Ende des ghanaischen Sonderwegs
DIE Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die am 7. Dezember im Herkunftsland von Kwame Nkrumah, dem Gründer des unabhängigen Ghana, stattfinden werden, könnten sich als harte Bewährungsprobe nicht nur für die Politik der Strukturanpassung und ihre Institutionen, sondern auch für den Präsidenten, Hauptmann Jerry Rawlings, erweisen. Rawlings, der seit seinem Staatsstreich vor fünfzehn Jahren an der Macht ist, stellt sich selbst gerne als den Nachfolger des Vaters der panafrikanischen Bewegung dar, als beispielhaften fortschrittlichen Offizier und Liebling des Internationalen Währungsfonds.
Von MARTIN VERLET *
Zum ersten Mal hatte Hauptmann Jerry Rawlings seine Macht 1992 in die Waagschale geworfen, als die Verfassungsreform noch in der Planungsphase war. Die bis dahin verbotenen Parteien waren gerade wieder entstanden. Die Komitees zur Verteidigung der Revolution und die „Revolutionsorgane“ (örtliche Stellen, die für die politische Kontrolle und für die Mobilisierung des Vorläufigen Rates der nationalen Verteidigung, PNDC1 , und für den Ausnahmezustand zuständig waren) bestanden noch immer. Jerry Rawlings, der durch den Staatsstreich im Dezember 1981 an die Macht gekommen war, wollte sich mittels einer demokratischen Wählerbefragung in seiner Position legitimiert sehen. Da er die unanfechtbare Bilanz eines Jahrzehnts wirtschaftlicher und politischer Stabilisierung vorzuweisen hatte, wurde er zum Präsidenten gewählt.
Inzwischen ist die Reorganisation der Behörden zwar abgeschlossen, doch hat sich das soziale Klima stark verschlechtert. Und die Besonderheiten des ghanaischen Experiments sind verblaßt. Der ständige Wechsel zwischen prätorianischer Ordnung und rechsstaatlichem System etwa hatte eine zyklische, vertraute und besonders ausgeprägte Form angenommen: Die amtierenden Präsidenten der drei letzten Republiken wurden durch Staatsstreiche abgesetzt – Kwame Nkrumah 1966, Kofi Busia 1972 und Hilla Limann 1981.
Diesmal wird Präsident Jerry Rawlings sein Mandat ausschöpfen. Der Machtwechsel in einem verfassungsmäßigen Rahmen und der geordnete Übergang von einer Regierungsmehrheit zur anderen scheinen sich allmählich zu institutionalisieren. In der Vergangenheit war das politische Leben unabhängig von der jeweiligen Zentralregierung von einer Art Widerstand gegen die öffentliche Diskussion gekennzeichnet. Die Regierungsmehrheit hatte der Opposition das Existenzrecht abgesprochen und diese sich im Gegenzug geweigert, die Legitimität der Mehrheit anzuerkennen. Wie auch immer der Wähler entscheidet, die Parlamentswahlen am 7. Dezember werden die Meinungsvielfalt und die Koexistenz von Mehrheit und Opposition verfestigen, auch wenn Hauptmann Jerry Rawlings stets von einer disziplinierten öffentlichen Ordnung geträumt hat, in der es keine Partikularinteressen mehr geben würde.
Seit dem kometenhaften Aufstieg Nkrumahs lenken die Beobachter ihre Aufmerksamkeit mit Vorliebe auf die charismatischen Persönlichkeiten der ghanaischen Politik. Hauptmann Rawlings' Elan, seine glanzvollen Reden und sein Image des Heilsbringers befeuerten die politische Mobilisierung und dann auch die Stabilisierung.2 Inzwischen ist seine Popularität etwas verblaßt, wozu auch Opposition und Presse beigetragen haben. Doch der Einfluß des Hauptmanns auf breite Volksschichten ist nach wie vor beeindruckend, vor allem im Vergleich zu seinem Hauptwidersacher John Kufuor, einer farblosen, unbedeutenden Persönlichkeit, die überdies im Ausland unbekannt ist.
Jerry Rawlings genießt sowohl weltweit als auch in Afrika wegen seiner Funktion als Schlichter regionaler Streitigkeiten großes Ansehen. In Ghana selbst hat sich jedoch die Begeisterung gelegt. Daß Hauptmann Rawlings sich als amtierender Präsident der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) für die Beilegung der Liberiakrise eingesetzt hat, erregt bei seinen Landsleuten Unmut, da sie es lieber sähen, daß die Regierung all ihre Energie und Mittel für die Lösung der landeseigenen Probleme einsetzt. Dieser Eindruck verschärfte sich durch anhaltende starke Spannungen in mehreren Regionen.
Die soziale Krise, die durch die Strukturanpassungspolitik ausgelöst wurde, läßt mittlerweile an der Gültigkeit des „ghanaischen Sonderwegs“ zweifeln.
Im April 1983 unterzeichnete das vor dem finanziellen Bankrott stehende Land einen Vertrag mit dem IWF. Die Lage war kritisch, die Wirtschaft ruiniert und die politischen Spannungen heftig.3 Vonnöten waren Kapitalspritzen von außen und eine Umschuldung. Notgedrungen mußten IWF und Weltbank einspringen – mehr Notbehelf als Schulterschluß.4 Dies sollte der Beginn eines langfristigen Pakts mit den internationalen Finanzinstitutionen werden. Die konsequente, peinlich genaue Beachtung ihrer Vorgaben brachte Ghana den Ruf eines Musterschülers ein.5
Für den langjährigen Vertreter der Weltbank in Ghana, Ravi Kanbur, war das Experiment erfolgreich. Ihm zufolge war es „ein brillantes Beispiel für eine vom öffentlichen Sektor gesteuerte Strukturanpassung, durch die grundlegende Infrastrukturen aufgebaut wurden, auf die private Investitionen zählen müssen. Nun aber ist der Zeitpunkt gekommen, wo die Privatwirtschaft tätig werden muß. Der öffentliche Sektor kann nicht mehr dieselben Wachstumsraten erreichen wie in der Umstrukturierungsphase.“6 Die Bilanz des Jahrzehnts 1983-1993 zeigt das Ausmaß dieses Erfolgs: nach Minuszahlen nunmehr eine durchschnittliche Wachstumsrate von 5 Prozent und eine auf 10 Prozent gesenkte Inflation.
Doch die Einzigartigkeit des Falles Ghana ist auf die zentrale Rolle des Staates zurückzuführen. Präsident Jerry Rawlings weigerte sich, die Sache aus der Hand zu geben, verlangsamte den Abbau des öffentlichen Sektors, bremste die Privatisierung, schützte den öffentlichen Dienst und erreichte den massiven Zustrom ausländischen Kapitals in Höhe von jährlich 8 Prozent des BIP. Gleichzeitig hielten sich die staatlichen Investitionen auf dem hohen Stand von etwa 10 bis 15 Prozent des BIP. Diese Mittel flossen vorrangig in die Modernisierung ländlicher Gebiete, in technische Grundausstattung, in die Wiederherstellung einer funktionierenden Infrastruktur und in örtliche Entwicklungsprojekte. Diese Politik der staatlichen Investitionen kam gut an. Außerdem zeigte sich die Regierung bestrebt, die nachteiligen sozialen Auswirkungen durch Ausgleichsmaßnahmen zu mildern, darunter Gehaltserhöhungen, kontrollierte Preise im öffentlichen Verkehr und soziale Hilfsprogramme.
Inzwischen jedoch ist die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht geraten: Die Inflation hat 1996 wieder 70 Prozent erreicht, die Geldmenge hat überhandgenommen, die öffentlichen Ausgaben sind gestiegen7 , und die Wachstumsrate ist auf 3 Prozent gesunken. Die Landeswährung, der Cedi, wird immer weiter abgewertet, die Zinssätze haben schwindelnde Höhen erreicht. Durch den stagnierenden Privatsektor bricht der Arbeitsmarkt zusammen, Kapital und fähige Köpfe verlassen das Land.
Darüber hinaus hat die Politik der überstürzten Liberalisierung strukturelle Verzerrungen und eine Rückkehr zur Tauschwirtschaft bewirkt sowie eine erneute Spezialisierung auf den Abbau einer begrenzten Palette von Rohstoffen, die im unverarbeiteten Zustand exportiert werden: Kakao, Holz, Gold und Diamanten. Der spärliche Kapitalfluß von privater Seite speist nurmehr drei Bereiche: Bergbau, Import-Export und den Dienstleistungssektor. Die Industrie ist im Niedergang begriffen, und die landwirtschaftliche Produktivität stagniert.
Zur Bewältigung dieses Tiefs reist Präsident Rawlings auf der Suche nach neuen Kapitalgebern unermüdlich um die Welt. Vorerst noch hängt das Land am Tropf internationaler staatlicher Gelder, und nichts deutet darauf hin, daß es weiterhin bevorzugt behandelt werden könnte, mag die Weltbank auch das Trugbild eines nahen Wirtschaftsaufschwungs nähren, der Ghana bis 2020 in das Kielwasser der asiatischen „Drachen“ katapultieren soll.8 Dennoch greifen Ernüchterung, Pessimismus und Ungeduld weiter um sich.
Anfangs waren die drastischen Maßnahmen zur Umstrukturierung und Stabilisierung der Wirtschaft kaum auf Widerstand gestoßen. Das Land lebte in einem Ausnahmezustand und hatte das Chaos der vorangegangenen Zeit noch lebhaft vor Augen. Die Bemühungen um ein wirtschaftliches Gleichgewicht, um die Wiederherstellung der Infrastruktur und die Ankurbelung von Produktion und Handel stießen auf Zustimmung. Ab 1993 aber äußerten die unteren und mittleren Schichten der Großstädte gelegentlich ihre Ablehnung gegen die sozialen Auswirkungen der Strukturanpassungspolitik. Im Frühjahr 1995 kam es wegen einer auf Druck der Weltbank eingeführten Mehrwertsteuer zur sozialen Explosion. In wenigen Wochen schossen die Preise um 60 Prozent in die Höhe. Die Toleranzgrenze war überschritten. In Accra forderte eine Massendemonstration, der erste „Anti- IWF-Aufstand“, mehrere Todesopfer.
Diese Krise bringt die Machthaber in Schwierigkeiten. Welche politischen Alternativen haben sie denn anzubieten? Niemand spricht von der Möglichkeit, auf Abstand zu den Anpassungsprogrammen zu gehen, jeder begnügt sich mit dem Versprechen, ihre sozialen Folgen aufzufangen. Der Kandidat Jerry Rawlings will den Fortgang der Entwicklungsprojekte insbesondere in den ländlichen Gebieten beschleunigen. Sein Widersacher John Kufuor spricht vor allem von Anreizen für private Investitionen, einer Unterstützung der Initiativen ghanaischer Unternehmer und einer Einschränkung der Rolle des Staates. Der Graben zwischen dem Leben der einfachen Bevölkerung in den Städten und den Versprechungen der Politiker wird immer tiefer.
dt. Sabine Scheidemann
* Soziologe, Universität Ghana.