich: zum einen die bedingungslose Unterstützung des Kulabi-Clans, der zwar im Bürgerkrieg gesiegt hat, dessen Herrschaft aber von Inkompetenz und Unpopularität bestimmt ist. Zum anderen die (von Washington unterstützte) Weigerung, Gespräche mit der zwar islamistischen, aber gemäßigten Opposition aufzunehmen. Auch aus Usbekistan, wo man den Kulabi- Clan heftig ablehnt, hat der Kreml keine Hilfe zu erwarten.

Für Rußland geht es hier nicht um das Vordringen der Taliban nach Kasan – der Fundamentalismus ist keine ansteckende Krankheit – sondern um den sukzessiven Rückgang des russischen Einflusses in Zentralasien zum Vorteil der Vereinigten Staaten. Die Entwicklung in Afghanistan ist nur ein weiterer Schritt auf dem langsamen Rückzug der Russen aus den südlichen Gebieten der ehemaligen UdSSR, von Baku bis Duschanbe.

Pakistan steht zunächst eindeutig als der Gewinner in diesem Spiel da. Dieser Erfolg könnte es allerdings teuer zu stehen kommen. Seit dem Siegeszug der Taliban ist die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan praktisch aufgehoben. Die paschtunischen Stämme zu beiden Seiten der Grenzlinie sind immer stärker am Fundamentalismus orientiert und in den Drogenhandel verwickelt. Sie gewinnen mehr und mehr Autonomie, und auf pakistanischem Gebiet haben sich bereits einige kleine fundamentalistische Emirate gegründet.

Pakistan steht damit vor einer Zerreißprobe durch die gewaltsamen inneren Konflikte zwischen den verschiedenen Gemeinschaften des Landes, die durch Korruption und die mafiosen Entwicklungen ehemals politischer Bewegungen noch verstärkt werden. Vor allem die Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten dürften sich kaum abschwächen, wenn sich die Spannungen zwischen Pakistan und dem Iran weiter verstärken. Die faktische Angliederung Afghanistans wird die zentrifugalen Tendenzen innerhalb Pakistans verstärken. Indien wiederum, für das die Offensive der Taliban eine Niederlage bedeutet, könnte durchaus in Versuchung sein, Öl ins Feuer zu gießen.

Der Zerfall der Sowjetunion begann zehn Jahre nachdem sie mit der Besetzung Afghanistans ihre größte territoriale Ausdehnung erreicht hatte. Pakistan könnte ein ähnliches Schicksal drohen, wenn es nicht zu einer Einigung unter den Afghanen kommt.

dt. Edgar Peinelt

* Forschungsdirektor am nationalen Forschungszentrum CNRS in Paris.

Fußnoten: 1 Die Taliban sind keineswegs aus dem Nichts aufgetaucht. Solche Koranschulen gibt es schon sehr lange. Zwischen Kandahar und Arghandab hatten sich einige Gruppen bereits im Sommer 1984 etabliert, während des Krieges gegen die Sowjetunion. Damals waren die Taliban überwiegend Anhänger der Harakat-i Enqelab-i Islami, einer religiös-konservativen Partei unter der Führung von Mohammed Nabi Mohammedi. Siehe Ahmed Rashid, „L'Afghanistan à l'heure des talibans“, Le Monde diplomatique, April 1992. 2 Viele Beobachter neigen dazu, alle „islamischen Fundamentalisten“ in einen Topf zu werfen, und können darum nicht verstehen, wieso die Vereinigten Staaten trotz ihrer heftigen Gegnerschaft zum Iran bestimmte Fundamentalisten unterstützen oder weshalb die Pakistanische Volkspartei von Benazir Bhutto Beziehungen zu Fundamentalisten unterhalten kann. Man muß hier unterscheiden zwischen dem radikalen und politischen Islamismus und einem Fundamentalismus, der keine klar artikulierten politischen Vorstellungen vertritt. Siehe dazu Olivier Roy, „L'Échec de l'Islam politique“, Paris (Le Seuil) 1992, und ders., „Généalogie de l'Islamisme radical“, Paris (Hachette) 1995. 3 General Zia ul-Haq kam im Juli 1977 durch einen Militärputsch an die Macht. Er setzte Premierminister Ali Bhutto, den Vater von Benazir Bhutto, ab und regierte das Land bis zu seinem Unfalltod im August 1988. 4 Siehe Olivier Roy, „La crise afghane au miroir des ambitions étrangères“, Le Monde diplomatique, Juli 1993. 5 Siehe Nur Dolay, „Rußland pokert mit kaukasischem Erdöl“, Le Monde diplomatique, Juli 1995, sowie Alfonso Artico, „Afghanistans ferngesteuerte Glaubenskrieger“, Le Monde diplomatique, November 1995. 6 Financial Times, 3. Oktober 1996. 7 Bei diesem außerordentlichen Gipfeltreffen zur Afghanistan-Frage kam Rußland mit vier zentralasiatischen Staaten zusammen: Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan. 8 Zum Beispiel wurde in Kunduz, im Norden Afghanistans, ein Rundfunksender der Internationalen Islamischen Hilfsorganisation eingerichtet, der unter saudischer Leitung stand und beträchtliche Aktivitäten entfaltete.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von OLIVIER ROY