15.11.1996

Das Goldene Zeitalter der muslimischen Welt

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Das Goldene Zeitalter der muslimischen Welt

EIN Werk aus längstvergangenen Zeiten erreicht uns vielleicht gerade im rechten Moment, um die Fragwürdigkeit aller essentialistischen Darstellungen der arabisch-muslimischen Kultur zu unterstreichen und ihren Anhängern ein Umdenken nahezulegen. Die einen kann es daran erinnern, daß die Größe der islamischen Kultur sich weder einem Katalog Vorschriften verdankt, der das alltägliche Leben pedantisch bestimmt, noch einer vermeintlichen Authentizität, die ängstlich vor dem Eindringen des Fremden zu schützen wäre. Den anderen zeigt sie, daß der Reichtum dieser Kultur sich weder auf Gesetze reduzieren läßt, die willkürlich aus den heiligen Texten herausgegriffen werden, noch auf jenes abwertende Islambild, das auf das selektive Gedächtnis jener Zeit zurückgeht, als man die Ängste gegen einen sich – angeblich – gefährlich ausbreitenden Islam mobilisieren wollte.

Die monumentale 24bändige Anthologie wurde in der Mitte des 10. Jahrhunderts zusammengestellt, als das arabische Reich zu zerfallen begann. Schon Ende des 8. Jahrhunderts hatte der Kalif Harun ar-Raschid in Bagdad die drei berühmtesten Sänger seiner Zeit beauftragt, eine Sammlung der besten hundert Lieder zusammenzustellen. Abû al-Farag al-IsfahÛni (897-976) nahm diese Auswahl zum Grundstock für sein Buch „KitÛb al-AghÛni“ (Buch der Lieder). Al-IsfahÛni erweiterte die Sammlung noch durch Poeten und Komponisten aus der Zeit nach dem legendären Kalifen.

Bei der nun vorliegenden Anthologie „Musiques sur le fleuve“1 handelt es sich um eine Auswahl aus dem „KitÛb al- AghÛni“. Es ist eine Sammlung der hundert schönsten Gedichte, die gesungen wurden zwischen der Entstehung der arabischen Klassik, hundert Jahre vor dem Erscheinen des Islam und dem berühmten 10. Jahrhundert, die den Idschtihad, die Koranauslegung, zum Abschluß brachte. Selbstverständlich handelt es sich in erster Linie um Liebesgedichte. Sie sind mit höchst wertvollen Angaben zu ihrer musikalischen Ausführung versehen wie mit Anekdoten über die Dichter, Sänger und Sängerinnen sowie über die berühmten Persönlichkeiten, vor denen sie auftraten. All dies wird von Geschichten eingerahmt, die zum Teil bis auf die mythischen Ursprünge der arabischen Geschichte zurückgehen.

Universalismus und Lebensfreude kommen hier in der Musik, der Liebe, der Poesie und künstlerischen Raffinesse zum Ausdruck und zeugen von einer Gesellschaft, die noch souverän über ihr eigenes Schicksal bestimmt. Diese Musik nimmt die unterschiedlichen Traditionen in sich auf, die in dem riesigen arabischen Kulturraum lebendig sind, und wird von Künstlern aus allen Gegenden des Reiches zur Vollendung geführt, die ungeachtet ihrer ethnisch oder kulturell verschiedenen Herkunft den melodischen Rhythmus der arabischen Sprache bereitwillig übernehmen. Es ist eine innige Verbindung von Wort und Klang, deren Auswirkungen sich noch in den gregorianischen Gesängen und in der Phrasierung der italienischen Gesangskunst wiederfinden.

Eine aus der Leidenschaft der Liebespoesie aufsteigende Lust, im Arabischen tarab genannt, der nicht nur gewöhnliche Sterbliche mit Vorliebe frönten, sondern vor allem auch die großen Kalifen und Hüter der islamischen Orthodoxie – etwa der Begründer des Omayadenreiches von Damaskus, der große Mu'awiya, und der sagenumwobene Harun al-Raschid, Sinnbild der Macht und kulturellen Blüte des Abbasidenreiches von Bagdad. Das Spielerische und Ästhetische bildete neben dem Geistigen die zentrale Dimension im Idealbild des arabischen „rechtschaffenen“ Mannes.

Übersetzt wurde diese Auswahl von dem bedeutenden, kürzlich verstorbenen Arabisten Jacques Berque, dem wir neben einer Reihe einschlägiger wissenschaftlicher Werke auch eine wunderbare Übersetzung vorislamischer Dichtkunst verdanken („Les Grandes Odes de l'Antéislame“, Ed. Sindbad, Paris). Das vorliegende Buch liest sich wie sein Vermächtnis für die arabische und französische Öffentlichkeit. Eine Mahnung, diese wesentliche Dimension nicht unter den Tisch fallen zu lassen, macht sie doch den Reiz der arabisch-islamischen Kultur aus, die alles andere als trist und trocken ist.

BOUTROS HALLAQ

Fußnote: 1 „Musiques sur le fleuve. Les plus belles pages de KitÛb al-AghÛni“, aus dem Arabischen übersetzt von Jacques Berque, Paris (Albin Michel) 1995, 445 S., 140 Franc. Eine von G. Rotter übersetzte Auswahl erschien 1977 in Stuttgart (Nachdruck als Goldmann TB, München 1988): „Und der Kalif beschenkte ihn reichlich. Auszüge aus dem „KitÛb al-AghÛni“.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von BOUTROS HALLAQ