15.11.1996

Bosniens Zukunft auch nach den Wahlen in der Schwebe

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Bosniens Zukunft auch nach den Wahlen in der Schwebe

VDie Verschiebung der Kommunalwahlen in Bosnien-Herzegowina auf das Frühjahr 1997 zeigt erneut, wie prekär die Konstruktion der Dayton-Verträge ist, die die USA durchgesetzt haben. Der Wahlgang vom 14. September hat zwar die Strukturen für einen bosnischen Staat geschaffen – wenn auch auf einer vorwiegend ethnischen Grundlage – doch erst die Wahl der Bürgermeister könnte die Voraussetzung für ein politisches Gemeinwesen erbringen. Solange dies noch nicht geschehen ist, werden die Truppen der Nato das Land gewiß nicht verlassen.

Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *

In der Zeit zwischen den Parlamentswahlen vom 14. September in Bosnien- Herzegowina und vom 3. November in Jugoslawien (also in Serbien und Montenegro) hat sich der langjährige militärische Konflikt in einen Kampf mit politischen Mitteln verwandelt. Dieser Kampf ist allerdings durch die Vergangenheit geprägt, deren Erbe es nun zu bewältigen gilt. Dabei wird sich erst herausstellen, wie die Fronten in dieser Auseinandersetzung verlaufen werden, die durch das am 14. Dezember 1995 in Paris ratifizierte Dayton-Abkommen vorgegeben sind.1

Das zeigte sich bei der Eröffnungssitzung des bosnisch-herzegowinischen Parlaments am 5. Oktober auf symbolische und mannigfache Weise. Der bosnische Präsident Alija Izetbegović – er erhielt die meisten Stimmen und übernimmt daher als erster den Vorsitz im dreiköpfigen Staatspräsidium – hatte die erste Parlamentssitzung im Theater von Sarajevo anberaumt. Sein serbischer Kollege im Präsidium, Momčilo Krajišnik, hatte das abgelehnt; wegen der Sicherheitsbedenken der serbischen Abgeordneten schlug er einen anderen Ort vor, etwa den Flughafen von Sarajevo oder die Stadtviertel Dobrinja, Ilidža und Vrace.

Das Ganze war natürlich ein Test: Präsident Izetbegović wollte seinen Beschluß durchsetzen, die Serben wollten zeigen, daß sie sich keiner Entscheidung unterwerfen, die ohne oder gegen sie getroffen wird. Immerhin bestimmt die neue bosnische Verfassung, daß Muslime, Kroaten und Serben stets Einigkeit erzielen müssen. Am 8. Oktober verkündete Krajišnik schließlich, daß die serbischen Abgeordneten des gemeinsamen Parlaments die „feierliche Erklärung“ ihrer Verfassungstreue durchaus, wenn auch getrennt, unterschreiben würden, was inzwischen auch geschehen ist.

Diese Episode kennzeichnet die derzeitige Stimmung unter den bosnischen Serben, völlig unabhängig von ihrer politischen Gesinnung: Sie setzen für die Zukunft eindeutig auf den Rahmen des Dayton-Abkommens. Allerdings haben sie auch kaum eine andere Wahl, seit die kroatische Armee im Sommer 1995 mit ihrer Offensive in Westslawonien und in der Krajina ihre Überlegenheit demonstriert hat. Doch die Zustimmung der bosnischen Serben wurde erst möglich, nachdem die USA der Serbischen Republik in Bosnien (die sogenannte Republika Srpska bildet zusammen mit der Muslimisch-Kroatischen Föderation den Staat Bosnien-Herzegowina) das Recht zugebilligt hatten, besondere Beziehungen zum benachbarten Jugoslawien zu entwickeln. Die Serben bemühen sich nun, ihre Autonomie und die Möglichkeit einer Bindung an Belgrad, die das Dayton-Abkommen ihnen zugesteht, auf optimale Weise zu nutzen.

Die Wahlen im September haben jedoch gezeigt, daß die bosnischen Serben keineswegs einig sind. Erwartungsgemäß konnte die Serbische Demokratische Partei (SDS), die bereits die Wahlen von 1990 gewonnen hatte, ihre Vormacht behaupten. Ihr Gründer Radovan Karadžić hat die Präsidentschaft der Autonomen Republika Srpska an Iljana Plavšić abgegeben, im Staatspräsidium werden die bosnischen Serben von Momčilo Krajišnik vertreten. Doch die anderen Parteien kamen bei der Wahl des Präsidenten der Autonomen Republik immerhin auf ein Drittel der Stimmen, ein Ergebnis, das sie bei den Parlamentswahlen in Gesamt-Bosnien noch übertreffen konnten.

Aber auch diese bosnisch-serbische Opposition gegen die SDS ist in sich gespalten. Die Sozialistische Partei, ein Ableger der Belgrader Regierungspartei unter Slobodan Milošević, trat mit einer gemeinsame Liste mit der Union der Jugoslawischen Linken (JUL) an, einer ebenfalls gesamtserbischen Partei. An der Spitze der JUL, die sich auf die kommunistische Tradition beruft, steht die Ehefrau von Milošević, Mirjana Marković. Eine andere Liste, angeführt vom Bürgermeister von Banja Luka, Predrag Radić, verstand sich als Sprachrohr der Gegner der SDS-Politik. Wieder andere trieben das allen Serben gemeinsame nationale Pathos noch auf die Spitze. Bei der Wahl des serbischen Repräsentanten im Staatspräsidium von Bosnien wurden 305000 Stimmen für Mladen Ivanić, den Kandidaten der Opposition abgegeben, während der SDS-Kandidat Momčilo Krajišnik 690000 Stimmen erhielt.

Der Wahlkampf in der serbischen Region von Bosnien machte eine verbreitete Erbitterung gegenüber der Belgrader Führung und gegenüber Slobodan Milošević selbst deutlich. Besonders groß war die Unzufriedenheit bei Leuten, die von der kroatischen Armee aus der Krajina und Westslawonien vertrieben worden waren, sowie unter den Serben aus dem Nordwesten Bosniens und aus Sarajevo. Es gab keine öffentliche Veranstaltung, keine Kundgebung, kein Gespräch, wo der Name Slobodan Milošević nicht verbitterte Kommentare ausgelöst hätte. Die bosnischen Serben befinden sich heute in einem Widerstreit der Gefühle: Einerseits hoffen sie immer noch auf eine Vereinigung aller Serben in irgendeiner Form; andererseits betonen sie die Unterschiede, die links und rechts der Drina existieren. So streicht die SDS ihre unüberbietbare Treue zu den nationalen Traditionen und ihre strenge christlich-orthodoxe Inspiration heraus. Andererseits prangert sie die Überbleibsel des alten „kommunistischen“ Regimes an, das sie in Belgrad noch an der Macht sieht.

Die Sieger heißen Izetbegović und Milošević

DIESE Ambivalenz herrscht auch bei den bosnischen Kroaten, doch in einer grundsätzlich anderen Atmosphäre. Sie haben nahezu geschlossen für die Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) gestimmt, einen Ableger der Zagreber Regierungspartei. Deren Kandidat für das gemeinsame Staatspräsidium, Krešimir Zubak, erhielt 342000 Stimmen (sein einziger Gegner nur 38000), und die HDZ-Kandidaten für das gesamtstaatliche Parlament errangen 90 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Kurz vor der Wahl, am 2. September, erklärte der Parteivorsitzende Božo Rajić, die am 7. Juli 1992 ausgerufene Republik Herceg-Bosna – die seit dem 31. August 1996 offiziell aufgelöst ist – habe keineswegs aufgehört zu existieren. Und auch vor Ort läßt sich keine Veränderung feststellen: Fahnen, Währung, Uniformen, Autokennzeichen – solche Symbole unterstreichen den kroatischen Charakter des Landes ebenso wie die unüberwindliche Teilung von Mostar in einen kroatischen und einen muslimischen Teil.

Diese Verhältnisse resultieren letzten Endes aus der politischen Strategie des kroatischen Präsidenten. Im März 1994 hatte Franjo Tudjman in Washington den Verzicht auf den Anschluß der kroatischen Gebiete Bosniens an Kroatien zugesichert und diese als Bestandteil einer Muslimisch-Kroatischen Föderation akzeptiert. Dafür sicherten ihm die USA diskret, aber kategorisch zu, man werde ihm freie Hand lassen, wenn er die serbischen Provinzen Kroatiens zurückerobern wolle, die sich 1992 für unabhängig erklärt hatten. Das geschah dann im Juli und August 1995 mit der kroatischen Offensive im Westen der Krajina und in Westslawonien.

Allerdings gelang es der kroatischen Armee nicht – trotz offenkundiger US- amerikanischer und deutscher Hilfe – auch Ostslawonien zurückzuerobern, das an Jugoslawien grenzt. Gleichwohl hat Präsident Tudjman sein Ziel der Rückgewinnung von Ostslawonien nicht aufgegeben. In diesem Sinne stimmte er Anfang November zu, die Verwaltung durch die Vereinten Nationen bis Ende Juli 1997 zu verlängern, also um sechs Monate über den ursprünglich festgesetzten Termin hinaus. Am 23. August hatte er bereits erreicht, daß der serbische Präsident Slobodan Milošević die alten kroatischen Grenzen anerkennt. Abzuwarten bleibt, ob die Wiederangliederung Ostslawoniens an Kroatien, deren Zeitplan noch zwischen Zagreb und Belgrad vereinbart werden muß, eine ebenso dramatische Abwanderung der serbischen Bevölkerung auslösen wird wie im Sommer 1995 aus der Krajina und Westslawonien. In diese Gebiete durften bis jetzt nur einige tausend serbische Flüchtlinge zurückkehren.

Für die Führung der bosnischen Muslime waren die Wahlen vom September eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Wiedervereinigung von Bosnien-Herzegowina. Sie verfolgt die Strategie, die eigene Macht innerhalb der Muslimisch- Kroatischen Föderation zu festigen, in der sie ohnehin über eine unangefochtene Mehrheit verfügt, und die Autonomie der Republika Srpska möglichst stark einzuschränken.

Die erste Voraussetzung für dieses Konzept war ein Wahlsieg. In der Tat erzielte die SDA (Partei der Demokratischen Aktion) von Präsident Alija Izetbegović einen durchschlagenden Erfolg. Sie gewann 729000 Stimmen, während die Bewegung des ehemaligen Ministerpräsidenten Haris Silajdžić nur auf 123000 Stimmen kam. Die SDA konnte ihre Möglichkeiten, als einzige einen richtigen Wahlkampf zu führen, erfolgreich ausschöpfen. Als Kandidaten für das Parlament hatte sie die Militärchefs der einzelnen muslimischen Gebiete nominiert, so etwa die Generäle Sakib Mahmuljin, Atif Dudaković und Mehmed Alajić. Auch die religiösen Institutionen konnte die SDA umfassend in Anspruch nehmen. Mit der Präsenz religiöser Würdenträger und dem Verlesen von Gebeten verliefen ihre Kundgebungen ähnlich wie in Ländern mit islamischer Staatsreligion.

Auch scheute die SDA nicht vor Manipulationen zurück: So stellte sich heraus, daß die Zahl der abgegebenen Stimmen 107 Prozent der Wahlberechtigten erreichte! Die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die den Ablauf der Wahlen beaufsichtigen sollten, zogen es indessen vor, nicht zu genau hinzuschauen. Statt die Auszählung zu wiederholen, was den Abstand zwischen Präsident Izetbegović und Momčilo Krajišnik (60000) womöglich gefährlich verringert hätte, legte man ein vorsichtigeres Zahlenwerk vor, das den Abstand zwischen den beiden Kandidaten nur noch auf 39000 Stimmen beziffert.

Bedeutsamer für die Zukunft ist jedoch die massive Verstärkung der bosnischen Regierungsstreitkräfte. Unter Verletzung des UN-Embargos hat die bosnische Armee in den letzten vier Jahren in großem Umfang Waffen bezogen, was ihr die Überlegenheit über die bosnischen Serben sichert. Unter der Schirmherrschaft einer Wiener „Hilfsagentur für die Dritte Welt“ erhielt die Regierung in Sarajevo Militärlieferungen im Wert von 350 Millionen Dollar.2 Nicht zuletzt aus diesem Grunde will die serbische Führung in Bosnien keinen weiteren bewaffneten Konflikt. Angesichts der politischen Strategie von Präsident Izetbegović und seiner Partei setzen sie auf das Einstimmigkeitsprinzip in dem Dreierkollegium, das die exekutive Spitze der Republik Bosnien-Herzegowina bildet, sowie auf die internen Widersprüche der muslimisch-kroatischen Koalition. Aber natürlich hoffen sie auch auf die künftigen Bindungen an die Bundesrepublik Jugoslawien, wie sie nach dem Dayton-Abkommen gestattet sind.

Die Beziehungen der bosnischen Serben zu Belgrad sind durch den Sieg der Präsident Milošević unterstützenden Parteien bei den Wahlen in Serbien und Montenegro sicher nicht verbessert worden.3 Vor dem 3. November hatten die meisten bosnischen Serben höchst voreilig über Umfrageergebnisse gejubelt, die einen Sieg des Oppositionsbündnisses „Zajedno“ vorausgesagt hatten.

Daß Präsident Milošević am 3. Oktober in Paris das Abkommen über die Anerkennung der aktuellen Grenzen von Bosnien-Herzegowina unterzeichnet hat, bedeutet für die Strategie von Präsident Izetbegović einen weiteren Erfolg – und zugleich einen bedeutenden Schritt auf dem Weg, den die US-amerikanische Politik gegenüber der Bundesrepublik Jugoslawien vorgezeichnet hat.

Washington bevorzugt das direkte Gespräch mit Milošević und will ihn und die serbisch-montenegrinische Föderation dabei ökonomisch und militärisch so unter Druck setzen, daß sie ihr altes Ziel der Vereinigung aller Serben in einem Staat aufgeben müssen.4 Diese Politik ist letztlich dank des durchgehaltenen militärischen Drucks erfolgreich geblieben. Im übrigen hat Präsident Milošević das Dayton-Abkommen im Namen aller Serben unterzeichnet. Im Namen aller Serben hat er also auch die Grenzen von Kroatien und von Bosnien-Herzegowina anerkannt – und damit die Trennung der bosnischen Serben von ihren Landsleuten in Serbien und Montenegro als endgültig abgesegnet. Dafür bekam er von den USA die verabredeten Gegenleistungen: die Zusage, der einzige serbische Gesprächspartner der westlichen Staaten zu bleiben, und die Aufhebung des Embargos gegen die heutige Bundesrepublik Jugoslawien. Zudem wurde Milošević signalisiert, daß sein Land wieder seinen angestammten Platz auf der internationalen Bühne wird einnehmen können.

Die USA wollen in diesem Teil Europas keine weitere größere Veränderung der politischen Landschaft zulassen. Die Unterstützung für die bosnischen Politiker bleibt die Grundlage ihrer Handlungsstrategie. Und um die erreichten Ergebnisse abzusichern, scheinen sie neuerdings bereit, ihr Ifor-Kontingent, das bisher rund 20000 Mann umfaßte, durch eine reduzierte Truppe zu ersetzen – die aber ausreichen soll, um das Oberkommando für alle Truppen zu beanspruchen und sicherzustellen, daß die in Washington getroffenen Entscheidungen vor Ort umgesetzt werden. Bosnien wird bis auf weiteres das größte und bedeutendste Engagement der Vereinigten Staaten in Europa bleiben.

dt. Eveline Passet

* Journalist, Autor des Buches „Le Dernier empire“, Paris (Grasset) 1995.

Fußnoten: 1 Siehe Svebor Dizdarevic, „Bosnie, la paix sans la démocratie“, Le Monde diplomatique, Februar 1996. 2 Washington Post, 22. September 1996. 3 Zur Situation vor den Wahlen siehe Catherine Samary, „Serbiens Machthaber und die Schrecken des Friedens“, Le Monde diplomatique, Juni 1996. 4 Siehe Jonathan Clarke, „Virage américain en Bosnie“, Le Monde diplomatique, Oktober 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von PAUL-MARIE DE LA GORCE