15.11.1996

Gemeinsam gegen die Mullahs

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Gemeinsam gegen die Mullahs

IM Iran vertieft sich die Kluft zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat, der aus der Islamischen Revolution hervorgegangen ist. Vor allem die Frauen beziehen immer deutlicher Stellung: Sie fordern die Anerkennung ihrer Rechte und eine Erneuerung des religiösen Denkens. Iranerinnen aller Schichten verfolgen die Debatten, die in den auflagenstarken Frauenzeitschriften geführt werden. Dabei setzen sich erstmals islamistische und laizistische Intellektuelle vereint mit den konservativen Kräften und ihrer rückschrittlichen Auffassung des Islam auseinander.

Von unserer Korrespondentin AZADEH KIAN *

In ihrem Büro des „Solidaritätsrats für den Frauensport in den muslimischen Ländern“, in einem der besseren Viertel von Teheran, sitzt Faezeh Rafsandschani. Die Vorsitzende des Solidaritätsrates trägt Jeans und einen schwarzen Tschador und beginnt zu schimpfen: „Was ist denn der Unterschied zwischen dem Amt des Staatspräsidenten und der Leitung einer Verwaltung? Überhaupt keiner. In beiden Fällen handelt es sich um maßgebliche Entscheidungsgewalt. Wenn also eine Frau eine Behörde leiten darf, warum soll sie das Land nicht führen dürfen?“

Der Zorn der couragierten jungen Abgeordneten, der jüngsten Tochter des Präsidenten der Islamischen Republik, hat seinen Grund: Die iranischen Traditionalisten wollen den Frauen verbieten, für das höchste Amt zu kandidieren. Faezeh Rafsandschani verweist auf die mehrdeutig formulierte Verfassung, die sich durchaus so auslegen lasse, daß auch Frauen die Präsidentschaft anstreben können. In Artikel 115 steht unter den Kriterien für eine Kandidatur auch der Begriff „radschol“, der einerseits „Mann“ bedeutet, andererseits auch eine angesehene Persönlichkeit bezeichnen kann. Die Worte – und in der Folge die Auslegung der Koranverse, der islamischen Gesetze und Traditionen – sind längst zum Objekt der politischen Auseinandersetzung geworden.

Wie viele Iranerinnen, die auf den Fortschritt setzen, wendet sich auch Faezeh Rafsandschani gegen die engstirnige Lesart der islamischen Glaubensregeln, wie sie von den geistlichen und politischen Führern vertreten wird. Sie fordert eine Neuinterpretation: „Es liegt nicht am Islam, daß Frauen nicht in den Richterstand eintreten dürfen, sondern an der Art, wie die Geistlichkeit die Koranvorschriften interpretiert.“ Außer besagtem Gesetz über das männliche Richtermonopol kritisiert sie vor allem die Formulierungen der Verfassungsartikel 107 und 163, die (dieses Mal in unzweideutiger Weise) den Männern das Recht auf die religiöse und rechtliche Führung der Gesellschaft vorbehalten.

Schahla Scherkat, Chefredakteurin des Frauenmagazins Zanan („Die Frauen“), formuliert ihre Vorstellungen von einer feministischen Lesart des Islam noch deutlicher und fordert nicht weniger als eine Reform der religiösen Denkweisen: „Angesichts der Schwierigkeiten, denen sich die Frauen gegenübersehen, brauchen wir eine grundlegende Veränderung der Gesetze. Da sich zahlreiche Bestimmungen des Zivilrechts auf die Scharia gründen, muß diese unbedingt neu interpretiert werden, und zwar unter Mitwirkung der Frauen.“ Schahla Scherkat beruft sich dabei auf Abd al-Karim Sorusch, einen Religionsgelehrten, der in der Zeit nach der Revolution großen Einfluß ausübte und wegen seiner fortschrittlichen Auffassungen als der „Luther des iranischen Islam“ bezeichnet wurde: „Es gibt islamische Intellektuelle, die sich mit dieser Frage sehr ausführlich beschäftigt und Wege zur Weiterentwicklung des religiösen Denkens aufgezeigt haben. Sollten sich ihre Ansichten durchsetzen, wird sich das zweifellos auf die Lage der Frauen auswirken. Wir sind der Überzeugung, daß jede historische Epoche ihre eigene Auffassung vom Glauben hervorbringt und daß die Religionswissenschaft dem Rechnung tragen muß.“

Den Islam neu interpretieren

IM November und Dezember 1992, knapp zehn Monate nach Erscheinen der ersten Ausgabe, veröffentlichte Zanan eine Reihe von Artikeln, in denen dargelegt wurde, daß der Koran den Frauen nicht untersage, religiöse Edikte (Fatwas) zu erlassen, und daß es ihnen darum gestattet sei, die religiöse, juristische und politische Führung der Gesellschaft zu übernehmen. Ma'sumeh Ebtekar und Mahbubeh Ommi, Redakteurinnen der Frauenzeitschrift Farzaneh, betonen den Unterschied zwischen dem Islam und den patriarchalischen Traditionen, auf denen eine Reihe von gesetzlichen Bestimmungen aufbaut. Sie fordern deshalb von den islamischen Reformern, diese Passagen aus den Gesetzestexten zu streichen, da sie nicht authentisch seien. Die beiden Frauen gehören zu einer neuen Schule des Islamstudiums, die sich aus der Revolution entwickelt hat. Sie bemühen sich um eine Anpassung der Religion an eine soziale Wirklichkeit, in der Frauen eine aktive Rolle in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft spielen.

Auch nichtreligiöse Intellektuelle sind sich einig, daß die Islamische Revolution die Stellung der Frauen in den traditionellen Milieus verbessert hat. „Heute gibt es viele Frauen, die aus traditionsverbundenen Familien kommen und doch studieren und am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen“, meint Nahid Mussavi, eine Journalistin. „Sie möchten ihre Rechtsstellung verbessern. Aber wenn man den Koran eng auslegt, dann dürfen sie ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes oder ihres Vaters nicht aus dem Haus gehen. Und wenn sie einem Mann begegnen, der nicht zur Familie gehört, müssen sie sich einen Kieselstein unter die Zunge legen, um ihre Worte unverständlich zu machen. Daß es heute zehn weibliche Abgeordnete im Parlament gibt, die sich zum Islam bekennen, aber ohne Kiesel unter der Zunge zu den Männern sprechen, beweist doch, daß diese Frauen trotz aller Rückentwicklungen seit der Revolution beträchtliche Fortschritte gemacht haben.“

Tatsächlich wurde die Bewußtwerdung der islamistischen Frauen, die sich aus der engen Welt traditioneller Wertvorstellungen gelöst haben, durch die Entstehung einer religiösen Autokratie provoziert, die das Familienrecht im Geiste der Religionsgesetze neu formulierte: Nun wurde das Tragen des Schleiers obligatorisch, das Recht auf Scheidung und das Sorgerecht geschiedener Frauen für die Kinder wurden eingeschränkt, das Mindestalter für die Verheiratung von Mädchen wurde zunächst auf dreizehn, dann auf zehn Jahre herabgesetzt, Polygamie wurde erlaubt, die Frau hatte sich dem Willen und den Wünschen des Ehemanns zu fügen, und Frauen durften keine Stellung mehr bekleiden, die Urteilsvermögen und Entscheidungsfähigkeit erfordert.

Die Frauen verloren also bürgerliche Rechte, aber erstaunlicherweise blieben ihnen die politischen Bürgerrechte, die sie 1963 unter der Herrschaft des Schahs erhalten hatten. Bald nach Inkrafttreten des neuen Zivilrechts wurde der private wie der öffentliche Sektor von allen nichtreligiösen Inhabern von Posten und Ämtern „gesäubert“, die nicht bereit waren, sich den Forderungen der Islamisten zu unterwerfen. Während des irakisch-iranischen Krieges (1980-1988) leisteten die islamistischen Frauen einen erheblichen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen, doch ihre soziale Rolle wollte der Staat nicht anerkennen: Offiziell blieben sie ausschließlich Ehefrauen und Mütter.

Nach und nach begriffen immer mehr Frauen, die sich zu Beginn der Revolution am Kampf gegen die Vertreter des Laizismus beteiligt hatten, daß die rückschrittliche Politik sich gegen alle Frauen richtete, egal, welche Überzeugungen sie vertraten. Sie waren in der Revolution politisch aktiv gewesen, nun engagierten sie sich im Kampf gegen die Geschlechtertrennung. Eine von ihnen, die sich als „islamische Feministin“ bezeichnet, aber ihren Namen nicht nennen will, beschreibt diese Bewußtwerdung so: „Die Rechte wurden eingeschränkt, sogar die revolutionären [islamistischen] Frauen wurden aus der Öffentlichkeit verdrängt. Die Machthaber hatten uns nur für die Demonstrationen gebraucht, doch kaum hatte die Revolution gesiegt, wollten sie uns wieder an den Herd schicken. Mir ist dabei klargeworden, daß der Kampf für die soziale Umwälzung seinen Sinn verliert, wenn dabei die Rechte der Frauen auf der Strecke bleiben. Deshalb engagiere ich mich jetzt für die Verteidigung der Frauenrechte.“

Solange der Krieg andauerte, konnte er zur Erklärung aller Mißstände herhalten. Nach seinem Ende, in der sogenannten Wiederaufbauperiode1 , sah sich die Staatsführung jedoch zur Neubestimmung mancher Ziele gezwungen, um der sozialen, wirtschaftlichen und demographischen Realität gerecht zu werden. So erwies sich die Senkung der Geburtenrate (eine der höchsten in der Welt) als wichtige Aufgabe im Kampf gegen die Wirtschaftskrise: Dem Staat fehlten die Mittel, um seinen Pflichten gegenüber der jungen, unter dem islamischen Regime aufwachsenden Generation nachzukommen.

Obwohl der Islam den großen Wert von Nachkommen betont und Kinderreichtum auch in der iranischen Kulturtradition zum Ansehen einer Familie beiträgt, wurde 1988 die Familienplanung wieder eingeführt. Zugleich wechselte die Stimmung in der Gesellschaft: Waren während des Krieges gegen den Irak religiöse Hingabe und Opferbereitschaft zwangsläufig die höchsten Tugenden gewesen, so begünstigte das Kriegsende die Artikulation von neuen Ansprüchen. Auf den Druck aus der Gesellschaft reagierte die Regierung unter anderem mit einer gewissen Liberalisierung der Presse, und die Modernisierungsfraktion unter den islamistischen Frauen nutzte die Chance, um eine Reihe von Zeitschriften herauszubringen, in denen die Unzufriedenheit der weiblichen Bevölkerung Ausdruck finden konnte. Inzwischen zeichnet sich, trotz aller Divergenzen, zwischen diesen modernen islamistischen und den engagierten nichtreligiösen Frauen eine Solidarität ab, die eine Zusammenarbeit denkbar erscheinen läßt.

„Es ist uns klar, daß die weltlich orientierten Frauen unsere Überzeugungen nicht teilen“, erklärt Mahbubeh Ommi von der Zeitschrift Farzaneh, „aber das ist kein Problem, denn wir treten alle gemeinsam dafür ein, die Stellung der Frauen in der Gesellschaft zu verbessern. Wir islamischen Frauen stehen nicht mehr auf dem Standpunkt, daß nur wir ein Anrecht auf die Errungenschaften der Revolution haben. Unser Sektierertum in den ersten Jahren hat dazu geführt, daß viele kompetente Frauen ausgeschlossen blieben, und das war zum Schaden aller Frauen.“ Den gleichen Ton stimmt auch Schahla Scherkat an, die Chefredakteurin von Zanan: „Wir müssen Toleranz üben und die Überzeugungen der anderen respektieren. Trotz aller Unterschiede im Denken, im Glauben, in der Weltanschauung: wir können und müssen zusammenarbeiten.“

Trotz verbaler und manchmal auch körperlicher Angriffe von seiten der Traditionalisten hören diese Frauen nicht auf, die Interpretationen der Geistlichkeit in Frage zu stellen, und zwar hinsichtlich von Koranversen wie von Gesetzen. Inzwischen sind ihre Fragen auch in den heiligen Städten angekommen: Sogar die islamische Rechtsschule von Ghom setzt sich mit dem Thema auseinander, wie die Frauenzeitschrift Payam-e Zan dokumentiert. Die Grundsatzdiskussion weitet sich aus, und damit gewinnt auch der Kampf gegen die Geschlechtertrennung an Bedeutung.

Das läßt sich nicht nur an den laufenden Diskussionen in den Frauenzeitschriften ablesen, sondern auch an den Positionen, die bei den Parlamentswahlen im März und April dieses Jahres bezogen wurden. Zahlreiche Kandidatinnen kritisierten die Bestimmungen des Zivilrechts und beklagten, daß die Frauen in den Führungspositionen der Wirtschaft und Verwaltung unterrepräsentiert seien. Unter den Frauen, die sich zur Wahl stellten, gab es eine Reihe von technokratisch orientierten Islamistinnen, die im Gegensatz zu den Traditionalisten (Männern wie Frauen) auf eine Öffnung des Iran zur Welt hinarbeiten. Diese Frauen, die ein Universitätsstudium im Iran oder im Ausland absolviert haben und meist auch Englisch sprechen, vertreten eine moderne Auffassung des Islam, die den sozialen, politischen und kulturellen Wandel berücksichtigt, der das Land erschüttert.

Die junge Abgeordnete Marsieh Seddiqi, die ihren Parlamentssitz in Meschhed, der zweitgrößten Stadt des Landes, errungen hat, ist eine solche islamistische Technokratin. Sie leitet ein international tätiges Speditionsunternehmen und gehört zu den Gründerinnen des „Büros für Frauenangelegenheiten“, das 1992 geschaffen wurde, um „Probleme und Defizite aufzuzeigen und Lösungen für die Stärkung der Stellung der Frau in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Hinsicht vorzuschlagen.“ Innerhalb von vier Jahren ist es der Organisation bereits gelungen, die Änderung verschiedener Paragraphen des Familienrechts zu bewirken und auf diese Weise verheiratete und geschiedene Frauen besser zu schützen. Selbst diese bescheidenen Reformen werden allerdings in der Praxis nicht umgesetzt. Aber die Verfügung, daß Frauen keine verantwortlichen Posten im Staatsapparat bekleiden dürfen, wurde aufgehoben, und seit kurzem dürfen Rechtsberaterinnen vor Gericht auftreten. Im Januar 1996 wurde erstmals eine Frau zur stellvertretenden Ministerin (für das Gesundheitswesen) ernannt.

Kampf fürs Radfahren

MARSIEH Seddiqi ist überzeugt, daß „demnächst weitere derartige Posten mit Frauen besetzt werden. Im nächsten Kabinett wird sehr wahrscheinlich eine Frau ein Ministerium übernehmen.“ Das Richteramt bleibt den Frauen allerdings weiterhin verwehrt, und in den Führungsebenen von Politik und Verwaltung sind sie nach wie vor spärlich vertreten. Trotz einer großen Mobilisierungskampagne der islamistischen Frauen bei den Parlamentswahlen wurde vielen Bewerberinnen vom Wächterrat (Schora-ye Negahban), einem religiösen Kontrollorgan, die Zulassung verweigert.

So wurden die Wahlergebnisse einiger Provinzstädte, darunter auch Isfahan, die drittgrößte Stadt des Landes, und Malayer, wo Frauen bereits im ersten Wahlgang eine Mehrheit errungen hatten, ohne erkenntlichen Grund annulliert. Infolgedessen gehören auch dem fünften Parlament der Islamischen Republik lediglich zehn Frauen oder 4 Prozent der Abgeordneten an.

Kein Wunder also, daß den nichtreligiösen Frauen die schwachen Ansätze zu einer positiven Entwicklung nicht genügen, um ihr Mißtrauen gegenüber den Machthabern zu zerstreuen und ihnen das Gefühl von Angst und Unsicherheit zu nehmen. Schließlich richten sich auch die neuerdings wieder populären Kampagnen gegen die „Invasion der westlichen Kultur und ihre Mittelsmänner auf islamischem Boden“ in erster Linie gegen die weltlich orientierten Schichten, deren Lebensstil und deren Vorstellungen als Inbegriff „westlicher Dekadenz“ gelten. Diese Auseinandersetzung, die auch die Unfähigkeit des Staates zum Übergang in eine postislamische Gesellschaft ausdrückt, wird noch verschärft durch die wachsende Anzahl „ungenügend verschleierter“ Frauen.

Obwohl bei Zuwiderhandlung sogar Gefängnisstrafen verhängt werden können, hat der Schleierzwang nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. Vor allem die jungen Frauen, die ja unter dem Regime der Islamisten aufgewachsen sind, geben ihre Mißachtung zu erkennen, indem sie ein paar Locken hervorschauen lassen, sich schminken oder modisch kleiden.

Daß die langen, dunklen Gewänder, die im Alltagsleben auch noch sehr unpraktisch sind, so ungern getragen werden, hat die Organisation für islamische Propaganda auf neue Ideen gebracht: Im Februar 1993 führte sie auf einer Art Modenschau Kleider aus farbigen und lebhaft gemusterten Stoffen vor, und den traditionellen Schleier ersetzte sie durch bunte Seidenschals, wie sie die Bäuerinnen und die Frauen mancher Stämme tragen. Es wirkte wie eine Referenz an den bekannten Film „Gabbeh“.2

Während diese Modeausstellung von den Hütern der Tradition heftig kritisiert wurde, wandten sich einige fortschrittliche Islamistinnen wie Schahla Habibi, die Vorsitzende des Büros für Frauenangelegenheiten, öffentlich gegen den Zwang zum Tschador, wobei sie auf andere Formen des Schleiers verwies. Als die Zeitschrift Zanan ein Titelfoto brachte, das eine bekannte Regisseurin kaum verschleiert und mit einer Ray-Ban-Sonnenbrille zeigte, war die Nachfrage nach dieser Nummer so groß, daß das Magazin erstmals seit Bestehen eine zweite Auflage drucken mußte.

Diese und andere Erscheinungen schüren die Empörung der Traditionalisten: Neuerdings wollen sie den Frauen die Ausübung bestimmter Sportarten, wie Reiten oder Radfahren, in der Öffentlichkeit verbieten, weil dabei der korrekte Sitz des Schleiers nicht gesichert sei.3 „Daß Frauen radfahren, verstößt weder gegen die Sitten noch gegen das Gesetz“, meint Faezeh Rafsandschani. „Nur weil gerade die Parlamentswahlen liefen, hat man das Thema aufgebläht und versucht, es politisch auszuschlachten. Aber das hat nur dazu geführt, daß sich die Frauen jetzt ganz besonders fürs Radfahren interessieren.“ Wie immer, wenn sie den Angriffen der Traditionalisten ausgesetzt sind, nutzen die Frauen jeden Anlaß, um ihre Sache voranzubringen.

Bei der Jugend hat sich die Tochter des Präsidenten Haschemi Rafsandschani große Anerkennung erworben, weil sie im Radfahrstreit so deutlich Partei ergriffen hat. Die Integristen dagegen wählten sie zur Zielscheibe und attackierten sie mit zahlreichen Artikeln und bösartigen Karikaturen in ihren Zeitungen.

Der Kampf der Frauen findet längst nicht mehr nur unter Intellektuellen Beachtung. Inzwischen ist die ganze Gesellschaft angesteckt, überall wird die Frauenfrage diskutiert, auf der Straße und in den Familien. Zwar verkünden die konservativen Islamisten ganz offen, daß diese Bewegung unterdrückt werden müsse, doch die Herausbildung einer neuen weiblichen Identität in der iranischen Gesellschaft ist nicht aufzuhalten.

Viele Iranerinnen, ob religiös oder weltlich orientiert, haben genug von der verordneten Ungleichheit und fordern ein neues, zeitgemäßes Verständnis des Islam. Damit werden sie zu Vorkämpferinnen einer gesellschaftlichen Erneuerung, die sich nicht auf die Frage der Geschlechterrollen beschränken kann. Wenn der Islam als politisches System an seine Grenzen stößt und der Graben zwischen dem Staat und der Gesellschaft ständig breiter wird, gibt es nur einen Weg, um den endgültigen Bruch zu vermeiden: eine Erneuerung des religiösen Denkens und die Öffnung der Religion zur Moderne.

dt. Edgar Peinelt

* Mitglied der Forschungsgruppe „Iranische Welt“ am Nationalen Forschungszentrum (CNRS), Paris.

Fußnoten: 1 Siehe Eric Rouleau, „Iran: Die zivile Gesellschaft formiert sich“, Le Monde diplomatique, Juni 1995. 2 Dieser Film, ein neueres Werk des Regisseurs Mohsen Machmalbaf, zeigt eine breite Auswahl solcher farbiger Stoffe, ein Gegenbild zum Schwarz, der Lieblingsfarbe der Integristen. Der Film „Gabbeh“ ist eine Hymne an die Farben, und er zeugt zugleich vom leidenschaftlichen Wunsch der Menschen im Iran nach einer Gesellschaft, die mehr Freude zuläßt. 3 Sobh, Teheran, Juli 1996, S. 12.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von AZADEH KIAN