15.11.1996

Verplantes Groß-Jerusalem

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Verplantes Groß-Jerusalem

Von JAN DE JONG *

HAUPTSTADTPLAN von Jerusalem“ lautet die offizielle Bezeichnung des Entwicklungsplans für die Region, der im vergangenen Jahr von einer gemeinsamen Kommission mehrerer israelischer Ministerien erstellt worden ist.1 In Anbetracht der räumlichen Trennung von jüdischer und palästinensischer Bevölkerung, die sich aus den Osloer Verträgen ergibt, sieht der Plan den Bau zahlreicher neuer Siedlungen, Straßen und Gewerbegebiete vor. Mit anderen Worten: Dies ist der Hauptpfeiler für die Eingliederung des Kernstücks von Palästina in den Staat Israel, hiermit wird die Ausweitung der israelischen Souveränität auf das ganze Land und die Zerstückelung der palästinensischen Gebiete in die Wege geleitet.

Das Ausmaß der Vorhaben ist beeindruckend (siehe Karte). Obwohl sich der Plan streng genommen nur auf die Region um Jerusalem bezieht, dürfte er Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des gesamten Westjordanlands haben. Er erfaßt im übrigen nicht nur Jerusalem innerhalb seiner traditionellen Stadtgrenzen, sondern die Hälfte des Westjordanlands, ein Gebiet, in dem mehr als 600000 Palästinenser und etwa 250000 jüdische Siedler leben. Seine Umsetzung würde eine erhebliche Veränderung von Grenzen, Bevölkerungsstruktur und Lebensbedingungen bedeuten.

Obwohl das Projekt noch nicht offiziell gebilligt ist – es könnte eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zu den Palästinensern auslösen2 –, wird bereits fieberhaft an seiner Verwirklichung gearbeitet. Es geht um den großen jüdisch- arabischen Siedlungsraum, der sich in Nord-Süd-Richtung von Ramallah bis Bethlehem und in Ost-West-Richtung von Latrun bis Jericho erstreckt, ein Gebiet von rund tausend Quadratkilometern, das zu 70 Prozent zum Westjordanland gehört.

Ein Jahr vor dem Sechstagekrieg vom Juni 1967 hatten die jordanischen Behörden einen Raumentwicklungsplan in Kraft gesetzt, der auch den arabischen Ostteil Jerusalems einschloß. Dieser sollte das Zentrum einer mit Ramallah und Bethlehem verbundenen palästinensischen Metropole werden, eine Drehscheibe für die Aktivitäten der palästinensischen Gebiete und ein Tor zu den arabischen Märkten.

Nach dem Krieg von 1967 wurden Ost- Jerusalem und das Umland von Israel jedoch annektiert und der Stadtentwicklungsplan auf Eis gelegt; anstelle der geplanten Wohnungen, Behörden- und Gewerbezentren für die Palästinenser entstanden jüdische Siedlungen. Nun entwickelten die Israelis ihre Vorstellungen von der Hauptstadt Jerusalem, wobei sie sich am funktionellen und administrativen Zusammenhang der jüdischen Wohnsiedlungen orientierten und dabei weit über die bis 1967 geltenden Staatsgrenzen hinausgingen – ein „Groß-Jerusalem“ begann sich abzuzeichnen. Damit waren die Entwicklungsmöglichkeiten der palästinensischen Metropole stark reduziert: Statt sich auf die arabischen Städte der Umgebung ausdehnen zu können, mußte man sich nun zwischen den vorgelagerten israelischen Gebieten und dem arabischen Hinterland einrichten.

Der Anteil der arabischen Bevölkerung in diesem Ballungsraum steigt rapide, ihre Zahl dürfte bis zum Jahr 2010 von derzeit 400000 auf 800000 gewachsen sein. Demgegenüber nimmt sich das natürliche Bevölkerungswachstum der jüdischen Einwohner bescheiden aus. Um dem palästinensischen Bevölkerungsdruck zu begegnen und seine Vormachtstellung in „Groß-Jerusalem“ zu sichern, muß der jüdische Staat daher eine intensive Siedlungspolitik rund um die Altstadt betreiben.

Drei Gruppen von Siedlungen kommt dabei besondere Bedeutung zu: Givat Ze'ev im Nordwesten, Ma'ale Adumim im Osten und schließlich Betar und Efrat (die zum Etzion-Block gehören) im Süden. Diese Städte könnten so weit ausgebaut werden, daß sie 200000 zusätzlichen Einwohnern Platz bieten. Einschließlich der näher an der Altstadt gelegenen Siedlungen wäre dann bis zum Jahr 2010 eine Gesamtzahl von knapp 500000 jüdische Bewohner im Osten erreicht. Nimmt man die 300000 Einwohner West-Jerusalems hinzu, so hätte Israel eine Hauptstadtbevölkerung, die der arabischen gleichkäme und im Unterschied zu dieser auf allen Seiten präsent wäre.

Vom palästinensischen Ballungsraum blieben damit nur vier isolierte Gebiete, weit verstreut zwischen Ramallah und Bethlehem und abseits des geographischen Zentrums. Ost-Jerusalem zerfiele in einen nördlichen und einen südlichen Teil, beide innerhalb der Grenzen von „Groß-Jerusalem“ und damit vermutlich ohne Entwicklungschancen.

Zu den Zielen des Hauptstadtplans gehört überdies die Anbindung der Region an das israelische Staatsgebiet. Diesem Zweck dienen die Umgehungsstraßen, denen die palästinensische Führung bereits zugestimmt hat: Sie sollen die jüdische Hauptstadt mit dem Gürtel von Siedlungen verbinden, die auf diese Weise zu echten Trabantenstädten würden und zum wirtschaftlichen und geographischen Gewicht der Metropole beitrügen. Außerdem könnte auf diese Weise ein Teil der Bevölkerung aus der dichtbesiedelten Küstenregion nach Groß-Jerusalem und in die angrenzenden Gebiete gelockt werden, wo komfortabler und preiswerter Wohnraum angeboten wird. In diese Richtung weist auch der Bau neuer Gewerbegebiete entlang der „Green Line“, etwa am Stadtrand von Modi'in und Bet Schemesch, der mit großem Nachdruck vorangetrieben wird, um einen Ausgleich zwischen dem übervölkerten „Groß-Tel-Aviv“ und dem expandierenden „Groß-Jerusalem“ zu schaffen.

Das neue Straßennetz bietet auch den Vorteil, Trennlinien zwischen den palästinensischen Siedlungsgebieten im Planungsbezirk zu ziehen. Es ergeben sich dann drei isolierte Bereiche, rund um Ramallah, Jericho und Bethlehem. Und der Plan geht von zwei gegensätzlichen Modellen der Stadtentwicklung aus: In den genannten palästinensischen Bereichen werden andere Bedingungen herrschen als im jüdisch bewohnten Zentrum des Bezirks und in den Siedlungen, von denen die arabischen Enklaven umgeben sind. Das Wachstum der jüdischen Bevölkerung soll also im Zentrum des Ballungsraums und in den unmittelbar angrenzenden Gebieten stattfinden, während der palästinensische Bevölkerungszuwachs sich an der Peripherie abspielt.

Die Karte zeigt die Verteilung jüdischer und palästinensischer Einwohner, wie sie sich aus dem Stadtentwicklungsplan ergeben soll. Demnach steht eine Verdopplung der palästinensischen Bevölkerung zu erwarten, die dann in den drei Enklaven auf 1,1 Millionen und in den umliegenden Dörfern, aus denen sich Israel nicht zurückziehen muß, auf etwa 100000 angewachsen sein wird. Zugleich geht die Planung davon aus, daß ein erster Zustrom von 500000 jüdischen Siedlern stattfindet, so daß sich im Verlauf der nächsten fünfzehn bis zwanzig Jahre die Gesamtzahl der jüdischen Einwohner von jetzt 300000 auf 800000 erhöhen würde.

Man kann das demographische Gleichgewicht, das auf diese Weise entstehen soll, aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Geht man vom Westjordanland aus, dann würden die Palästinenser zwar 60 Prozent der Einwohner stellen, sich aber auf nur 30 Prozent des Territoriums drängen. Dieses Verhältnis kehrt sich allerdings um, sobald man nur jenes Gebiet betrachtet, das nach Maßgabe der Osloer Verträge an Israel fällt: Dort beträgt der Anteil jüdischer Einwohner 60 Prozent.

Wenn man bedenkt, daß der wesentliche Teil der verfügbaren Ressourcen – Anbauflächen und Wasservorräte – unter israelischer Verwaltung bleiben soll, dann erscheinen die Chancen gering, daß das palästinensische Gebiet seinen ursprünglichen Charakter bewahren könnte. Und die Hoffnung, eines Tages aus den besetzten Gebieten ein unabhängiges politisches Gebilde entstehen zu sehen, müßte nach der Umsetzung des Entwicklungsplans begraben werden.

dt. Edgar Peinelt

* Geograph, Amsterdam; Berater der Saint-Yves- Gesellschaft, Jerusalem.

Fußnoten: 1 Eingeschränkt erhältlich unter dem Titel „The Metropolitan Jerusalem Plan“, Kahan (Mazor) 1995. Siehe auch Isabelle Avran, „Jerusalem – Die Siedler, die sie riefen ...“, Le Monde diplomatique, Juni 1995. 2 Siehe „Capital's secret plan: new roads, new homes ...“, Jerusalem Report, 4. November 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von JAN DE JONG