Wenig Interesse an einem Strafgerichtshof
SOLLEN die im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda begangenen grausamen Verbrechen ungestraft bleiben, obwohl doch die internationale Gemeinschaft die Verteidigung der Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben hat? Nein, haben die Befürworter eines internationalen Strafgerichtshofes zu antworten versucht, obwohl sie sehr genau wissen, daß die Bemühungen um eine Bestrafung solcher Taten auf schier unüberwindliche Hindernisse stoßen.
Im Bereich des Strafrechts wird überdeutlich, daß sich die internationalen Richter zur Erfüllung ihrer Aufgaben gegen die Interessen der Einzelstaaten stellen müssen. Das Ausmaß barbarischer Verbrechen, die von Regierungen und ihren ausführenden Organen an Einzelpersonen verübt werden, hat in diesem Jahrhundert zugenommen. Zumeist bleiben sie ungestraft. Das hat unterschiedliche Gründe: die Aufteilung der Welt in souveräne Einzelstaaten, die auf ihre territoriale Integrität pochen, das enorme Ausmaß staatlicher Willkür, die rechtliche Immunität von Staaten und ihren Vertretern sowie der Mangel an klaren Definitionen von Verbrechen und Straftaten im Sinne des Völkerrechts. Die Abhaltung der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine Ausnahme in der Geschichte des internationalen Strafrechts geblieben.
Seit ihrer Gründung versuchen die Vereinten Nationen einen ständigen internationalen Strafgerichtshof zu schaffen, um jederzeit in der Lage zu sein, die Urheber von Völkerrechtsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen, auch wenn sie an der Spitze eines Staates stehen. Eine solche Gerichtsbarkeit und deren Urteilssprüche könnten zur Abschreckung gegen zukünftige Verbrechen gegen die Menschlichkeit dienen, zur Aussöhnung der in sich zerrissenen Völker beitragen und durch die Sühne solcher Verbrechen das kollektive Gedächtnis entlasten beziehungsweise den Teufelskreis der Vergeltung durchbrechen. Der fünfzigste Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen wurde jedoch begangen, ohne daß man entscheidende Fortschritte vorzuweisen hätte, und es gibt kaum Bemühungen auf dem Gebiet des Völkerrechts, die nicht ständig durch hartnäckige Hindernisse gebremst würden.
Diese Bemühungen gehen in zwei Richtungen. Zum einen wird seit 1950 an dem Projekt einer ständigen Gerichtsbarkeit gearbeitet. Nachdem es von der Völkerrechtskommission, einem mit der Kodifizierung dieses Rechts beauftragten Organ der Vereinten Nationen, in Flautezeiten immer wieder folgenlos hervorgekramt wurde, liegt mittlerweile ein weitgehend ausgearbeiteter Entwurf vor, doch fehlt noch die Zustimmung der Staaten, und die ist reichlich ungewiß.1 Das Bedürfnis nach einem Strafgerichtshof war immerhin so dringlich, daß die Großmächte unter dem Vorwand, das Projekt nicht übers Knie brechen zu wollen, nach einer Notlösung suchten. Damit wollte man die Aufregung über die im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda begangenen Menschenrechtsverletzungen beschwichtigen und dafür sorgen, daß die Verantwortlichen bestraft werden, wie es die Öffentlichkeit einklagte. Also wurden 1993 und 1994 zwei Sondertribunale eingerichtet. Doch ebenso wie das unerledigte Gesamtvorhaben leiden auch die beiden Tribunale unter der Unbeweglichkeit, die die internationale Gemeinschaft allgemein auszeichnet: Die Verfahrensweisen sind willkürlich, und es mangelt an einer für alle verbindlichen Rechtsprechung.
Der Strafgerichtshof wird, sollte es ihn einmal geben, in dreierlei Hinsicht vom Wohlwollen der einzelnen Staaten abhängen. Er würde sich höchstwahrscheinlich auf einen Vertrag stützen und somit nur in den Unterzeichnerländern gelten. Diese werden es sich zudem vermutlich vorbehalten, seine Urteile anzunehmen oder abzulehnen. Schließlich werden diese weiterhin entscheiden, welches Recht in jedem Einzelfall anzuwenden sei – dieser Punkt ist nach wie vor weitgehend ungeklärt.2 Eine eigenartige Situation also, in der von den Staatsmännern erwartet wird, daß sie hehre Ideale verfolgen und ihre eigenen Interessen vernachlässigen, wo sich doch die potentiellen oder realen Verbrecher beziehungsweise deren Komplizen in ihren eigenen Reihen befinden können.
Ist es gelungen, mit der Einrichtung des Internationalen Kriegsverbrechertribunals diese absurde Logik zu durchbrechen? Die Bedingungen, unter denen es entstanden ist, lassen daran zweifeln. Hervorgegangen ist es aus einer weitgehend politisch motivierten Entscheidung des Weltsicherheitsrates und eher aufgrund der Hoffnung, die Friedensverhandlungen in Bosnien anzukurbeln als aus einer allgemein humanitären Verpflichtung heraus, für Gerechtigkeit zu sorgen. Seine Zuständigkeit beschränkt sich auf Verbrechen, die in einem bestimmten Zeitraum verübt wurden. Das Gericht selbst konnte nur unter großen Mühen eingerichtet werden, und die Arbeitsaufnahme wurde durch den Mangel an materieller Unterstützung verzögert. Überdies hängen Ermittlungen, Festnahmen sowie die Urteilsvollstreckung gänzlich vom guten Willen der betroffenen Regierungen ab.
KAUM hatte die Ankündigung über die Einrichtung des Tribunals die erhoffte Wirkung getan, erwies sich die Kooperationsbereitschaft der einzelnen Staaten als zumindest zwiespältig. Wie zu erwarten, haben sich die bosnischen Serben und die Republik Jugoslawien vehement gegen seine Einrichtung ausgesprochen, aber auch die Zusammenarbeit mit den Ifor-Truppen stößt schnell auf Grenzen: So erstreckt sich die Hilfeleistung der internationalen Truppen nicht auf die Suche nach Verbrechern. Die Frage lautet, ob es den kooperationsbereiteren Ländern (darunter Frankreich) gelingen wird, die zurückhaltenden Länder (offenbar auch Großbritannien) mitzuziehen. Die Richter scheinen jedenfalls entschlossen, ihren Auftrag unbeirrt und im Bewußtsein seiner exemplarischen Bedeutung durchzuführen.
Darin können sie sich der Unterstützung großer Teile der Öffentlichkeit sicher sein. Dazu beigetragen hat sicherlich die Fähigkeit der Richter, durch klugen Einsatz der Medien einen indirekten Dialog aufzubauen. Auf diese Weise konnten die Richter des Internationalen Tribunals unter Ausschöpfung aller verfahrenstechnischen Möglichkeiten die Gefahr abwenden, bei den Prozessen über die im ehemaligen Jugoslawien begangenen Verbrechen nur über Mitläufer zu Gericht zu sitzen.
Das war im vergangenen Juli gut zu beobachten, als die öffentlichen Anhörungen in den Fällen Radovan Karadžić und Ratko Mladić stattfanden, obwohl die Haftbefehle gegen beide nicht vollstreckt worden waren. Die makabre und dennoch notwendige Arbeit wird fortgesetzt. Fünfundsiebzig Personen sind angeklagt. Acht davon befinden sich in Haft, darunter ein kroatischer General (Tihofil Blaskić), ein bosnischer Serbe (Duško Tadić) und der junge Kroate Drazen Erdemović, der die Ermordung von siebzig Menschen in Srebrenica zugegeben hat.
Vier wichtige Prozesse werden in den kommenden Monaten stattfinden, darunter einer gegen mehrere Muslime. Daß nur wenige Serben vor Gericht stehen, hängt mit der Haltung Belgrads und Pales zusammen. So steht ein Verfahren gegen drei Armeeangehörige aus, die für die Ermordung von dreihundertfünfzig Zivilpersonen im Krankenhaus von Vukovar verantwortlich gemacht werden, was durch die Entdeckung von Massengräbern belegt ist. Obwohl internationale Haftbefehle gegen sie ausgestellt wurden, leben die Beschuldigten weiterhin in Belgrad auf freiem Fuß.
Mehrere hundert Personen arbeiten für diese Gerichte, setzen sich also täglich mit dem ungeheuerlichen Ausmaß der begangenen Verbrechen und den Vereitelungsversuchen einzelner Staaten auseinander. Die für die Durchführung der Prozesse unerläßliche Würde erinnert daran, daß es sich hier um einen entscheidenden symbolischen Akt handelt: Es gilt zu verhindern, daß einmal mehr ein verhängnisvoller Kompromiß geschlossen wird; es gilt, ganz klar zu sagen, daß bestimmte Dinge nicht ungesühnt bleiben werden; und schließlich muß in einer gewaltigen Anstrengung die internationale Gemeinschaft aus ihrer bisherigen Lethargie herausgerissen und auf ein Mindestmaß von Gewaltenteilung verpflichtet werden, das die Grundlage einer demokratischen Gesellschaftsordnung ist.
M. C.-G.