Indiens Veto gegen den Atomteststopp
DAS Abkommen über das vollständige Verbot von Atomtests, das der US-amerikanische Präsident Bill Clinton als „gigantischen Schritt nach vorn“ begrüßt hat, wird womöglich toter Buchstabe bleiben. In Ermangelung einer Einigung auf der Abrüstungskonferenz hat die UNO-Generalversammlung im September eine Resolution Australiens zur Annahme dieses Vertrages verabschiedet. Doch für sein Inkrafttreten ist auch die Unterschrift Indiens erforderlich. Eine baldige Unterzeichnung ist jedoch sehr unwahrscheinlich, weil der Vertrag in Neu-Delhi einstimmig abgelehnt wird.
Von JYOTSNA SAKSENA *
Indien hat sich kategorisch gegen das Abkommen über einen generellen Atomteststopp (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) gewandt, das von den fünf Atommächten und ständigen Mitgliedern des Weltsicherheitsrats am 25. September 1996 in New York unterzeichnet wurde. Diese Haltung kommt einem Veto gleich, weil zu den Voraussetzungen für das Inkrafttreten des Abkommens auch die Unterzeichnung durch die sogenannten Schwellenländer gehört, also durch Indien, Pakistan und Israel, die alle drei über ein Atomwaffenpotential verfügen.
Neu-Delhi läuft damit Gefahr, sich in der internationalen Gemeinschaft zu isolieren, die diesen Vertrag bei einer Abstimmung in der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. September mit großer Mehrheit verabschiedet hat.1 Es scheint von seinen Grundsatzpositionen und seinen zahlreichen Vorschlägen zur atomaren Abrüstung abzurücken, die es schon häufig in der UNO wie auch innerhalb der Bewegung der Blockfreien vorgelegt hatte. Vor allem aber behindert es eines der wichtigsten Ziele der US-amerikanischen Diplomatie, die der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen um jeden Preis Einhalt gebieten will. Und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem es die Technologie und die Investitionen der Amerikaner sowie die Unterstützung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds braucht, um seine Wirtschaftsreformen und seine Integration in den Weltmarkt erfolgreich abzuschließen.
Dieses Verhalten war vorhersehbar, denn die Haltung Indiens in der Frage der atomaren Abrüstung, die eng mit der Wahrnehmung seiner nationalen Interessen und seiner internationalen Rolle verknüpft ist, hat sich nie verändert. Das Auseinanderbrechen der UdSSR hat Indien gezwungen, sich auf das neue Kräftegleichgewicht in der Welt einzustellen und die Vorrangstellung der Vereinigten Staaten zu akzeptieren, ohne daß es allerdings auf seine eigenen Ambitionen verzichtet hätte. Durch seinen Widerstand gegen den Druck der USA demonstriert Indien seine Entschlossenheit, sich beim Aufbau der neuen Weltordnung nicht an den Rand drängen zu lassen. Daß ihm das gelingt, zeigt den Spielraum, über den die Regionalmächte trotz der Vormachtstellung der USA auf der internationalen Bühne verfügen.
Indiens Atompolitik zeichnet sich seit Erlangung der Unabhängigkeit durch zwei Leitlinien aus: die Intensität, mit der es sich in den internationalen Gremien für Abrüstung einsetzt, und seine gleichzeitige Entschlossenheit, sich alle atomaren Optionen offenzuhalten. Diese Haltung ist nur scheinbar widersprüchlich. Pandit Nehru2 , der Initiator der meisten Resolutionen zur atomaren Abrüstung, die von Dritte-Welt-Ländern in den fünfziger Jahren bei der UNO vorgelegt wurden, war von der Notwendigkeit dieser Resolutionen für den Weltfrieden ebenso überzeugt wie von ihrem Nutzen für die Entwicklungsländer und insbesondere für Indien.
Deshalb regte er 1951 die Einrichtung eines Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen an, der durch Abrüstungserlöse finanziert werden sollte. 1954 schlug er das Einfrieren und 1961 das Verbot von Atomtests vor. 1963 schließlich lancierte er die Idee eines internationalen Abkommens gegen die Verbreitung von Atomwaffen.3 Die beiden letzteren Vorschläge drückten auch den Wunsch aus, dem militärischen Atomprogramm Chinas, über das Jawaharlal Nehru schon seit 1960 durch seine Geheimdienste informiert war, einen Riegel vorzuschieben. Zu dieser Zeit wehrte sich die indische Regierung durchaus nicht gegen eine Politik der kleinen Abrüstungsschritte, da sie meinte, ein Teilabkommen sei besser als gar keines; dies allerdings unter der Voraussetzung, daß es einen Meilenstein auf dem Weg zu einem umfassenderen Vertrag darstellte. Nehru wollte vor allem verhindern, daß die Massenvernichtungswaffen und ihre Verbreitung zu einem ganz normalen Vorgang würden, so daß Indien eines Tages womöglich aus Sicherheitsgründen auf einen militärischen Weg setzen müßte, der seine Wirtschaftsentwicklung nur belasten würde.
Gleichzeitig verwies der indische Staatschef seit 1947 auf das unveräußerliche Recht seines Landes, die Atomenergie zur friedlichen Nutzung, also für wirtschaftliche Zwecke, in aller Unabhängigkeit weiterzuentwickeln. Seiner Ansicht nach mußte jegliche Behinderung dieses Programms zu einer Vertiefung des Grabens zwischen den reichen und den übrigen Ländern führen. Dadurch würden letztere daran gehindert, in den vollen Genuß des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts zu kommen, von dem der Erfolg all ihrer Entwicklungsprogramme abhänge. Insofern sich jedoch die zivile und die militärische Nutzung der Atomenergie technologisch in keiner Weise unterscheiden, bedeutete dieses Streben nach einer unabhängigen Wirtschaftsentwicklung faktisch, daß sich Indien die militärische Option offenhielt.
Jawaharlal Nehru war in seinem Plädoyer für die zivile Nutzung der Kernenergie völlig aufrichtig. Wohl wissend, was ein Scheitern der Abrüstungsverhandlungen bedeuten würde, wollte er sich aber die militärische Option immer offenhalten. Die Logik der indischen Atompolitik erklärte er 1948 in einer Atomenergiedebatte vor dem Lok Sabha, dem indischen Unterhaus: „Wenn wir weiterhin beim Wettlauf der Nationen um den wissenschaftlichen Fortschritt in der Spitzengruppe liegen wollen, müssen wir die Kernenergie mit einer anderen Perspektive als der des Krieges weiterentwickeln. (...) Wenn wir als Nation jedoch gezwungen sind, sie zu anderen Zwecken einzusetzen (...), dann kann uns niemand aus moralischen Gründen daran hindern.“4 Der indische Staatschef setzte also zwar eindeutig auf eine friedliche Nutzung der Kernenergie, doch für den Fall einer „Zwangslage“ wog für ihn das nationale Interesse schwerer als alles andere.
Abrüstung nicht mehr gefragt
DIE Wendung in den internationalen Verhandlungen seit der Kubakrise (Oktober 1962) und der Wandel im sicherheitspolitischen Umfeld Indiens machten ab 1963 jedoch eine Umorientierung nötig. Die Genfer Verhandlungen über atomare Rüstung (an denen sich Indien und weitere Dritte-Welt-Länder beteiligten) wurden zunehmend durch bilaterale Gespräche der beiden Großmächte USA und UdSSR ersetzt.5 Fortan wurde nur über Rüstungskontrolle verhandelt statt über eine allgemeine, kontrollierte Abrüstung.
Die Aussichten auf eine solche Abrüstung rückten in weite Ferne, als China zur Atommacht wurde, das Indien 1962 eine bittere militärische Niederlage zugefügt hatte. Aus indischer Sicht waren die Bemühungen der fünfziger Jahre gescheitert, und die atomwaffenfreien Mächte konnten auf die Verhandlungen kaum Einfluß nehmen. Deshalb verweigerte Indien fortan die Zustimmung zu jedem Teilabrüstungsvorhaben, das nicht auch einen Zeitplan für die Abschaffung aller Atomwaffen beinhaltete.
Nach Chinas Atomversuch von 1964 wurden in Indien nachdrückliche Forderungen nach einer Aufgabe der friedlichen Option laut, die Regierungschef Lal Babadur Shastri nicht übergehen konnte. Seit der Niederlage von 1962 litt Indien unter einem „China-Syndrom“; trotz der Vervierfachung seiner Militärausgaben war es seinem mächtigen Nachbarn strategisch weit unterlegen. Indien verstärkte sein Atomprogramm, doch der Beschluß, sich die Atombombentechnologie anzueignen, fiel erst 1971, nach dem Ende des Bangladesch-Krieges, der die Achse Peking-Islamabad-Washington sichtbar gemacht hatte.6 Dies und die Annäherung zwischen China und den USA7 beeinträchtigten die Sicherheit Indiens, das 1974 einen unterirdischen Atomversuch durchführte.
Neu-Delhi, das den Besitz der Atombombe nicht offiziell zugab, setzte seine Atom- und Weltraumforschung fort – vorgeblich „ausschließlich zu friedlichen Zwecken“. Bis heute hat es keinen weiteren Atomversuch unternommen, wohl aber Mittel- und Kurzstreckenraketen getestet. De facto ist Indien nun ein inoffizieller Atomstaat, der angeblich in der Lage ist, rasch eine begrenzte Anzahl von A-Waffen einsatzbereit zu haben.8 Damit unterstreicht Indien seinen Status als regionale Vormacht des Subkontinents.
Dieses Sicherheitsdenken und die regionalen Ambitionen veränderten auch Indiens Haltung zur atomaren Abrüstung. Unter Verzicht auf seine Politik der kleinen Schritte lehnte man jedes Abkommen ab, das in der Praxis den atomaren Status quo zementiert, also die globale Zwei- Klassen-Gesellschaft von Atomwaffenbesitzern und atomwaffenfreien Staaten. Zwar unterzeichnete Indien 1963 den Moskauer Vertrag über ein Teilverbot von Atomversuchen, nicht aber den Atomwaffensperrvertrag von 1968. Indien begründete dies mit diskriminierenden Kontrollvorschriften, die seiner Ansicht nach bestimmte Länder für ihre friedliche Nutzung der Kernenergie bestraften. Da der Vertrag aus indischer Sicht lediglich das Monopol der Atomstaaten fortschrieb, reagierte Neu-Delhi nicht auf die Vorschläge seiner Nachbarn – insbesondere Pakistans, das selbst Atomwaffen besitzt –, ganz Südasien in eine atomwaffenfreie Region zu verwandeln. Da die indische Atompolitik von der Bedrohung durch China bestimmt ist, konnte es kaum einen regionalen Denuklearisierungsvertrag unterzeichnen, der Peking nicht einbezogen hätte.
Da die atomare Abrüstung Chinas nur im Rahmen eines globalen Abrüstungsabkommens denkbar wäre, wurde dieses folgerichtig zum indischen Hauptanliegen. Daß Indien ein Atomstaat ist, hinderte es also nicht, auf den UN-Generalversammlungen oder bei Gipfeltreffen der blockfreien Länder Resolutionen zu unterstützen, die ein Einfrieren der atomaren Rüstung forderten, sofern dies zur Vernichtung aller Bestände führen sollte. Eine entsprechende Resolution brachte es 1995 auf dem Gipfeltreffen der Blockfreien im kolumbianischen Cartagena ein.
Diese Einstellung bedeutet automatisch die Ablehnung des Abkommens über einen generellen Atomteststopp (CTBT). Im Laufe der Verhandlungen, die 1994 in Genf begannen, forderte Indien, der Atomteststoppvertrag müsse auch einen Zeitplan für die vollständige Abrüstung aller Atomstaaten beinhalten. Andernfalls schreibe der Vertrag nur die Hegemonie der fünf Atommächte fest. Zur Erläuterung sagte der indische Außenminister Inder Kumar Gujral: „Indien blieb nichts anderes übrig, als den Vertrag abzulehnen.“9 Jede andere Entscheidung hätte den Verzicht auf Atomwaffen bedeutet, während China seinen Waffenbestand weiter modernisiert und Pakistan durch Lieferungen von M11-Raketen unterstützt, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können. Neu-Delhi macht außerdem geltend, daß die offiziellen Atommächte die Technologie, ihre nukleare Rüstung durch Simulation zu perfektionieren, entweder bereits besitzen oder mit Unterstützung der USA erwerben können (Präsident Bill Clinton hat dies den anderen Atomstaaten explizit in Aussicht gestellt, um sie für eine Unterzeichnung des Vertrages zu gewinnen).
In der indischen Hauptstadt weist man auch gerne auf die jüngsten Tests von Frankreich und China hin sowie auf die in Paris formulierte Rechtfertigung weiterer Atomversuche (Frankreich unterzeichnete den Vertrag erst, als es die letzten für notwendig erachteten Tests durchgeführt hatte). Indien besitzt noch keine Simulationstechnologie und müßte Atomtests durchführen, um sein Arsenal auszubauen und zu modernisieren. In den indischen Atomlabors wird offenbar fieberhaft an dieser Technologie gearbeitet, denn Indien weiß, daß die US-Amerikaner in zwei Jahren weit größeren Druck ausüben werden, um es zur Unterzeichnung zu zwingen: Das CTBT soll 1998 überarbeitet werden, und man will die Staaten, die sein Inkrafttreten blockieren, mit Wirtschaftssanktionen belegen.
Neu-Delhi hat natürlich zur Kenntnis genommen, daß das Inkrafttreten des CTBT seine Unterschrift voraussetzt.10 Die indische Regierung ist jedoch der Auffassung, daß diese Bedingung das Recht eines jeden souveränen Staates verletzt, selbst über den Beitritt zu Verträgen zu entscheiden, und so gegen die allgemeinen Völkerrechtsgrundsätze verstößt. Für die Vereinigten Staaten hat diese Klausel indes den Vorzug, daß Indien für ein mögliches Scheitern des CTBT verantwortlich gemacht und international isoliert werden kann.
Im Augenblick ignorieren die Inder die Drohung. Für Inder Kumar Gujral ist dies „eine Methode, um Druck auszuüben: Wenn ein Land aufbegehrt und protestiert, wird es isoliert, doch das beeinträchtigt seinen Status nicht. (...) Nationen, die in die Knie gehen oder sich beugen, werden niemals respektiert. (...) Kann man denn eine Nation mit 930 Millionen Einwohnern überhaupt isolieren?“11 Die Gefahr einer wirtschaftlichen Isolierung nimmt Indien nicht sonderlich ernst.
Solche Äußerungen fallen der indischen Regierung um so leichter, als sie auf die jüngsten Erfahrungen verweisen kann. Denn trotz der Differenzen zwischen Neu- Delhi und Washington fließen weiterhin amerikanische Investitionen in das Land, und der Handel nimmt beträchtlich zu. Der starke Druck aus den USA hat Neu- Delhi nicht gehindert, sein Raketenprogramm weiterzuverfolgen. Zwar sind Indiens Militärausgaben seit 1991 stark gesunken, doch das Weltraum- und das Raketenbauprogramm wurden nicht gekürzt.
Die indische Regierung kann sich in dieser Frage auf einen landesweiten Konsens stützen. Bei den Debatten in beiden Kammern des indischen Parlaments wurde nicht eine einzige Stimme laut, die Kritik an der Ablehnung des CTBT geübt hätte. Umstrittener ist der Beschluß in den Medien. In der publizistischen Diskussion wird zuweilen bezweifelt, daß die Beibehaltung der atomaren Option noch Sinn hat, wenn die militärische – und insbesondere die atomare – Schlagkraft gegenüber der wirtschaftlichen Macht immer mehr an Bedeutung verliert. Manche Kommentatoren verweisen auf die herausragende Stellung Japans und Deutschlands in der Welt, die schließlich beide keine Atomstaaten sind.
Die indischen Politiker und Planer verneinen zwar nicht den Stellenwert der „Geo-Ökonomie“, führen aber die Überlegenheit der Vereinigten Staaten eher auf ihre unvergleichliche militärische Stärke zurück. Und Inder Kumar Gujral argumentiert: „Die Frage, ob Indien einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat erhält, entscheidet sich nicht an seiner Weigerung, das CTBT zu unterzeichnen.“12
dt. Sabine Scheidemann
* Dozentin am Institut für Politische Studien in Paris.