15.11.1996

Rußland in Not

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Rußland in Not

Von Ignacio Ramonet

UNVERÄNDERT hat Rußland mit enormen wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu kämpfen – eine aus der Vergangenheit mitgeschleppte Last. Die ultraliberale „Schocktherapie“, der das Land seit 1992 unterzogen wird, hat die Lage nur weiter verschlimmert. So lebt mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Zwei große Privatisierungskampagnen haben die Wirtschaft vollends aus dem Gleichgewicht gebracht und einer kleinen Gruppe von Technokraten des alten Regimes die Chance geboten, sich dabei unter den Industriebetrieben die besten Stücke auszusuchen.

Das Wirtschaftswachstum ist nun schon im sechsten Jahr negativ. Die Auslandsschulden übersteigen 120 Milliarden Dollar, die Luftfahrtindustrie, einst eine der größten der Welt, ist im Chaos versunken. Internationale Finanzorganisationen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds – der Rußland im vergangenen Februar ein Darlehen von 10 Milliarden Dollar gewährte – sind dennoch der Überzeugung, daß das Schlimmste vorbei sei. Die Inflationsrate, die 1993 noch mehr als 1500 Prozent betrug, wird dieses Jahr unter 30 Prozent bleiben, und das Haushaltsdefizit dürfte 5,5 Prozent nicht übersteigen.

Der Alltag ist unterdessen zum Alptraum geworden. „Allgemeine Armut in dieser Gesellschaft. Armut der Wohnungen, der Kleidung, des Essens, die Armut des Lebens.(...) Die beängstigende Demoralisierung großer Schichten der Bevölkerung – das vermehrte Auftreten aller möglichen Gangs, der Terror bewaffneter Banden, die verbrecherische Schutzgelderpressung. Dazu kommt die Ausbreitung verschiedener Mafias, die bis hinauf in die höchsten Machtstrukturen reichen. Der erschreckende Diebstahl. Die überall anzutreffende Korruption.“1

In diesem Klima allgemeiner Unzufriedenheit war der Sieg der Kommunistischen Partei von Gennadi Sjuganow bei den Parlamentswahlen im Dezember 1995 kaum verwunderlich. Dahinter stand weder der Wunsch nach einer Rückkehr in die Vergangenheit noch eine Ablehnung des demokratischen Systems, sondern der Wunsch nach Beendigung des aus Willkür und Chaos gemischten Zustands, der das öffentliche Leben in Rußland gegenwärtig kennzeichnet. Das gleiche Bedürfnis ist bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Juni zum Ausdruck gekommen, bei denen in der ersten Runde ebenfalls der kommunistische Kandidat die Mehrheit erhielt. Wenn Boris Jelzin schließlich doch noch den Sieg davontrug, dann nur dank der Allianz, die er nach der ersten Wahlrunde mit General Alexander Lebed einging, dem der Wahlkampfslogan „Wahrheit und Ordnung“ 15 Prozent der Stimmen eingebracht hatte.

Die Bekanntgabe von Jelzins Krankheit, direkt nach den Wahlen, hat einen wahren Erbfolgekrieg ausgelöst: Schläge unter die Gürtellinie und übler Verrat verdichten in Moskau die Atmosphäre des Machtverfalls. Auch Alexander Lebed blieb nicht verschont: Am 17. Oktober wurde er seiner Ämter an der Spitze des russischen Sicherheitsrates enthoben.

Der Mann, dem es gelang, den verheerenden Tschetschenienkrieg zu beenden, ist die zur Zeit populärste Persönlichkeit Rußlands. Wenn in den nächsten Monaten eine Präsidentschaftswahl stattfände, würde er sie vermutlich gewinnen. Denn zwischen der Politik ungezügelter Reformen, wie sie die gegenwärtige Regierungsmannschaft praktiziert, und der Unmöglichkeit einer Rückkehr zur kommunistischen Vergangenheit vertritt er eine Art „dritten Weg“, der den Wählern verlockend erscheint.

MEHRFACH hat Lebed in der Vergangenheit dem chilenischen Putschisten und Diktator Augusto Pinochet Bewunderung gezollt – sollte er mit einem Staatsstreich liebäugeln? Trotz entsprechender Behauptungen des Innenministers Anatoli Kulikow ist das sehr unwahrscheinlich. In erster Linie weil Alexander Lebed genau weiß, in welch desolatem Zustand sich die Truppen befinden. Sodann weil ein solcher Putschversuch zum Zerfall der russischen Föderation führen würde, ebenso wie der Putschversuch 1991 den Zerfall der Sowjetunion nach sich zog. Und schließlich weil der General, ein „reiner Nationalpopulist“, seine Popularität verlieren würde. Die Gesellschaft ruft zwar nach Ordnung, aber nach einer, die sich auf Gerechtigkeit gründet und die Freiheiten nicht angreift.

Außer dem hitzigen Lebed und Gregori Jawlinski strebt niemand eine erneute Präsidentschaftswahl an. Das System ist zwar extrem präsidial, doch wurde inzwischen eine Art „Regierungsrat“ eingerichtet, um das Land zu führen. Dieser Konsultativrat aus Exekutive und Legislative setzt sich aus vier Mitgliedern zusammen: Dem Präsidenten der Staatsduma, Gennadi Selesnew (Kommunist), dem Präsidenten des Föderationsrats, Igor Strojew (Jelzin-Anhänger), dem Premierminister Wiktor Tschernomyrdin und Boris Jelzin selbst. Dieser wurde während seiner Abwesenheit von Anatoli Dschubais vertreten, Chef der Präsidialverwaltung und der eigentliche starke (und meistgehaßte) Mann des Systems.

Kann dieses Rezept die Stabilität Rußlands gewährleisten? General Lebed ist damit der Weg versperrt, und die Kommunisten, die größte politische Kraft, sind de facto bei der Wahrnehmung der Regierungsgeschäfte in die Pflicht genommen. Offenbar kann man dabei auf die Unterstützung der mächtigsten Interessengruppen rechnen, die über 70 Prozent der Wirtschaft und die meisten Medien kontrollieren, insbesondere den militärisch-industriellen Komplex, den Energiesektor sowie den an Bedeutung gewinnenden Sektor der Unternehmen und Banken.

Für diese weitgehend korrupten Organisationen war Jelzins Krankheit ein Geschenk. Nicht ohne Zynismus verweisen sie auf China: „Deng Xiaoping liegt doch seit mehreren Jahren im Sterben, dem System aber scheint es immer besser zu gehen.“ Nur daß es in China keinen General Lebed gibt ...

Fußnote: 1 Ryszard Kapuściński, „Imperium“, Frankfurt am Main (Eichborn) 1993, S. 421f.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von Ignacio Ramonet