Die Ukraine sträubt sich
Von ALAIN GUILLEMOLES *
NACH fünf Jahre dauernden Verhandlungen vergiftet die Frage, wie die Schwarzmeerflotte aufzuteilen sei, noch immer die russisch-ukrainischen Beziehungen. Unzählige Vertragsprotokolle, die zwischen den beiden slawischen Vettern hin und her gingen, sind letztlich Makulatur geblieben. Die vorerst letzte Erklärung stammt vom 24. Oktober 1996. Kurz vor Boris Jelzins Herzoperation suchte sein ukrainischer Amtskollege Leonid Kutschma den russischen Präsidenten im Sanatorium von Barwicha bei Moskau auf, um sich seiner Unterstützung zu vergewissern. Anschließend verlas der Sprecher des Kremls die Verlautbarung, daß die beiden Männer, was die Aufteilung der Schwarzmeerflotte betrifft, „sich in allen Fragen geeinigt“ hätten.1
Dieser informelle Vertrag, der ebenso vorläufig ist wie alle vorangegangenen2 , soll es den Schiffen der russischen Flotte erlauben, auf der Grundlage eines zeitlich auf rund zwanzig Jahre begrenzten Pachtvertrages, in ihrem Heimathafen Sewastopol auf der Krim zu bleiben. Die zu leistenden Zahlungen wurden dabei nicht festgelegt.
Das reichte schon aus, um die nationalistischen und kommunistischen Abgeordneten der russischen Duma laut protestieren zu lassen. Am Vortag der Visite des ukrainischen Staatspräsidenten beschlossen die Parlamentarier mit 337 Stimmen – ohne Gegenstimme –, daß die bereits ziemlich weit gediehene Aufteilung der Schwarzmeerflotte vorerst ausgesetzt werden solle.3 Mit dem Argument, Sewastopol habe einen Sonderstatus, bestritt die Duma die ukrainische Kontrolle des wichtigsten Militärhafens auf der Halbinsel Krim.4
Die führenden Politiker standen dem nicht nach. „Sewastopol gehört zu Rußland“, erklärte General Lebed wenige Tage vor seiner Entlassung aus dem russischen Sicherheitsrat gegenüber einer von der Schwarzmeerflotte herausgegebenen Zeitung.5 Den gleichen Tenor hatte auch die Stellungnahme des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow, der in der Tageszeitung Moskowskaja Prawda die russische Regierung aufforderte, Rußland müsse endlich seine Hoheitsgewalt über Sewastopol verkünden.6
Die ukrainische Führung war über solche Äußerungen beunruhigt und kritisierte umgehend die „territorialen Ansprüche“ des großen Nachbarn. Es waren also wieder einmal die Leidenschaften in Aufruhr, die das heikle Problem der früheren Sowjetflotte auszulösen vermag. Und wieder einmal wurde die ursprünglich für Mitte November vorgesehene Unterzeichnung des bislang letzten Vertrages zwischen dem russischen und dem ukrainischen Regierungschef auf unbestimmte Zeit verschoben.
Die Wunden der Geschichte
PRÄSIDENT Jelzin, der sich noch von seiner Operation erholt, dürfte es nur schwer gelingen, die in der öffentlichen Meinung grassierenden nationalistischen Leidenschaften zum Schweigen zu bringen. Der Hafen von Sewastopol, den Katharina II. 1783 gründete, gilt in vielerlei Hinsicht als ein Objekt des Nationalstolzes. Doch nur um den Preis der russischen Hoheit über Sewastopol könnte im kommenden Jahr der „Vertrag über Zusammenarbeit und Freundschaft“ zwischen den beiden slawischen Nationen unterzeichnet werden. Auch im Wirtschaftsbereich sind die Ukraine und Rußland zu keiner Einigung gekommen. In den letzten fünf Jahren wurden nach und nach alle Beziehungen gekappt.
Die Industrie hat diesen Schlag in voller Härte zu spüren bekommen. „Um einen Flugzeugmotor herzustellen, müssen vierzig Firmen zusammenarbeiten, die mitunter mehrere tausend Kilometer voneinander entfernt liegen. Die Einzelteile haben manchmal zusammen mehr als 150mal eine Grenze passiert“, erklärt Wladimir Rischow, industriepolitischer Berater des ukrainischen Präsidenten. Die Einführung von Zöllen und neuen Währungen hat die Dinge wesentlich erschwert und zu einem empfindlichen Produktionsrückgang geführt. Um diesen Zustand zu überwinden, machen sich ukrainische und russische Unternehmer für die Gründung von Finanz- und Industriegruppen (FIG) stark. Dabei handelt es sich um Konsortien, die von den beschlossenen Zöllen befreit werden sollen. Auf dem Papier gibt es bereits ein rundes Dutzend solcher Konsortien aus ukrainischen, weißrussischen und russischen Firmen, doch wenn man einem westlichen, in Kiew akkreditierten Diplomaten Glauben schenken soll, so ist mit Ergebnissen nicht so schnell zu rechnen: „Im Bereich der Wirtschaft siegen die politischen Leidenschaften noch immer über die Interessen der Industrie.“
Das beste Beispiel bietet die Frage der Gaslieferungen. Der ukrainische Bedarf ist gewaltig; er ist dreimal so hoch wie die französischen Importe – bei etwa gleicher Bevölkerungszahl. Schuld daran sind vor allem die gigantischen, Unmengen von Energie verschlingenden Kombinate im Osten des Landes. Der überwiegende Teil des ukrainischen Gases aber kommt aus Rußland. Folglich tut die Ukraine gut daran, Moskau nicht allzusehr herauszufordern, andernfalls könnte ihr der Energiehahn abgedreht werden.
Russische und ukrainische Unterhändler bemühen sich, einen solchen Krieg um das Gas abzuwenden. Rußland hat einen Umschuldungsplan akzeptiert; als Gegenleistung erhielt es Beteiligungen an den attraktivsten der ukrainischen Unternehmen, die sich derzeit auf dem Weg der Privatisierung befinden.
Das psychologische Klima zwischen der Ukraine und Rußland bleibt geprägt vom kolonialen Erbe. Niemand in der Ukraine hat die 1933 vom Sowjetregime künstlich ausgelöste Hungersnot vergessen, bei der sechs bis acht Millionen Ukrainer ums Leben kamen. Dennoch fassen nicht einmal die nationalistischsten unter den Ukrainern eine gänzlich von Rußland losgelöste Zukunft ins Auge. Aber die Moskauer Zentralisierungstendenzen beobachtet man in Kiew äußerst mißtrauisch: „Wir möchten als Partner behandelt werden, nicht als Kolonisierte“, kritisiert Wladimir Maximow, ehemaliger Direktor des ukrainischen Gasunternehmens Ukrgasprom.
In Moskau hingegen betrachtet man die Ukraine als eines der „historischen Gebiete“ Rußlands: Als sich Großfürst Wladimir 988 in Kiew, am Ufer des Dnjepr, taufen ließ, war die Verbindung zwischen dem slawischen Osten und der christlichen Welt hergestellt. Die Ukraine, die bevölkerungsstärkste der ehemaligen Sowjetrepubliken (Rußland ausgenommen), nahm zudem in der UdSSR eine besondere Stellung ein: Auf ihrem Territorium war 65 Prozent der sowjetischen Metallindustrie konzentriert, die Ukraine lieferte 40 bis 50 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte, außerdem waren hier große Teile der Kohleförderung und die wichtigsten Zweige der Rüstungsindustrie angesiedelt.
In der gesamten Sowjetzeit waren die ukrainische und die russische Elite eng verflochten: Leonid Breschnew stammt aus Dnepropetrowsk (in der östlichen Ukraine), Chruschtschow war ebenfalls Ukrainer – er war es auch, der 1954 als sowjetischer Präsident die Eingliederung der Krim in die ukrainische SSR beschloß. Von den 52 Millionen Einwohnern der Ukraine sind 11 Millionen Russen. In ihren Augen ist die Bildung einer neuen Union so selbstverständlich wie wünschenswert, ja im Grunde unvermeidlich. Einzig die Wechselfälle eines schwierigen Kampfes um die Nachfolge im Kreml und der langandauernde Konflikt um Tschetschenien haben ihrer Meinung nach die russische Regierung bislang daran gehindert, die alten historischen Bande neu zu knüpfen.
Der russische Außenminister Jewgeni Primakow hatte auf einer Pressekonferenz im Januar 1996 geäußert: „Präsident Jelzin hat mir das Mandat übertragen, die Beziehung zu den Ländern der GUS zu stärken.“ Und als Ziel seiner ersten Auslandsreise hatte der Nachfolger von Andrej Kosyrew Kiew gewählt.
Bindeglied zwischen GUS und Europa
DOCH aus der Perspektive der ukrainischen Hauptstadt erscheint die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, zu deren Gründungsmitgliedern die Ukraine gehört, als eine Fiktion. „Die Partner der GUS haben 596 Abkommen unterzeichnet, und keines hat bisher zu greifbaren Ergebnissen geführt“, teilt uns eine hochgestellte Persönlichkeit im ukrainischen Außenministerium boshaft mit. Die Ukraine hat sich wohlweislich gehütet, dem Militärbündnis der GUS beizutreten, und besitzt heute einen Neutralitätsstatus. Die ukrainischen Machthaber stehen also mit einem Fuß in der GUS, mit dem anderen außerhalb.
Die beiden Präsidenten, die es seit 1991 in der Ukraine gab (Leonid Krawtschuk und Leonid Kutschma), haben mit erstaunlicher Hartnäckigkeit die Konsolidierung der Unabhängigkeit betrieben. Seit Juni 1996 besitzt die Ukraine eine eigene Verfassung und seit September eine eigene Währung, die Griwna. Die finanzielle Situation beginnt sich zu stabilisieren, und die Regierung hat die Umstrukturierung der Industrie in Angriff genommen. Zwar bleibt Rußland bei weitem der wichtigste Handelspartner, doch die Wirtschaftsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten, Deutschland und Polen entwickeln sich rasant. Im übrigen unternimmt Kiew seit einigen Monaten zahlreiche diplomatische Annäherungsversuche gegenüber Warschau.
Fünf Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit versucht die Ukraine, die sich stets als ein gegenüber dem turbulenten Rußland stabiles Land präsentiert hat, ihre Rolle als Bindeglied zwischen Europa und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten genauer zu definieren. Die USA ermutigen sie auf diesem Weg, um die Entstehung eines neuen „slawischen Blocks“ zu verhindern. Die Europäische Union hingegen ist derzeit vor allem an einer Normalisierung der bilateralen Beziehungen zwischen Kiew und Moskau interessiert.
dt. Eveline Passet
* Journalist (Kiew).