Der Spion aus dem Grab
Osvaldo Soriano, El ojo de la patria, Barcelona (Mondadori) 1993.
JEMAND „lüge wie ein Grabstein“ sagt man, aber Osvaldo Soriano hat in Paris auf dem Friedhof Père Lachaise einen entdeckt, auf dem die Wahrheit steht: „Hier ruht Julio Carrié, Geheimagent der Republik Argentinien“. Darüber eine Büste mit angeklatschtem Marmorhaar und einem Schnurrbart wie ein Fahrradlenker. Ein Agent, der, kaum daß er im Sarge liegt, als Maulwurf enttarnt wird. Stoff genug für einen roman noir.
Soriano ruft den Verstorbenen unter dem Namen Carré ins Leben zurück und macht aus ihm einen Spion, der die Vormittage in Paris damit verbringt, seine Krampfadern zu versorgen und an den Nachmittagen im Bistro Le Refuge herumsitzt, wo sich die arbeitslosen Killer aus dem Osten ein Stelldichein geben. Spionage ist ein hartes Brot seit dem Fall der Berliner Mauer ...
Vom Präsidenten wird Meisterspion Carré auserkoren, die Operation „Argentinisches Wunder“ zum Erfolg zu führen: Aus einer Wiener Leichenhalle soll er den einbalsamierten Körper eines „Gründervaters der Nation“ an den Rio de la Plata entführen, um dort einen ökonomischen und moralischen Qualitätssprung auszulösen. Sorianos Fiktion ist von der Realität nicht weit entfernt: Wie man weiß, wurde der Leichnam von Evita Perón erst in Buenos Aires entführt, dann in Italien begraben und wieder ausgegraben, bis schließlich der Lieferwagen einer Bäckerei den Katafalk vor dem Anwesen Juan Peróns in Madrid abstellte.
CARRÉ wird also zum „Auge des Vaterlandes“. Zunächst muß er sterben, seiner Beerdigung beiwohnen und mit verändertem Gesicht ein neues Leben beginnen. Er reist mit der Mumie quer durch Europa, eine Meute von Agenten auf den Fersen, die sich verkleiden (als Madonna, Julio Iglesias usw.), um nicht aufzufallen. Wo jeder unverwechselbar sein will, fallen die Unscheinbaren auf.
Der Autor führt uns in schwindelerregende Abenteuer mit Verfolgungsjagden, heimtückischen Fallen und Mordanschlägen, aus Verfolgern werden Verfolgte, bis keiner mehr weiß, welche Rolle Madonna oder Iglesias spielen. Carré und die Mumie finden sich schließlich auf dem Père Lachaise wieder, wo jener ihr stolz die Statue auf seinem Grab zeigt. So endet das „Argentinische Wunder“ – mit einer erneuten Enttäuschung für ein Volk, das in ständiger Erwartung eines Caudillo oder Che Guevara lebt.
In Sorianos surreale Phantasie mischt sich eine leise Nostalgie für sein Land, das er 1976 nach dem Militärputsch verlassen mußte, und sein Blick auf die Obsessionen des „argentinismo“ ist schärfer als in früheren Werken.1 Der Roman ist allemal ein Genuß, auch wenn man nicht allen Anspielungen auf den Grund geht – einen „heroisch-komischen Hemingway“ hat Italo Calvino den Autor genannt.
RAMON CHAO