Der Schatten von Thomas Sankara
DAS einstige Obervolta, eine Enklave ohne Bodenschätze, wurde in der Zeit, als Hauptmann Thomas Sankara sich an der Macht befand, zu Burkina Faso. Seitdem er 1987 ermordet wurde, scheint das „Land der Unbestechlichen“ eine gelungene Demokratisierung zu durchlaufen. Doch fernab von den Regierungsgebäuden haben die stetigen Mühlen der Erinnerung Sankara insgeheim längst in einen mythischen Helden verwandelt, aufgebahrt in der Ruhmeshalle einer jüngeren Generation, die sich auf der Suche nach einer panafrikanischen Identität befindet.
Von unserem Korrespondenten MICHEL GALY *
„Ich spreche im Namen jener Millionen Menschen, die in Ghettos leben, weil sie eine schwarze Hautfarbe haben. Wir sehen uns als Erben aller Revolutionen auf der ganzen Welt.“ Der 35jährige Michel Kabaré, Taxifahrer in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, zitiert, als wären es seine eigenen Worte, Passagen aus der bewegenden Rede, die Hauptmann Thomas Sankara, der ehemalige Anführer der burkinischen Revolution, am 4. Oktober 1984 vor der UNO-Vollversammlung gehalten hatte.1
Der Taxifahrer führt einen zu den Kultstätten der quasi-religiösen Verehrung, welche die Association Thomas Sankara (ATS) ihrem Idol entgegenbringt: Jedes Jahr am 15. Oktober, dem Todestag des „Präsidenten der Armen“, findet sich an seinem Grab auf dem Friedhof von Dagnoen eine recht jugendliche Trauergemeinde ein. „80 bis 90 Prozent der Gymnasiasten sind Sankaristen“, behauptet der Präsident der ATS, doch bei den letzten Wahlen erhielten die Splittergrüppchen, die sich auf Sankara berufen, nur rund fünf Prozent der Stimmen.
Für die Universitätsdozentin Monique Ilboudo mischt sich hier „eine starke Nostalgie“ mit einer gewissen Unkenntnis der jüngsten, noch brandaktuellen Geschichte. „Erzählen Sie uns von ihm“, bitten die Studenten sie immer wieder. „Alteingesessene Afrikaner“, etwa die Anthropologin Armelle Faure, die sich in den Dörfern des Bissa-Gebiets gut auskennt, wissen, daß das einfache Volk Sankara noch immer verehrt.
Im Gewimmel des großen Marktes von Ouagadougou, dem Symbol des Aufschwungs, besitzt der 27jährige Issu Ouedraogo einen kleinen Stand mit gerahmten Fotos, Kassettenaufnahmen der großen Reden, naiven Farbdrucken und Votivbildchen des toten Sankara. Diese idealisierenden Porträts hängen auch in Conakry, Abidjan oder Cotonou: auf Motorrädern oder Taxis, zuweilen auch in intellektuellen Salons oder Studentenbuden. In Ghana ist das Bildnis des ungestümen Hauptmanns noch offiziell mit dem seines alten Freundes Jerry Rawlings verbunden.2 Bis hin zum Putschisten-Präsidenten des Niger, General Bare Mainassara, haben wirklich alle den „Kameraden Thomas Sankara“ für sich beansprucht.
Marlène Zebango vom Volk der Fulbe, die pasionaria der Opposition, verweist auf das schmerzliche Schlüsselproblem, das vielen die Trauerarbeit unmöglich macht: „Wir wissen nicht, was am 15. Oktober 1987 tatsächlich passiert ist.“ Wollte Thomas Sankara – der damals den Widerstand der Parteien, die er zu einer Volksfront zusammenfassen wollte, ebenso zu spüren bekam wie die heftigen Angriffe der Studenten, die das „militärisch-faschistische Abdriften des Regimes“ anprangerten – seine Widersacher militärisch liquidieren, die ihm dann, in die Enge getrieben, zuvorgekommen sind? Oder hatten seine Feinde unter der Führung von Blaise Compaoré schon seit längerem ihre Truppen mobilisiert, um den Hinterhalt am Conseil de l'Entente zeitgleich mit der Besetzung des Luftwaffenstützpunkts und des Radios durchzuführen?3
Alles starrt wie gebannt auf diesen 15. Oktober 1987. Ein regelrechter Erinnerungskult rankt sich um diese Blutschuld mitsamt der „offenen Fragen“. So als habe man am Ende jener unmöglichen Revolte ein kollektives Verbrechen begangen. Zudem sind da die spektakulären Kehrtwendungen einiger Akteure des Dramas, bei denen Gewissensbisse abwechseln mit harscher Kritik an den recht willkürlichen Entscheidungen und den militaristischen Rekrutierungen, die das Markenzeichen der Comités de défense de la révolution (CDR) waren.
Die idealisierenden Farbdrucke zeigen einen Thomas Sankara in ewiger Jugend mit aufwärtsgerichtetem Blick. Unter den „revolutionären Messianismen der Dritten Welt“ gibt es viele „Prophetismen“, die dieser kurzen und tragischen Leidensgeschichte entsprechen4 , wie der Harris-Kult an der Elfenbeinküste oder der Simon- Kimbanga-Kult im Kongo5 . In populären Rhythmen findet sich ein Echo dieses Schmelztiegels, Ausdruck einer Vorstellungswelt, deren Helden – im Gegensatz zu der herrschenden sittlichen und politischen Korruption – in dem, was sie sagten und taten, integer waren; in ihnen taucht Sankara häufig an der Seite von Patrice Lumumba auf, dem Premierminister des ehemaligen Belgisch-Kongo, der ebenfalls ermordet wurde.
Was hingegen den aktuellen Machthaber anbelangt, so gilt er auf dem schwarzen Kontinent vor allem als „Brudermörder“, da beide Männer von Thomas Sankaras Vater großgezogen worden waren. Die Mythenforscherin Eleonore Lou Sy erklärt, daß in den afrikanischen Märchen der Adoptivsohn häufig seinen Bruder – den leiblichen Sohn – tötet, aus Eifersucht oder unter dem Druck eines unerbittlichen Schicksals. Michel Izard, ein genauer Kenner des Mossi-Staates, verdeutlicht diese „Rivalität der Prätendenten“, indem er feststellt, daß „bei jedem Machtwechsel im Königreich Brüder ein und desselben Vaters zu Widersachern, wenn nicht gar zu Feinden werden“.6
Demokratisierung? „Ein tagtäglicher Kampf!“ Politische Kurskorrektur? „Gewiß, es hat einen ideologischen Umschwung gegeben; aber wir halten fest an den Zielen der Revolution!“ Feierlich und geheimnisvoll legt Präsident Blaise Compaoré in seinem von der Sahelsonne ausgeglühten Palast in Ouagadougou nach und nach die scheinbar wohlabgestimmten Etappen der „Öffnung“ dar, inklusive ihrer offensichtlichen Widersprüche. Zum Beispiel die Präsidentschaftswahl vom Dezember 1991, wo er als Einheitskandidat gewählt wurde, allerdings mit einer rekordverdächtigen Stimmenthaltung von 75 Prozent. Oder die Parlamentswahlen vom Mai 1992, als seine Partei, die Organisation pour la démocratie populaire – Mouvement du travail (ODP-MT)7 , die große Mehrheit der Sitze gewann und dadurch zu einer jener ultradominanten Parteien wurde, wie es sie in allzu vielen afrikanischen Staaten gibt, die prinzipiell eine pluralistische Verfassung haben. Oder auch die Kommunalwahlen vom Februar 1995, bei denen es in den Rathäusern einen regelrechten Erdrutschsieg gab: 65 Prozent der Stimmen entfielen auf die Partei des Präsidenten.
Diese Strategie der „Legitimierung der Macht“, die für die Kreditgeber ebenso wie für die eigenen Landsleute bestimmt war, war im Februar 1996 noch durch die Ernennung eines Technokraten zum Premierminister ergänzt worden. Und durch die Auflösung der ODP-MT, die auf ausdrücklichen Befehl des Präsidenten sogleich durch einen Zusammenschluß von elf Parteien ersetzt wurde, den man Centre pour la démocratie et le progrès (CDP) taufte.
Joseph Ki-Zerbo, ein alter christdemokratischer Historiker und Vorsitzender des Parti pour le développement et le Progrès (PDP)8 , der eine ganze Reihe von Regimes überlebt hat und unter Thomas Sankara als „Volksfeind“ bezeichnet worden war, kritisiert die gegenwärtige „gefährliche Eingleisigkeit“. Er ist besorgt über die Erstarrung des politischen Systems, die zurückzuführen sei auf die „ansatzweise nationalistische Mentalität der aktuellen Machthaber, die nicht bereit sind, ihre Macht mit anderen zu teilen“. Eine Praxis, die durchaus an sankaristische Absichten erinnert, das gesamte politische Spektrum mit allen Mitteln zusammenzuführen.
Ist das ein überzogenes Urteil über ein Regime, das sich seit dem Staatsstreich von 1987 im unruhigen Westafrika eher als Insel der Stabilität erwiesen hat? Jedenfalls spielt sich die einzige – sehr verschlüsselte – Debatte innerhalb der Regierungsmehrheit ab. Politologen bestätigen ohne zu zögern und in sehr harten Worten, was auch die Menschen auf der Straße bitter und enttäuscht erzählen: Eine schleichende Korruption der politischen Sitten, aber auch der Menschen selbst greift um sich, die mit dem Puritanismus der Sankara-Zeit stark kontrastiert.
Selbst eine so moderate Zeitung wie der Indépendant sieht sich zu harscher Kritik veranlaßt: „Jeder verantwortungsvolle Posten, den man angeboten bekommt, ist in erster Linie eine Gelegenheit zur Unterschlagung von Geldern. Stattliche Villen, Luxuslimousinen, Mätressen en masse... Eine Generation von fettglänzenden, stiernackigen Neureichen von entwaffnender Arroganz ist in Ouagadougou herangewachsen.“ Die politische und finanzielle Macht ermöglicht die „Gründung fiktiver Organisationen, in die Spitzel eingeschleust werden, und die Korrumpierung der Führungsriegen von politischen Organisationen, und zwar in einem Ausmaß, daß „überzeugte Demokraten inzwischen so gut wie unauffindbar sind“.9
Wie anderswo auch, wurzelt diese „Politik des Bauches“ in einer altehrwürdigen, Macht und Reichtum identifizierenden Tradition, derzufolge man „die Stammesherrschaft verspeist“: Jede Wahl geht einher mit gekauften Stimmen, Geschenken und Säcken voller Reis. Wenn es sich bei der „politischen Kurskorrektur“ am Ende um eine bloße Restauration handelte?
Das Ende des Sankara-Regimes führte zu einem Wiederaufleben privater Initiativen und Investitionen, die bis dahin verteufelt worden waren.10 Doch diese wirtschaftliche „Schönheitskur“ – ein sehr relativer Begriff in einem Land, wo das Bruttoinlandprodukt 1995 auf 221 US- Dollar pro Kopf geschätzt wurde – ist eine Folge der „selbstauferlegten Anpassung“, die seinerzeit von Thomas Sankara durchgeführt worden war: Selbstversorgung war oberstes Gebot, alle Funktionäre hatten den landesüblichen Lendenschurz faso fani zu tragen, es galt ein Importverbot für ausländische Früchte, unter anderem für Bananen von der Elfenbeinküste.11
Die Rache der Zivilgesellschaft an Sankaras politischem Malthusianismus zeigt sich auch in einem Aufschwung der Kleinunternehmen in den Städten, der allerdings durch die Abwertung des CFA- Francs gebremst wird. Die sich abzeichnenden Umrisse einer kritischen und selbstbewußten Zivilgesellschaft tragen das Ihre zu einer politischen Öffnung bei, insbesondere durch eine „Verrechtlichung“ der politischen Sphäre und durch ein Wiedererstarken des kulturellen Lebens, was beides durch Frankreich intensiv unterstützt wird.12
Diplomaten und Entscheidungsträger können freilich wenig anfangen mit einem Phantom, das unbefriedigt in den Köpfen der Jugend herumspukt, und mit dem Wiederkäuen einer Tragödie, dem die enttäuschten Erwartungen den Rhythmus vorgeben. Was aber vermag ein Schatten? Die afrikanische Kosmogonie ist empfänglich für die unaufhörliche Wiederkehr des überindividuellen und unberührbaren Bestandteils einer Person. Der Philosophiestudent Emmanuel beruft sich auf den senegalesischen Dichter Birago Diop, um das auszusprechen, was viele über das posthume Schicksal des charismatischen Präsidenten von Burkina Faso denken: „Die Toten sind nicht tot ...“13
dt. Miriam Lang
* Soziologe