15.11.1996

Freier Handel oder gesicherte Welternährung?

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Freier Handel oder gesicherte Welternährung?

VOM 13. bis 17. November findet in Rom unter Federführung der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen (FAO) der Welternährungsgipfel statt. Mehr als 800 Millionen Menschen in der Welt leiden an Unterernährung, und ihre Zahl dürfte beträchtlich steigen, wenn sich das Wachstum der Weltbevölkerung fortsetzt, während Anbauflächen und Wasser immer knapper werden. Um dieser Herausforderung zu begegnen, darf man das Feld nicht den Interessen von Großunternehmen der Nahrungsmittelindustrie überlassen. Hier sind vielmehr die Regierungen und die sozialen Handlungsträger gefordert.

Von KAREN LEHMANN *

Die Staats- und Regierungschefs, regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) und verschiedenen multilateralen Institutionen, die zum Welternährungsgipfel in Rom zusammenkommen, müssen sich mit einer Frage auseinandersetzen, die schon seit den vierziger Jahren gestellt wird: Ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln ein grundlegendes Menschenrecht oder vorwiegend eine Angelegenheit des Marktes?

Internationale Finanzinstitutionen und die Regierungen zahlreicher Industriestaaten, an erster Stelle die Vereinigten Staaten, fordern eine weitere Liberalisierung des Handels, weil damit ihrer Ansicht nach die Ernährungssicherheit in zweifacher Weise verbessert werden kann. Ein verstärkter Export würde das Wirtschaftswachstum ankurbeln und die Privateinkommen steigen lassen, und die einzelnen Länder könnten unter ihren Produkten diejenigen für den Export bestimmen, die auf dem Weltmarkt besonders konkurrenzfähig sind.

Ihnen stehen Hunderte von regierungsunabhängigen Organisationen, Bauernverbänden und Verbrauchergruppen in der ganzen Welt gegenüber, die diese Art der Argumentation nahezu einmütig verwerfen und darauf verweisen, daß die Ernährung ein grundlegendes Menschenrecht ist. Da die Kräfte des Marktes nicht in der Lage sind, dieses Recht zu garantieren, ist es Aufgabe der Regierungen, in enger Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Kräften geeignete politische Maßnahmen zu entwerfen und umzusetzen. Zwischen diesen beiden Lagern steht die Welternährungsorganisation. Mutig appelliert ihr Generaldirektor Jacques Diouf an die Teilnehmer des Gipfeltreffens, seine Organisation bei ihrer Aufgabe zu unterstützen, die darin besteht, den Regierungen in ihrem Bemühen um eine gesicherte Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung beizustehen. Allerdings werden derzeit viele Länder dazu ermuntert, diese Verantwortung an den Weltmarkt abzutreten – im Klartext: an multinationale Unternehmen und an Staaten, die als deren Fürsprecher agieren. Aber selbst wenn sie es wollte, könnte die Welternährungsorganisation es sich kaum erlauben, die zahlreichen Vorschläge der regierungsunabhängigen Organisationen zu unterstützen, weichen sie doch allzu stark von den Ergebnissen der Uruguay-Runde der Welthandelsgespräche ab, aus der 1995 die Welthandelsorganisation (WTO) hervorging. So kann man sich kaum vorstellen, daß das Treffen von Rom im gegenwärtigen multilateralen Rahmen zu einer kohärenten Strategie führen wird.

Die beiden gegensätzlichen Argumentationen sind in exakt der gleichen Weise bereits in der Nachkriegszeit vorgebracht worden, als es um die Neuorganisation der Weltwirtschaft ging. Damals forderte die eine Seite ein gemeinsames Maßnahmenpaket der Regierungen, das internationale Geltung haben sollte. Die andere Seite setzte sich dafür ein, alle staatliche Einflußnahme vom Markt fernzuhalten, damit dieser seine Kräfte entfalten könne. Die beiden Standpunkte hatten sich während zweier Konferenzen in den Vereinigten Staaten herauskristallisiert, und man hatte Institutionen zu ihrer Umsetzung ins Leben gerufen. Im Jahre 1943 trafen sich die 44 Regierungen der Alliierten in Hot Springs (Virginia) und erklärten die gesicherte Versorgung mit Nahrungsmitteln zu einem Menschenrecht. Es waren dieselben Regierungen, die im darauffolgenden Jahr in Bretton Woods (New Hampshire) die Rahmenbedingungen für eine neue Weltordnung entwarfen, die sich auf dem freien Handel gründen sollte. Während der Konferenz von Hot Springs wurde die Welternährungsorganisation geschaffen, in Bretton Woods dagegen die Weltbank und der Internationale Währungsfonds sowie das Handelssystem, das schließlich im Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) kodifiziert wurde und heute in die Welthandelsorganisation übergegangen ist.

Die Welternährungskonferenz von Hot Springs besaß eine geradezu visionäre Dimension. Viele Vorschläge von damals finden sich heute in Entwürfen der regierungsunabhängigen Organisationen für den Gipfel von Rom wieder. In Hot Springs wurde nicht nur die Landwirtschaft, sondern das System der Nahrungsmittelversorgung in seiner Gesamtheit berücksichtigt und den Regierungen die Verantwortung dafür übertragen, ihren Bürgern das Recht auf Nahrung zu garantieren, im Notfall mit der Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen. Des weiteren wurde empfohlen, den Bauern angemessene Preise für ihre Erzeugnisse zu bezahlen, durch Einführung eines angemessenen Mindestlohns die Kaufkraft für den Erwerb von Nahrungsmitteln zu verbessern und eine Grundversorgung für Mütter von Kleinkindern sicherzustellen; zudem sollten die Regierungen direkt in die Vermarktung, die Lagerung, die Verarbeitung und den Transport von Lebensmitteln eingreifen können. Der Handel sollte schließlich einem System internationaler Vereinbarungen unterliegen, um „Preisschwankungen bei Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Erzeugnissen“ zu dämpfen.

Dieses Konzept sollte einige Jahrzehnte lang zumindest teilweise Grundlage agrarpolitischer Richtlinien auf der ganzen Welt sein, bevor es von der vordringenden Ideologie der Liberalisierung des Handels und von der vollständigen Kontrolle des Weltmarktes durch multinationale Unternehmen überrollt wurde. Da die Welternährungsorganisation weder über die nötige finanzielle Ausstattung noch über die Macht zur Umsetzung ihrer Politik verfügte, konnte sie nie den Einfluß erlangen, der ihr ursprünglich zugedacht war und der für die Durchsetzung der Ernährungssicherheit notwendig gewesen wäre.

Regulierung ist nötig

IM Jahre 1974, zwanzig Jahre nach Hot Springs, führte eine andere Krise die Regierungschefs zum ersten Welternährungsgipfel in Rom zusammen. Ein Jahr zuvor hatte US-Präsident Richard Nixon, um den Anstieg der Inlandspreise zu bremsen, ein Exportverbot für amerikanische Sojabohnen ausgesprochen und damit in den Einfuhrländern Panik ausgelöst.1 Hinzu kam, daß ein großer Teil der Getreideernte in den Vereinigten Staaten durch Parasitenbefall vernichtet worden war. Die Teilnehmer an diesem Gipfel setzten sich das Ziel, in den nächsten zehn Jahren den Hunger in der Welt zu beseitigen, und sie bestätigten erneut die Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit durch die Einrichtung eines Welternährungsrats bei den Vereinten Nationen; des weiteren schlugen sie vor, einen Getreidefonds zu schaffen, so daß im Falle einer Knappheit die weltweite Versorgung sichergestellt wäre.

Ebenso wie die Empfehlungen von Hot Springs wurden diese Empfehlungen nicht einmal ansatzweise verwirklicht. Statt dessen reagierten die Regierungen mit beispiellosen Bemühungen zur Steigerung der Agrarproduktion. Die Europäer, denen die Sojabohnenaffäre noch in den Knochen steckte, hatten die Wichtigkeit einer autarken Versorgung erkannt und bauten verstärkt Ölsaaten an. Die US- amerikanischen Farmer stürzten sich in Schulden, um ihre Aussaat massiv zu steigern. Damals entbrannte ein lange währender Handelskrieg zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in dessen Verlauf Millionen von Familienbetrieben in der ganzen Welt von der Bildfläche verschwanden und auf den Märkten der Entwicklungsländer als Folge der Exportsubventionen ein Preisdumping beispiellosen Ausmaßes einsetzte. Während der Uruguay-Runde der Welthandelsgespräche einigten sich die beiden Wirtschaftsmächte auf einen Waffenstillstand im Agrarsektor, indem sie die Exportmärkte untereinander aufteilten. Zudem wurde die Konfrontation der Ideen von Hot Springs und Bretton Woods beendet, indem die Landwirtschaft der Kontrolle der Regierungen entzogen und unter die Aufsicht der Welthandelsorganisation gestellt wurde.

Die regierungsunabhängigen Organisationen und verschiedene Regierungen, die am Gipfel in Rom teilnehmen, sind jedoch nicht bereit, den freien Handel als Allheilmittel gelten zu lassen. Dies zeigt sich schon daran, daß sich die Arbeitsgruppen des Ausschusses für Ernährungssicherheit im August 1996 weder über die Terminologie noch über manche Textpassagen einigen konnten, vor allem, wenn es um die Rolle des Handels ging. In jenen Ländern, die ihren Außenhandel bereits vor dem offiziellen Abschluß der Uruguay-Runde so weit liberalisiert hatten, daß er den Gatt-Vereinbarungen entsprach, zeigt sich immer deutlicher, daß das derzeit geltende System dem Nahrungsmittelmangel nicht entgegenzuwirken vermag. Ein Beispiel dafür ist Mexiko, das mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Nafta), das am 1. Januar 1994 in Kraft trat, diesen Weg eingeschlagen hat (siehe nebenstehenden Bericht).

Da das herrschende System der Nahrungsmittelversorgung in der Welt immer offensichtlicher an seine Grenzen stößt, muß ein internationaler Rahmen geschaffen werden, der einer ausreichenden Nahrungsversorgung oberste Priorität einräumt.2 Die Regierungen und die Zivilgesellschaft benötigen größere Handlungsspielräume und zusätzliche politische Instrumente, um auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene ihre Konzepte in der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelproduktion ausführen zu können, ohne dabei Sanktionen fürchten zu müssen. Zudem sollten sie im Notfall die Hilfe internationaler Einrichtungen in Anspruch nehmen können.

Glücklicherweise sind seit den fünfziger Jahren allmählich gesellschaftliche Gegenkräfte in Bereiche vorgedrungen, die bis dahin ausschließlich das Terrain von Staaten und multinationalen Firmen gewesen waren. Die Wahrung der Artenvielfalt, der Schutz der Wasserscheiden und der Erhalt regionaler Naturschutzgebiete sind vor allem den Initiativen vor Ort zu verdanken. Dabei stehen die Beziehungen der Bauern zu den Verbrauchern und zur Umwelt einer nachhaltigen Entwicklung nicht im Wege. In allen Fällen ist es aber unabdingbar, daß sich die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte aktiv beteiligen.

Manche dieser politischen Ansätze sind mit der Idee einer Liberalisierung des Handels einfach unvereinbar. Wenn Bürger und Regierungen den Hunger in der Welt beseitigen wollen, müssen sie die in den Gatt-Vereinbarungen auferlegten Zwänge abschütteln. Entweder müssen die Regeln der Welthandelsorganisation radikal verändert oder aber neue globale Rahmenbedingungen geschaffen werden, die auf dem Gebot der Ernährungssicherheit basieren. Von regierungsunabhängigen Organisationen und vergangenen Gipfeltreffen sind bereits ausgezeichnete Vorschläge ausgegangen.

So könnte man den Ansatz der Konferenz in Hot Springs aufgreifen, daß die Menschheit ein Recht auf Nahrung besitzt und daß allen voran die Staaten darauf hinwirken müssen, die Bedürfnisse der Bauern und der Verbraucher durch die Schaffung eines geeigneten Versorgungssystems in Einklang zu bringen; zudem sollten durch internationale Handelsabkommen die häufigen Schwankungen der Agrarmärkte ausgeglichen werden. Vom Gipfel im Jahre 1974 wäre die Idee zu übernehmen, daß man die internationale Zusammenarbeit verstärken und einen globalen Getreidefonds schaffen sollte.

Die Vorschläge der regierungsunabhängigen Organisationen für den Gipfel von 1996 schließlich sollten als äußerer Rahmen für die Beiträge der Zivilgesellschaften zu einer gesicherten Nahrungsmittelversorgung verstanden werden. Dabei müßte der Schwerpunkt auf der Herstellung und dem Vertrieb von Grundnahrungsmitteln liegen. Zusammen mit einem umfangreichen Aktionsprogramm könnten diese Entwürfe alternative Wege zu der begrenzten Zahl von Optionen aufzeigen, mit denen sich die Welternährungsorganisation derzeit befassen kann.

dt. Erika Mursa

* Institut für Landwirtschaft und Handelspolitik, Chicago.

Fußnoten: 1 Vgl. die Analyse zum Sojabohnenembargo und zum Getreidehandel von Richard Gilmore, „A Poor Harvest: The Clash of Policies and Interests in the Grain Trade“, New York (Longman) 1982. 2 Vgl. Edward Pisani, „Pour que le monde nourisse le monde“, Le Monde diplomatique, April 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von KAREN LEHMANN