15.11.1996

Vom Mythos der Rassendemokratie in Brasilien

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Vom Mythos der Rassendemokratie in Brasilien

DIE afrobrasilianischen Bewegungen, die lange unterdrückt und kritisiert wurden, haben in Brasilien neuerdings wieder an Einfluß gewonnen. Sie kämpfen gegen die Rassendiskriminierung und wollen am 20. November, dem „Tag des Schwarzen Bewußtseins“, ihre Kräfte bündeln und erneut versuchen, die Zitadelle der „Rassendemokratie“ zu stürmen. Ungewiß ist allerdings noch, ob die 70 Millionen afrikanischstämmige Brasilianer, die das lateinamerikanische Land zum nach Nigeria zweitgrößten schwarzen Staat der Welt machen, ihnen folgen werden.

Von DAMIEN HAZARD und ALAIN PASCAL KALI *

„Wir sind weltweit die einzige Bevölkerungsgruppe, die unter Diskriminierung leidet und es dennoch nicht schafft, die Öffentlichkeit, ob im Ausland oder auch nur hier bei uns, auf ihren Kampf aufmerksam zu machen! In Rio de Janeiro, in Bahia, überall in diesem Land scheint die Anwesenheit der Schwarzen selbstverständlich zu sein! Deshalb ist die ganze Welt davon überzeugt, daß Brasilien eine echte Demokratie ist, eine Republik ohne Probleme.“ João Jorge, der Präsident von Olodum, der bekanntesten afrobrasilianischen Kulturbewegung aus Salvador da Bahia, ist richtiggehend empört. Zwar gibt es auch nach seiner Meinung keinen gesetzlich verankerten Rassismus, keinen offenen Konflikt zwischen Weißen und Nichtweißen, aber dennoch sehen sich die Schwarzen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Der Rassismus in Brasilien ist vage, subtil und versteckt, aber deshalb nicht weniger diskriminierend. Er beruht auf dem Mythos der „Rassendemokratie“, dem Zusammentreffen dreier Hautfarben, das der Soziologe Gilberto Freyre in den dreißiger Jahren beschrieben hat.1

Dieser nützliche Mythos betont die positive Rolle, die das Afrikanische für die brasilianische Zivilisation gespielt hat, insbesondere was die Ausbildung einer nationalen Identität betrifft. Zugleich reduziert er jedoch das Problem der Ungleichheit zwischen Brasilianern verschiedener Hautfarbe auf die Dimension der sozialen Differenzen. Damit wird im Grunde suggeriert, daß es die Schwarzen einfach nicht verstanden haben, Anschluß an die ökonomische Entwicklung des Landes zu gewinnen. Nachdem die Intellektuellen diese Ideologie eine Zeitlang vertreten haben (namentlich die Linke, allen voran der Romancier Jorge Amado), wird sie nunmehr von ihnen kritisiert.

Nach dem Anthropologen Jeferson Bacelar2 , der das Zentrum für afro-orientalische Studien (CEAO) in Salvador da Bahia leitet, „ist der berühmte Mythos der Rassendemokratie keine unabhängige Größe, sondern im Gedächtnis der Gesellschaft mit anderen Elementen verbunden, die ihm einen bestimmten Sinn verleihen. So haben etwa der Weiße, die europäische Welt und überhaupt alles Fremde im kollektiven Bewußtsein einen hohen Stellenwert, während man mit dem Wort ,schwarz‘ negative Eigenschaften wie Aggressivität, Unredlichkeit oder Gewalt assoziiert.“ Aus diesem Grund „will der Mulatte auf keinen Fall mit einem Schwarzen verwechselt werden“. Wenn bei Volkszählungen nach der Hautfarbe gefragt wird, fällt immer wieder auf, daß mehr als hundert Schattierungen genannt werden, die von „kaffeebraun“ über ein scherzhaft gemeintes „gestreift“ bis zu „dunkelrot“ reichen, daß hingegen kaum jemand sich als völlig „schwarz“ bezeichnet. Auch diese Wahrnehmung hat es bislang verhindert, daß die Nichtweißen im Kampf gegen den Rassismus die nötige Einheit erlangen.

In Salvador da Bahia, seit dem 16. Jahrhundert Wiege der schwarzen Kultur, entstand 1974 im Viertel Liberdade „Ilê Aiyê“, die erste Gruppe, die ein selbstbewußteres Auftreten, eine neue positive Identität der Schwarzen forderte. „Am Tag nach ihrer ersten Teilnahme am Karnevalsumzug erschien in der Zeitung A Tarde ein aggressiver Leitartikel, der den Vorwurf erhob, hier würde zum Rassismus angestachelt. Aber die ethnische Selbstbehauptung der Schwarzen dieses Viertels und des städtischen Subproletariats gegen den Konservatismus der Oligarchie von Bahia markierte eine Wende, die wahrlich an der Zeit war. Ilê Aiyê ließ sich auch danach nicht vom Weg abbringen und erkämpfte sich nach und nach einen Platz in den Massenmedien“, sagt der Soziologe Gustavo Falcon. An allen Ecken und Enden der Stadt entstanden zahlreiche weitere blocos afros: Olodum im Pelourinho, Araketu in Periperi, Malê Debalê in Itapoan und Muzenza in den Vorstädten von Salvador.

Wie die Sambaschulen in Rio de Janeiro und São Paulo wurden auch die blocos afros von der schwarzen Bevölkerung frequentiert, die alte Ausdrucksformen des kulturellen Widerstands neu entdeckte. Ein Beweis dafür ist auch die Beharrungskraft der candomblé (einer afrobrasilianischen Religion, in der Gottheiten vorkommen, die orixas oder santos genannt werden, und in der dem Moment der Besessenheit oder der mystischen Trance eine besondere Bedeutung zukommt), aber auch die capoeira (eine Mischung aus Tanz, Akrobatik und Kampfsport) und natürlich die Musik (die ihre eigenen Rhythmen hat – man denke nur an die Samba – und auf Instrumenten afrikanischer Herkunft gespielt wird).

Vor allem die Jugendlichen, anders als ihre Vorfahren, erklären: „Eu sou negro“ (ich bin schwarz). In Massen strömen sie zu den Übungsstunden der blocos, mit ihren Percussiongruppen aus Dutzenden von Trommlern, als Begleitung von Gesängen, die Mißstände anprangern. Von Samba-Reggae ist zwar schon länger die Rede, aber erst in den neunziger Jahren verbreitete sich dieser neue Stil als Samba-Revolte unter dem Namen Axê Music über das ganze Land, nachdem bloco Olodum 1992 von einer internationalen Tournee zurückgekehrt war.

„Eine neue Generation von Schwarzen bekämpft den Rassismus mit Schönheit, Stil und Talent“, titelte die Wochenzeitschrift Isto é im Dezember 1994.3 In dem Artikel, der mit Fotos von Künstlern illustriert war, die in der nationalen Szene Rang und Namen haben (Musiker, Sänger, Schauspieler und Models), schilderte das Magazin „die neuen Waffen der jungen Schwarzen der neunziger Jahre: bewußte Négritude, Mode und die Macht der Konsumenten“. Die Einstellung der Presse und des Fernsehens hat sich – im Einklang mit der Kulturindustrie des Landes – gründlich geändert. Seit das Pelourinho-Viertel saniert wurde4 , ist in Salvador der Besuch einer Probe des bloco Olodum für die Touristen, aber auch für die (weiße) Jugend der Mittel- und Oberschicht fast zur Pflicht geworden. Ein Erfolg, der selbst Michael Jackson bewog, mit Olodum zusammen einen Videoclip zu produzieren, den der schwarze amerikanische Regisseur Spike Lee im Februar 1996 im Pelourinho drehte.

Laßt Zumbi in Frieden!

DIESE „Neger“-Mode ist nicht frei von Widersprüchen und wurde daher auch schon heftig angegriffen. Der Stolz auf die eigene Kultur sei zwar wichtig für die Stärkung der schwarzen Identität, doch „man muß auch sehen, daß den Schwarzen die Anerkennung im Bereich der Kultur nur als Kehrseite ihrer ökonomischen Benachteiligung und ihrer Abwesenheit in den Sphären der Entscheidung zugestanden wird. Die Rollen jedenfalls sind klar verteilt: Der Schwarze sorgt dafür, daß die weiße Elite sich gut unterhält und dabei noch Gewinne macht“, unterstreicht die Vereinigte Schwarzenbewegung MNU (Movimento Negro Unificado) in einem Manifest.5 Diese am 18. Juni 1978 in São Paulo gegründete Bewegung setzt auf einen radikal subversiven Diskurs. Als erste schwarze brasilianische politische Organisation seit der Schwarzen Front der dreißiger Jahre (die 1937 von Präsident Getúlio Vargas „liquidiert“ wurde) erhebt das MNU seine Stimme nicht nur gegen den manipulativen Umgang mit ihrer Kultur, sondern auch gegen den Verrat des Staates, der die Schwarzen zu Bürgern zweiter Klasse macht.

Die 32 Millionen Brasilianer, die unterhalb der Armutsgrenze leben, sind ganz überwiegend Schwarze; dasselbe gilt für ungelernte Arbeiter, Analphabeten, Häftlinge, Obdachlose, Straßenkinder, Favelados, Prostituierte und Hausangestellte. Auf dem Bildschirm dagegen sind Schwarze fast nie zu sehen, es sei denn als Bedienstete, Fußballer oder Spaßmacher. In Salvador, einer zu 80 Prozent schwarzen Stadt, beträgt ihr Anteil unter den Studenten der Bundesuniversität von Bahia weniger als 5 Prozent.

Die Analysen des MNU wurden nicht nur von zahlreichen schwarzen Intellektuellen aufgegriffen, sondern auch in den großen Oppositionsparteien diskutiert, also etwa in der Arbeiterpartei PT (Partido Trabalhista) und der Demokratischen Arbeiterpartei PDT (Partido Democrático Trabalhista). „Das MNU hat eine Rassen- Klassen-Analyse der Gesellschaft begründet; überall im Land sind Bewegungen entstanden, die sich jetzt auf nationaler Ebene zusammenschließen“, sagt Milton Barbosa, ein Führer des MNU.

In der Politik sind die schwarzen Brasilianer immer noch stark unterrepräsentiert, doch ihre Zahl nimmt ständig zu. Besondere Erwähnung verdienen zwei Senatorinnen der PT, zwei Frauen, die aus den untersten Schichten der Gesellschaft stammen: Marina Silva aus dem Bundesstaat Acre und vor allem Benedita da Silva, die ihren höheren Bekanntheitsgrad auch den Medien verdankt, weil sie 1992 fast Bürgermeisterin von Rio de Janeiro geworden wäre. Nicht vergessen werden sollte aber auch Vicentinho, der Vorsitzende der wichtigsten oppositionellen Gewerkschaft, der Central Unica dos Trabalhadores (CUT).

„Von einer Gesellschaft wie der unseren können die Schwarzen nicht mehr erwarten, daß sie sich mit ihren Schwierigkeiten befaßt. Sie selbst müssen sich über die Probleme klarwerden, denen die verschiedenen Schichten der schwarzen Bevölkerung gegenüberstehen und bei denen soziale und regionale Besonderheiten berücksichtigt werden müssen“, erklärte am 22. Dezember 1994 der der PT angehörende Soziologe Florestan Fernandes vor dem Parlament in Brasilia. Der im August 1995 verstorbene Florestan Fernandes, zu dessen Schülern auch der derzeitige brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso zählte, war einer der Wegbereiter der Hochschule für Sozialwissenschaften in São Paulo.

Um einen entsprechenden Aufruf wie den von Florestan Fernandes für eine breitere Öffentlichkeit zu formulieren, wählte die Mehrzahl der afrobrasilianischen Repräsentanten und Bewegungen den 20. November 1995, den „Tag des Schwarzen Selbstbewußtseins“ (Dia da Consciéncia Negra). Er sollte zugleich an den Todestag von Zumbi erinnern, eines schwarzen Helden, den die Kolonialbehörden 1695 hinrichten ließen. Als standhafter Verteidiger des berühmten quilombo6 von Palmares, der ersten freien und unabhängigen Republik Südamerikas, repräsentiert Zumbi den symbolischen Führer einer Gemeinschaft, die sich auf der Suche nach ihrer Identität befindet. „Wir laden ein zu einer nationalen Begegnung auf den Plätzen und Straßen von Brasilia“, erklärte Francisco Ernesto da Silva vom MNU. „Im Namen unseres Zumbi, des Negers, der von der offiziellen Geschichtsschreibung nicht anerkannt worden ist. Für die Schwarzenorganisationen wird dies zugleich eine willkommene Gelegenheit sein, kritisch auf die Hundertjahrfeier der nominellen Abschaffung der Sklaverei zurückzublicken, die 1988 von der Regierung veranstaltet wurde. Damals hat man es sich mit dem Bejubeln des Ereignisses allzu einfach gemacht und sich nicht darum geschert, wie empfindlich die Schwarzenbewegung in Fragen des Rassismus reagiert.“ Die Dreihundertjahrfeier des Todes von Zumbi fand in den Medien freilich ein ungleich schwächeres Echo als die Jubelfeier von 1988: Keine der überregionalen Fernsehanstalten zeigte am 20. November 1995 Bilder von der nationalen Großkundgebung der Afrobrasilianer in Brasilia.

„Laßt Zumbi in Frieden“, meint dazu Fernando Conceição7 von der Zelle Schwarzes Selbstbewußtsein an der Universität von São Paulo (NCN na USP). Der 1987 gegründete NCN findet Konflikte allemal besser als Kompromisse. „Die Samba-Schulen und die blocos, die Regierungen der Bundesstaaten und diverse Stiftungen haben für den 20. November Projekte finanziert, deren Wirkung gleich null war, wenn man davon absieht, daß sie selbst sogar noch Geld damit verdient haben. Alle auf den kulturellen Bereich verengten Bewegungen meinen, sie würden unsere Sache voranbringen, aber für das Volk ändert sich nichts, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. Ilê Aiyê zum Beispiel, ein bloco, der es Weißen nicht gestattet, in seinen Reihen mitzumarschieren, hat bei den letzten Wahlen in Bahia dennoch – als Gegenleistung für ein wirksames Medienspektakel – den extrem konservativen Antònio Carlos Magalhães und seine Mannschaft unterstützt. Olodum wiederum setzt sich zwar für den schwarzen Kandidaten Luis Alberto als Bundesabgeordneten ein, hat aber auf seiner letzten Platte ein Lied eingespielt, in dem Magalhães praktisch für die doch recht umstrittene Sanierung des Pelourinho-Viertels gedankt wird.“

Nach Ansicht des NCN ist Bildung der ausschlaggebende Faktor für gesellschaftliche Veränderungen. Deshalb bietet er für Jugendliche aus ärmeren Familien, deren Einkommen das Dreifache des gesetzlichen Mindestlohns nicht übersteigt, Kurse an, die auf die Aufnahmeprüfung an der Universität vorbereiten. Bei den geförderten Jugendlichen handelt es sich zu 70 Prozent um Schwarze. Der NCN hat auch eine Debatte ausgelöst, die sich um die Frage dreht, ob die Schwarzen ein Recht auf Wiedergutmachungszahlungen haben. „Jedem Afrobrasilianer, dessen Vorfahren Sklaven waren, stehen für die unbezahlte Arbeit, die drei Jahrhunderte lang geleistet wurde, 102000 Dollar zu. Seit November 1994 führen ich und zwölf andere Bürger einen Prozeß gegen den Staat, darunter eine einhundertvierundzwanzigjährige Frau, die als die älteste Frau der Welt gilt und noch als Sklavin geboren wurde,“ berichtet Luis Carlos Alberto.7

Diese Aktion, deren Ende noch nicht abzusehen ist, wird bislang allerdings nur von wenigen Schwarzenorganisationen unterstützt. Heißt das, daß die afrobrasilianischen Bewegungen schicksalhaft zur Uneinigkeit verurteilt sind? „Wie können sie erwarten, daß wir alle gleich sind!“ erwidert Fernando Conceição. „Im Gegenteil, es ist gut, wenn wir uns in den Medien mit differenzierten Ansichten zu Wort melden. Doch was den Kampf betrifft, herrscht bei uns Einheit!“

dt. Andreas Knop

* Damien Hazard, ein in Brasilien lebender französischer Wirtschaftswissenschaftler, ist Direktor von Handicap International Brésil; der aus Senegal stammende Soziologe Alain Pascal Kali ist Professor an der Bundesuniversität von Bahia (UFBA).

Fußnoten: 1 Vgl. Gilberto Freyre, „Herrenhaus und Sklavenhütte“, 1933. 2 Jeferson Bacelar ist Autor von „Etnicidade. Ser Negro em Salvador“, Ianamá 1989. 3 Isto é, São Paulo, 21. Dezember 1994. 4 Das historische Zentrum von Salvador, zu dem das Pelourinho-Viertel gehört, wurde zwischen 1992 und 1994 restauriert. Antònio Carlos Magalhães, damals Gouverneur des Bundesstaats Bahia, hat diese Sanierung, durch die fast 70 Prozent der Bewohner aus ihrem Viertel vertrieben wurden, mit eiserner Faust durchgeführt. Der bloco afro Olodum wurde kritisiert, weil er im Grunde nichts dagegen unternommen hat. 5 Vgl. „Programa de Açoeo/ Estatuto, Movimento Negro Unificado“, ein Sammelband mit wichtigen Dokumenten des MNU, Salvador da Bahia 1992. 6 Von diesen quilombos, die von entflohenen Sklaven gegründet wurden, gab es sehr viele. Sie sind von ganz zentraler Bedeutung für das Problem der Landverteilung. 7 Adressen: MNU, Rua Ari da Rocha Miranda, s/n, Cond. 1, Prédio 1, Apto 34A, Bairro de Jaçana, CEP 02280-330, São Paulo, Brasilien. Milton Barbosa ist für internationale Beziehungen zuständig, Francisco Ernesto da Silva für kulturelle Angelegenheiten. NCN na USP, Av. Prof. Lucio Martina Rodrigues, travessa 4, bloco 3, Cidade Universitária, CEP 05508-900, São Paulo-SP, Brasilien. Luis Carlos dos Santos und Fernando Conceição sind Journalisten und Koordinatoren des NCN.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von DAMIEN HAZARD und ALAIN PASCAL KALI