15.11.1996

Frieden statt Demokratie

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Frieden statt Demokratie

Selbst wenn für Hebron ein Kompromiß gefunden werden sollte: Es bleibt dabei, daß die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu weder Geist noch Buchstaben der Verträge von Oslo zu respektieren bereit ist. Der französische Staatspräsident Jacques Chirac hat kürzlich bei seinem Besuch in Israel noch einmal nachdrücklich daran erinnert: Die Voraussetzung, um die dringend gebotenen Fortschritte auf dem Weg zu einer dauerhaften Lösung für die Region zu erreichen, sind die Beendigung der jüdischen Siedlungsprogramme, die Anerkennung des Prinzips „Land gegen Frieden“ und die Schaffung eines unabhängigen Palästinenserstaats. Chirac hat sich aber auch für ein stärkeres Engagement der Europäer eingesetzt, zumal die US-amerikanische Politik seit Beginn des Jahres durch immer neue Mißerfolge und Rückschläge gekennzeichnet war. Washington hat sich zu deutlich auf die israelischen Standpunkte festgelegt, um als unparteiischer Vermittler gelten zu können. Knapp sechs Jahre nach dem Golfkrieg herrschen im Nahen Osten noch immer keine stabilen Verhältnisse. Kämpfe in Kurdistan, wachsende Opposition in den Monarchien am Golf, festgefahrene Verhandlungen zwischen Syrien und Israel — all dies signalisiert die Brüchigkeit der amerikanischen Ordnung.

Von ALAIN GRESH

ALS ein Jahr des Friedens wird 1996 nicht in die Geschichte des Nahen Ostens eingehen, erst recht nicht als ein Jahr der Stabilität. Die blutigen Auseinandersetzungen in der Region wollen kein Ende nehmen. Zunächst die heftigen Kämpfe in Kurdistan, in die, direkt oder indirekt, der Irak, der Iran, die Türkei und die Vereinigten Staaten verwickelt waren; in Bahrain dauern die Aufstände nun schon zwei Jahre an. In Saudi-Arabien fielen im Juni zwanzig amerikanische Soldaten einem Attentat zum Opfer, im August gab es Brotaufstände in Jordanien, einem Land, wo man gehofft hatte, schon bald die Früchte des Friedens ernten zu können. Im September kam es im Westjordanland, in Gaza und in Jerusalem zu blutigen Auseinandersetzungen palästinensischer Demonstranten und Polizisten mit israelischen Soldaten. In Ägypten setzen sich die bewaffneten Aktionen der Islamisten fort, trotz einer Verhaftungswelle, die Zehntausende in die Gefängnisse gebracht hat. Von den israelischen Angriffen auf den Südlibanon im Frühjahr ganz zu schweigen.

Es ist noch keine sechs Jahre her, daß die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, nach ihrem militärischen Schlag gegen den Irak, eine neue Ordnung in der Region ankündigten. Damals mißtrauten nur wenige Beobachter dem idyllischen Bild von einem frohgemuten Feldzug ohne nennenswerte Verluste – wenn man von einigen zehntausend Irakern absieht, die aber niemanden interessierten.

Für eine abschließende Bewertung mag es noch zu früh sein, aber schon heute, fünf Jahre danach, läßt sich abschätzen, in welchem Maße und wie nachhaltig sich dieses militärische Abenteuer destabilisierend auf die gesamte Großregion ausgewirkt hat, von der Türkei bis zum Sudan, vom persisch-arabischen Golf bis nach Palästina. Den gefährlichen Prozeß der Desintegration, der damit ausgelöst wurde, hat auch die Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung von Israelis und Palästinensern in Washington am 13. September 1993 nicht aufhalten können.

Es wäre nicht das erste Mal, daß ein westlicher Kreuzzug unter dem hochfahrenden Banner von Recht und Gerechtigkeit sich sofort oder Jahrzehnte später gegen seine Anstifter kehrt. Im November 1956 marschierten Frankreich und Großbritannien in Ägypten ein, um gegen die Verstaatlichung des Sueskanals durch Gamal Abdel Nasser vorzugehen. Die beiden Westmächte erhielten umgehend die Quittung für ihr erbärmliches kolonialistisches Gebaren: Sie verloren jeden Einfluß im Nahen Osten, zum Vorteil der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten. Wenige Jahre zuvor, 1953, hatten die USA für den Sturz der iranischen Regierung von Mohammed Mossadegh gesorgt, weil dieser es gewagt hatte, die Erdölindustrie zu verstaatlichen. Sie brachten den längst diskreditierten Schah auf den Thron zurück, der sein politisches Überleben nur einer gnadenlosen Unterdrückung verdankte. 26 Jahre später wurde er von der islamistischen Revolution hinweggefegt, und mit ihm der Einfluß der Amerikaner im Iran.

„Für alles, was sie ihrem eigenen Volk, den Kuwaitern und der Welt angetan haben, werden sich Saddam Hussein und seine Gefolgschaft verantworten müssen.“ Soweit die großspurige Erklärung von US-Präsident Bush in seiner „Siegesrede“ vor dem US-amerikanischen Kongreß am 6. März 1991. Aber 70 Monate danach sind es noch immer die Menschen im Irak, die unter der gnadenlosen Diktatur der Baathisten und unter den Folgen des verbrecherischen Embargos leiden, das von Washington verhängt wurde. Während Folterungen und Verhaftungen nicht abreißen, sterben Tausende Kinder wegen fehlender Medikamente. Inzwischen ist die Unterernährung von Kleinkindern ähnlich gravierend wie in manchen Ländern der Sahelzone. Die Kriminalitätsrate soll um 50 Prozent gestiegen sein. Kürzlich berichtete die irakische Presse über zwei junge Männer, die ihren 72jährigen Nachbarn, einen im ganzen Viertel geachteten Mann, erdrosselten, um sich Geld für Pässe zu verschaffen und damit einem Leben ohne Hoffnung zu entfliehen.1 Das soziale Gefüge des Irak wird von Tag zu Tag brüchiger, und zugleich wachsen die Gegensätze zwischen dem schiitischen Süden, dem sunnitischen Zentrum und dem kurdischen Norden des Landes.

Wie in der Natur gilt auch in der Geopolitik der horror vacui, und so könnte ein Zerfall des Irak die Konflikte in der Region in einer Weise anfachen, daß das blutige Tauziehen um Kurdistan wie ein harmloses Vorspiel erscheint. Die „Sicherheitszone“ im Nordirak, die von den Alliierten nach ihrem Sieg als Schutz gegen das Regime in Bagdad eingerichtet wurde, ist bereits zum Schauplatz von militärischen Auseinandersetzungen geworden, und weder die Türkei noch der Iran schrecken davor zurück, mit ihren Truppen in die Machtkämpfe zwischen der Demokratischen Partei Kurdistans von Massud Barzani und der Patriotischen Union Kurdistans von Dschalal Talabani einzugreifen. Ankara versucht außerdem, sich auf irakischem Gebiet eine eigene „Sicherheitszone“ zu schaffen, um das Eindringen von Kämpfern der PKK zu stoppen. Der Kurdischen Arbeiterpartei ist es nach dem Ende des Golfkriegs gelungen, Stützpunkte im Nordirak einzurichten und ihre Aktivitäten so zu verstärken, daß sie der Türkei als Bedrohung der staatlichen Einheit gelten. Als Opfer einer Politik der verbrannten Erde fliehen Hunderttausende in der Region vor den Kämpfen. Sie werden von den Kriegsherren nach Belieben von Haus und Hof verjagt, während die Westmächte teilnahmslos zusehen.

Im Süden zahlen die Länder rund um den Golf den Preis für den Konflikt von 1990/91. Nach wie vor ist das Erdöl der entscheidende Faktor. Ein neuerer Bericht der Trilateralen Kommission zeigt, daß die Länder des Nahen Ostens (einschließlich des Iran) ihren Anteil an den weltweiten Ölexporten konsequent erweitern: Nachdem die Quote von 60,2 Prozent (1974) zunächst auf 38 Prozent (1985) gesunken war, lag sie trotz des Embargos gegen den Irak 1995 bereits wieder bei 46,1 Prozent und dürfte bis zum Jahr 2010 erneut 60 Prozent erreichen.2 So rechtfertigte der amerikanische Verteidigungsminister William Perry am 3. September 1996 die Bombenangriffe auf den Irak mit der Bemerkung: „Es geht nicht nur um den Angriff der Iraker auf Irbil (...), sondern darum, daß Saddam Hussein eine eindeutige und akute Gefahr für die Nachbarländer, für die Stabilität und Sicherheit der Region und für die weltweite Ölversorgung darstellt.“3 Wie der irakische Überfall auf Kuwait gezeigt hat, sind die Monarchien am Golf, die über wenig Rückhalt in der Bevölkerung verfügen, tatsächlich nicht in der Lage, ihr Überleben zu sichern und ihre Staaten zu verteidigen, trotz der Milliarden Dollar, die sie für modernste Waffensysteme ausgeben.

Ausgeträumt der Traum von Oslo

ZUM ersten Mal seit 1971, als sich die britischen Verbände aus allen Stützpunkten östlich von Sues zurückzogen, liegt die Sicherheit in dieser entscheidenden Region wieder in der Hand ausländischer Truppen – eine Art verdeckter Rekolonisierung. Die Stationierung amerikanischer Soldaten hat oppositionellen Gruppierungen Auftrieb gegeben, deren Empörung sich gegen die Unfähigkeit und Korruption der Führungsschichten richtet, gegen das unsinnige Leiden der irakischen Bevölkerung sowie nicht zuletzt gegen die Tatsache, daß Washington immer aufs neue für Israel Partei ergreift. In Saudi- Arabien, wo mit Mekka und Medina die beiden heiligen Städte des Islam stehen, haben geistliche Würdenträger die Stationierung von „Truppen der Ungläubigen“ auf heiligem Boden verurteilt. Der schwere Anschlag auf einen US-Militärstützpunkt in Dahran am 25. Juni dieses Jahres hat deutlich gemacht, wie sehr sich die Stimmung radikalisiert hat. Inzwischen ist die Feindseligkeit gegen Amerika so stark gewachsen, daß sich die Staatsführer auf der arabischen Halbinsel bei verschiedenen Anlässen gezwungen sahen, zu Washington auf Distanz zu gehen – insbesondere waren sie nicht bereit, die jüngsten Luftangriffe auf den Irak gutzuheißen. Saudi-Arabien weigerte sich sogar, seine Luftwaffenstützpunkte für diese Operation zur Verfügung zu stellen.

Aber hat der Golfkrieg nicht wenigstens den ersten Anstoß zu den Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern gegeben? Angesichts der schwachen Position der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, die durch ihre Parteinahme für Saddam Hussein noch verstärkt worden war, hatten die USA zunächst versucht, sie von den Verhandlungen auszuschließen. An den arabisch-israelischen Verhandlungen in Madrid, die am 30. Oktober 1991 begannen, nahmen nur Vertreter der Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen teil, und zwar als Mitglieder der jordanischen Delegation. Als diese Verhandlungen zu scheitern drohten, ließ sich die israelische Regierung zu „Geheimkontakten“ mit der PLO bewegen, aber die politischen Kräfteverhältnisse und das Ungeschick der palästinensischen Führung erlaubten es dem israelischen Ministerpräsidenten Rabin, harte Bedingungen zu diktieren.

So erkannte die PLO schließlich den Staat Israel an, dieser jedoch nicht das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat. Mehr noch: „Sämtliche UNO-Resolutionen bezüglich Palästinas, ob sie sich auf das Land, die Bodenrechte oder die Bevölkerung bezogen, wurden übergangen; selbst von der Resolution 181 [vom 29. November 1947; sie forderte die Aufteilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat] war nicht mehr die Rede.“4

Dennoch wurden große Hoffnungen wach, als Jitzhak Rabin und Jassir Arafat am 13. September 1993 in Washington das Abkommen von Oslo unterzeichneten. Der Vertragstext war zwar sehr vage und ließ viel Raum für Interpretationen, aber man konnte darauf hoffen, daß er eine Dynamik in Gang setzen würde, die die Anerkennung der nationalen Ansprüche der Palästinenser sowie des israelischen Rechts auf Frieden und Sicherheit zum Ausgangspunkt machte. Wie die schweren Zwischenfälle im September 1996 zeigen, ist nichts davon eingetroffen. Der ständig sinkende Lebensstandard der Palästinenser, die systematische, oft monatelange Abriegelung der „autonomen“ Gebiete nach jedem Anschlag und die gleichzeitige Fortsetzung der Siedlungspolitik haben die Gemüter erhitzt (siehe den Artikel von Geoffrey Aronson auf den Seiten 8 und 9). Für die palästinensische Bevölkerung ist der Alltag schlichtweg unerträglich geworden. In Gaza und im Westjordanland können weder Menschen noch Waren zirkulieren. Die Mehrheit ist arbeitslos, und an den israelischen Kontrollpunkten verrotten die Agrarprodukte. Kinder sind gestorben, weil sie nicht ins Krankenhaus gebracht werden konnten, die Studenten werden häufig am Universitätsbesuch gehindert.

Khalil erzählt, wie es seinem Bruder ergangen ist, der in Gaza lebte: „Als die palästinensische Behörde geschaffen worden war, dachte Ramiz, das Land sei befreit. Er träumte von einem neuen Leben, einem Paradies. Er war überzeugt, daß unser Volk seine Rechte erkämpft hatte. Für ihn wie für viele andere gab es ein böses Erwachen, als er begreifen mußte, daß das Land immer noch besetzt war, die Siedlungen nicht verschwanden und sein Bruder – ich – immer noch im Gefängnis saß. Ramiz war ein ganz normaler Mensch, keiner von denen, die gleich zu den Waffen greifen; er ging Konflikten lieber aus dem Weg.“5 Am 4. März 1996 sprengte sich Ramiz in einem Geschäftsviertel von Tel Aviv selbst in die Luft und nahm fünfzehn Menschen mit in den Tod.

Die israelische Regierung weigert sich standhaft, zahlreiche der von ihr eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen: die sichere Straßenverbindung zwischen Gaza und Jericho, die Freilassung der politischen Gefangenen, der Rückzug der Armee aus Hebron im März, der erneute Truppenrückzug aus dem Westjordanland im September und so weiter.6 Zudem ist das ohnehin sehr einseitige Wirtschaftsabkommen durch die wiederholte Abriegelung der Gebiete wirkungslos geblieben. In jeder Phase der Vertragsumsetzung hat der jüdische Staat auf seinen Prioritäten beharrt und restriktive Sicherheitsprämissen durchgesetzt, die nur für seine eigenen Bürger gelten. Dabei konnte sich Israel der uneingeschränkten Unterstützung der Vereinigten Staaten sicher sein, deren Politik durch Blindheit und Arroganz geprägt ist, seit der Golfkrieg sie in ihrer Rolle als einzige Supermacht im Nahen Osten bestätigt hat.

Um zu einem endgültigen Vertrag zu kommen, waren Jassir Arafat und die Palästinensische Befreiungsorganisation dennoch zu weiteren Zugeständnissen bereit. Jossi Beilin, ehemaliger Minister der Arbeitspartei und einer der Architekten der Verträge von Oslo, hat kürzlich eingeräumt: „Die Übereinstimmung innerhalb Israels [zwischen der Rechten und der Arbeitspartei] und zwischen Israelis und Palästinensern [das heißt der PLO-Führung] ist viel größer, als es scheint. Es wäre ein Vertrag über den endgültigen Status [des Westjordanlands und des Gazastreifens] möglich, der die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels einschließt, von der Forderung nach einem Rückzug auf die Grenzen von 1967 absieht und keine Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge in das Gebiet des souveränen Staates Israel verlangt, in dem die Mehrheit der Siedler leben wird. Keine einzige Siedlung wird aufgegeben.“7 Es wäre nicht nur ein Widerspruch zu den UNO-Resolutionen der letzten dreißig Jahre, einen palästinensischen Staat auf zwei Dritteln des Westjordanlands und in Gaza zu schaffen, auch wirtschaftlich und politisch hätte das Projekt kaum eine Überlebenschance. Und die Millionen palästinensischer Flüchtlinge irren weiterhin zwischen Libanon, Syrien und Jordanien umher, auf der Suche nach ihren Rechten. Wer würde sich ihrer annehmen? Und wer könnte sie vom Weg der Gewalt abbringen?

Aber seit dem Amtsantritt von Benjamin Netanjahu, der seinen Wahlsieg nur ein paar tausend Stimmen und seinem Versprechen verdankte, die Verträge von Oslo umzusetzen, ist selbst eine solche Lösung unwahrscheinlich geworden. Der neue Premierminister bleibt ein Gefangener seiner Ideologie (siehe den Artikel von Dominique Vidal auf Seite 9). Er würde nicht den kleinsten Flecken souveränen palästinensischen Gebiets zulassen – eine Möglichkeit, die Jitzhak Rabin im Unterschied zu Schimon Peres kurz vor seinem Tod offenbar erwogen hat. Seither hat der „Friedensprozeß“ jede Glaubwürdigkeit eingebüßt und ist zwangsläufig ins Stocken geraten. „Durchbruch zum Frieden“, „historische Versöhnung“? – „Die Verträge von Oslo (...) waren und sind nichts von alledem“, meint Patrice Claude in Le Monde, in einem Beitrag mit dem Titel „Das Ende des Traums von Oslo“. „Das wurde bloß anvisiert – ein feiner Unterschied.“8 Diese Entwicklung bedeutet vor allem ein Scheitern der amerikanischen Politik, die 1996 von Palästina bis Irak nur immer neue Mißerfolge hinnehmen mußte.9 Präsident Clinton wird sich nach seiner Wiederwahl diesen Problemen stellen müssen, wenn er die Hegemonie der USA in der Region nicht gefährden will. Und die Angelegenheit drängt: Mangelnder Friede bedeutet im Nahen Osten immer das Vorspiel zu neuen Kriegen. An Israels Grenzen zu Syrien und dem Libanon ist das Säbelrasseln bereits zu vernehmen.

Nahostpolitik vor dem Zusammenbruch

KULMINATIONSPUNKT der verfahrenen Situation ist gegenwärtig die Stadt Hebron: 400 jüdische Siedler, die sich im Zentrum der Altstadt festgesetzt haben, nehmen die 120000 palästinensischen Einwohner gewissermaßen als Geiseln. Die Siedler verlassen sich auf den Schutz der israelischen Armee, die immer neue Straßensperren errichtet, Zugangswege absperrt und Geschäfte schließt. Ein israelischer Journalist beschreibt es so: „Um von einem Ende der Stadt zum anderen zu gelangen, etwa um den städtischen Friedhof zu besuchen, müssen die Araber einen Umweg von 2,5 Kilometern in Kauf nehmen. Eigentlich sind es nur 300 Meter. Diese Strecke dürfen sie nur zu Fuß zurücklegen, und dabei ist, nach Aussagen der Einwohner, mit ,unfreundlichen‘ Überprüfungen an den verschiedenen israelischen Kontrollpunkten zu rechnen.“10

Gemäß den Osloer Verträgen wird Israel auch nach dem Abzug seiner Besatzungstruppen, der schon im März dieses Jahres hätte erfolgen sollen, die Kontrolle über fast zwei Drittel der Stadt ausüben und 30000 Palästinenser direkt überwachen – einzig und allein, um eine Handvoll gefährliche Fanatiker zu schützen und ihre Verbindung zu den 6000 Bewohnern der nahe gelegenen Siedlung Kirjat Arba zu sichern. Selbst noch angesichts solcher Verhältnisse betont Noam Amon, der Sprecher der 400 Siedler – die im übrigen nie ohne Waffe unterwegs sind und immer häufiger provokant auftreten – die Kampfentschlossenheit der Gruppe: „Nehmen wir an, daß einige tausend Palästinenser eine Demonstration durchführen und von der islamischen Lehranstalt zu uns herüber marschieren (...), dann werden wir nicht in den Häusern bleiben und warten, bis sie da sind. Wir werden uns ihnen stellen und sie am weiteren Vordringen hindern (...). Ich bin sicher, sie werden uns angreifen, sobald die Truppen abgezogen sind.“11 Wie vieler palästinensischer Polizisten bedarf es wohl, um zu verhindern, daß irgendwo der Zündfunke geschlagen wird, der einen neuen Flächenbrand in Gaza und im Westjordanland auslöst?

Mit Rückendeckung aus Washington und Tel Aviv hat Jassir Arafat bereits eine beeindruckende Ordnungstruppe aufgestellt – mindestens 27000 Mann, für die fast ein Drittel der laufenden Kosten der Autonomiebehörde aufgewendet wird. Weder die Schaffung von Sondergerichten in Gaza, wo im übrigen der CIA einen Radiosender betreibt, noch die willkürlichen Verhaftungen und Folterungen haben die internationale Gemeinschaft zu ernsten Protesten veranlaßt.

Ende der achtziger Jahre, als die kommunistischen Regime zusammenbrachen und in den krisengeschüttelten Ländern eine Generation mit neuen Hoffnungen antrat, zeichnete sich auch im Maschreq und im Maghreb eine schwache Tendenz zu politischen Reformen ab: In Jordanien, im Jemen und in Ägypten, in einigen Golfstaaten und auch in Algerien und Tunesien gab man den bürgerlichen Freiheiten ein wenig mehr Raum. Der Golfkrieg jedoch sollte zu einer Diskreditierung der westlichen Auffassung von Menschenrechten führen, und die Durchsetzung eines von der Öffentlichkeit als ungerecht empfundenen Friedens blockierte weitere Schritte auf dem Weg zur Demokratie. In Jordanien griff König Hussein zur Durchsetzung seines Vertrags mit Israel auf die traditionellen autoritären Methoden zurück. In Ägypten hat Präsident Hosni Mubarak den Kampf gegen die Islamisten zum Vorwand genommen, die geringfügigen Liberalisierungen, die immer groß herausgestrichen worden waren, wieder rückgängig zu machen, und in Bahrain stößt die Volksbewegung, die seit zwei Jahren für die Wiedereinsetzung eines gewählten Parlaments streitet, auf eine undurchdringliche Mauer. „Frieden und Stabilität um jeden Preis“ lautet offenbar die Devise, selbst auf Kosten der Demokratie.

Die Konflikte mehren sich, der Frieden ist nicht gerecht, die Rechte der Individuen werden mißachtet: Die neue Ordnung, die der Golfkrieg hergestellt hat, wirkt eher wie eine große Unordnung. Während der Orient eine schwere Krise erlebt und, wie zur Zeit der Kreuzzüge, in seinem Kampf um Würde und Gerechtigkeit Zuflucht im Islam sucht, spielt der Westen seine beherrschende Rolle ohne Selbstzweifel. Die Kluft weitet sich, und beide Welten werden für dieses abgrundtiefe Unverständnis in der Zukunft vielleicht teuer bezahlen müssen.

Wie war das noch, in Gaza, als Simson seinem Leben ein Ende machte? Die Philister hatten ihn gefangengenommen; geblendet und wehrlos ließen sie ihn vorführen: „Dann umfaßte Simson die beiden Mittelsäulen, auf denen das Haus ruhte, die eine mit der rechten und die andre mit der linken Hand, und stemmte sich gegen sie; und indem Simson dachte: Sei's denn, daß ich mit den Philistern sterbe! neigte er sich mit aller Macht. Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war, so daß der Toten, die er in seinem Tod tötete, mehr waren als derer, die er in seinem Leben getötet hatte.“12

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 „Crime Engulfs Iraq“, International Herald Tribune, 21. Oktober 1996. 2 Zitiert nach Pétrole et gaz arabes, Paris, 1. Oktober 1996. 3 Zitiert nach Naseer H. Amri, „The war that never ends“, Middle East International, London, 20. September 1996. 4 Burhan Dajani, „An Alternative to Oslo?“, Journal of Palestine Studies, Washington, Nr. 100, Sommer 1996. 5 Zitiert nach Dick Doughty, „Listening in Gaza“, Journal of Palestine Studies, Washington, Nr. 100, Sommer 1996. 6 Ben Caspit, Maariv, 11. Oktober 1996, zitiert nach Mideast Mirror, London, 11. Oktober 1996. 7 Yediot Aharonot, Tel Aviv, 13. Oktober 1995, zitiert nach Mideast Mirror, London, 14. Oktober 1996. 8 Patrice Claude, „Israäl-Palestine: la destruction du rêve d'Oslo“, Le Monde, 19. Oktober 1996. 9 Alain Gresh, „USA – Weltmacht mit beschränkter Haftung“, Le Monde diplomatique, Juli 1996. 10 Edo Baum, Haaretz, 24. Juni 1996, abgedruckt in From the Hebrew Press, Woodbridge (USA), September 1996. 11 Yediot Aharonot, Tel Aviv, 17. Oktober 1996, zit. nach Mideast Mirror, London, 17. Oktober 1996. 12 Die Bibel, Altes Testament, Buch der Richter, 16.29f.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von ALAIN GRESH