15.11.1996

Irrweg Nafta

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Irrweg Nafta

MEXIKO hatte sich vom Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Nafta) erhofft, durch eine Liberalisierung des Handels stärker von der geographischen Nähe zu den Vereinigten Staaten zu profitieren. Vor allem zwei Vorteile hatte man sich davon versprochen: Die Mexikaner würden dadurch US-amerikanisches Getreide günstig erwerben und ihr eigenes Obst und Gemüse auf den einträglichen Märkten nördlich des Rio Grande anbieten können.

Zu der Zeit, als der Vertrag ausgehandelt wurde, subventionierte Mexiko sowohl die Produktion als auch den Verbrauch von Grundnahrungsmitteln wie Mais und Bohnen. Präsident Carlos Salinas de Gortari, Harvard-Absolvent und entschiedener Verfechter der Strukturanpassungspolitik, hatte nach seiner Amtsübernahme im Jahre 1988 umgehend die Einfuhrlizenzen sowie die Zollgebühren auf Weizen, Sorghum und Reis einseitig aufgehoben und lediglich den Schutz für die wirtschaftlich sensibelsten mexikanischen Erzeugnisse, nämlich Mais und Bohnen, beibehalten. Gleichzeitig förderte er verstärkt den Anbau insbesondere von Grüngemüse und beschleunigte damit die Verschiebung der Prioritäten in der mexikanischen Landwirtschaft, die zunehmend für den Export produzierte. Noch vor Abschluß der Uruguay-Runde hob die Regierung die Preisstützung auf und führte ein Subventionsprogramm ein, das nicht auf der Preisentwicklung, sondern allein auf der Anbaufläche basierte, unabhängig von Art und Ertrag der Erzeugnisse. Damit wurde die traditionelle Verbindung zwischen staatlicher Subvention und dem Anbau von Grundnahrungsmitteln aufgelöst – sehr zur Zufriedenheit der Befürworter des freien Handels, die seit Mitte der achtziger Jahre in dieser Hinsicht Druck auf die Politiker ausgeübt hatten.

Das erklärte Ziel war es, das Prinzip der Selbstversorgung in der Landwirtschaft aufzugeben und statt dessen nach Wettbewerbskriterien zu produzieren. Warum, so hieß es, sollte man Geld für den Anbau von Grundnahrungsmitteln wie Mais und Getreide ausgeben, wo doch jenseits der Grenze der weltweit größte Maisproduzent preiswert seine Erzeugnisse anbot? Warum sollte man die landwirtschaftlichen Ressourcen Mexikos nicht lieber für den Anbau von Tomaten, Gurken, Erdbeeren und Pfeffer für die Feinschmecker in den Vereinigten Staaten nutzen als für Mais und Bohnen, von denen sich die armen Familien Mexikos ernähren?

Es war kaum ein Jahr seit der Unterzeichnung von Nafta vergangen, als eine Finanzkrise im Dezember 1994 zum Verfall des Peso führte und sich damit die Kosten für Nahrungsmittelimporte verdoppelten.1 1996 ließ die weltweite Verknappung die Preise für Getreide, vor allem für Mais und Weizen, noch einmal auf das Doppelte steigen. Dennoch hielt die mexikanische Regierung unerschütterlich daran fest, daß die auf Marktvorteilen beruhenden Exporte Priorität haben müßten gegenüber den Erzeugnissen für den Inlandsverbrauch. Die Weigerung der Regierung, den Getreideanbau durch günstige Kredite und erleichterten Zugang zur Wasser- und Düngemittelversorgung zu fördern, zog eine Verminderung der Ernteerträge um 20 Prozent nach sich, wodurch sich Hunderttausende Bauern gezwungen sahen, ihren Betrieb aufzugeben und in die Städte Mexikos oder der Vereinigten Staaten zu ziehen.

1993 produzierte Mexiko so viel weißen Mais, wie für die Ernährung seiner 80 Millionen Einwohner nötig war – eine gute Ausgangsbasis für die Selbstversorgung des Landes. 1996 wird das Land schätzungsweise 6 Millionen Tonnen gelben Mais importieren, das entspricht rund 40 Prozent der Binnennachfrage. Ein großer Teil davon ist für den menschlichen Verzehr bestimmt, vor allem in den ländlichen Gebieten, obwohl diese Sorte früher als Viehfutter verwendet wurde. Der Preis für diesen Importmais ist hoch: Er kletterte in diesem Jahr auf 180 Dollar pro Tonne, nachdem er 1995 noch bei 90 Dollar gelegen hatte. Ende Juni dieses Jahres beliefen sich die mexikanischen Maisimporte bereits auf 615 Millionen Dollar, während die Summe für das gesamte Jahr 1994 bei nicht mehr als 365 Millionen Dollar gelegen hatte.2

Die Krise in der Lebensmittelversorgung führt zu unberechenbaren Ausbrüchen des Volkszorns. Ende Mai dieses Jahres haben in einem Vorort von Monterrey rund 400 Männer, Frauen und Kinder einen mit Getreide beladenen Güterzug aufgehalten und die Ladung nach Hause geschleppt. Am Abend waren in der Gemeinde von San Nicolás de la Garza 40 Tonnen Getreide verschwunden. Einige Wochen später wurden in Torreón, einer anderen Stadt im Norden, erneut zwei Güterzüge mit Getreide geplündert. Doch das schlimmste steht vielleicht noch bevor, wenn die Preise wieder sinken und der Markt just dann überschwemmt ist, wenn die mexikanischen Bauern ihre Ernte verkaufen müssen.

Die hungernde Bevölkerung von Mexiko weiß inzwischen, was sie von der Liberalisierung des Handels zu halten hat. Ende August dieses Jahres haben mehr als 200 regierungsunabhängige Organisationen ein nationales Forum für die Selbstversorgung Mexikos mit Nahrungsmitteln organisiert. Zu ihren gemeinsamen Forderungen zählten die Neuverhandlung von Nafta und der Agrarvereinbarungen des Gatt sowie die Aufnahme von Gesprächen über eine Konvention zur Sicherung der Welternährung.

K. L.

Fußnoten: 1 Vgl. Francis Pisani, „La fin des illusions pour le modèle mexicain“, Le Monde diplomatique, Februar 1995. 2 Vgl. „Record histórico en importación de maiz“, El Financiero, Mexiko, 30. August 1996. Zur Situation der mexikanischen Getreidemärkte und zu den Aktionen der landwirtschaftlichen Organisationen siehe im Internet unter http://www.laneta.apc.org/anec.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von K. L.