Koran, Politik, Gesellschaft
WIE eine Zauberformel zur Erklärung aller Probleme in der arabischen und islamischen Welt erscheint sie regelmäßig in den Medien: die „islamistische Gefahr“, die angeblich in immer neuen Ländern lauert. Diesem Bild will „The Islamist Dilemma“1 entgegentreten, indem es den Islamismus in seinem Entstehungszusammenhang deutet.
Was auf den knapp 400 Seiten des Buches geboten wird, dürfte für Nahost- und Nordafrika-Spezialisten ebenso interessant sein wie für weniger kundige Leser. Als Fallstudien werden Algerien, Tunesien, Jordanien, Palästina, Ägypten und der Sudan abgehandelt, daneben stehen Analysen zu Schwerpunktthemen wie Jugendkultur oder wirtschaftliche Zusammenarbeit.
In ihrer Einleitung, die sich auf den historischen Kontext des zunehmenden Erfolgs der Bewegung konzentriert, definiert Laura Guazzone den Islamismus als „bewußte Entscheidung für die muslimische Glaubenslehre als Richtschnur des politischen Handelns“. Dieser Definition können auch die Vertreter der Islamisten an den Universitäten zustimmen, die Historisierung des Phänomens, die die spirituelle Dimension beiseite läßt, wird ihnen freilich weniger zusagen. Sie bevorzugen eine kulturwissenschaftliche Sicht, die den Islamismus als notwendiges Resultat des Glaubens der Muslime versteht; während die historische Schule davon ausgeht, daß „es den Islamismus gibt, weil es der Islam so will“, verfechten sie den Standpunkt, daß „der Islamismus Gottes Wille ist“.
Laura Guazzone sieht die Wiedererstarkung der Religion im Zusammenhang mit Prozessen der politischen Modernisierung als eine Reaktion, wie man sie ähnlich auch im Christentum und Judentum beobachten kann. Für die Machthaber in den islamischen Ländern bedeutet das eine Herausforderung. Auch wenn es keine offen formulierte Losung für ihren Kampf gibt, treten die Islamisten für zwei Grundüberzeugungen ein: die Einführung der Scharia (des islamischen Rechts und Sittengesetzes) und die Errichtung eines Staates, der eine Gesellschaft von rechtgläubigen Muslimen gewährleistet.
Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, als die traditionellen muslimischen Wertvorstellungen unangefochten galten, treten die Islamisten nun als Neuerer auf, wobei der Staat die entscheidende Rolle spielt: Der nichtislamische Staat gilt als Ursache der Abweichung vom rechten Weg, während der islamische Staat zum Heilsbringer für die Gemeinschaft der Muslime wird. Im Bereich des sunnitischen Islam konstatiert Laura Guazzone allerdings seit den fünfziger Jahren eine unterentwickelte theologische und ideologische Dimension.
Das ist freilich ein Widerspruch, der den Anspruch der Islamisten als Erneuerer der Gesellschaft grundsätzlich in Frage stellt. Der Sudanese Hassan al-Turabi, einer der einflußreichsten Islamistenführer, hat dazu erklärt: „Ohne eine muslimische Gesellschaft kann es keinen muslimischen Staat geben. Alle Versuche, eine politische Ordnung zu etablieren, die eine wahrhaft islamische Gesellschaft hervorbringen soll, laufen darauf hinaus, der bestehenden Gesellschaft Gesetze aufzuzwingen, die sie ablehnt.“
NACH Ansicht des französischen Forschers Olivier Roy liegt hier der Grund, weshalb es islamistischen Staaten wie dem Iran bislang weder im eigenen Land noch anderswo gelungen ist, eine neue politische Ordnung durchzusetzen. Dabei ist auch auf einen Umstand hinzuweisen, den Oliver Roy nicht erwähnt: Der Iran hat bislang keine Anstalten gemacht, ein Ziel anzustreben, das eigentlich zu den unverzichtbaren islamistischen Grundsätzen gehört: die Errichtung eines muslimischen Staatswesens, das das ganze „Haus des Islam“ umfaßt, also keine Rücksicht auf nationale Grenzen nimmt.
Unter den Islamisten gibt es einerseits die „Konservativen“, wie etwa die Wahhabiten, die in der Scharia ein geschlossenes und unveränderliches System sehen, und andererseits „Evolutionisten“, die das islamische Recht ebenfalls für ein umfassendes Wertesystem halten, das es jedoch zu interpretieren und anzupassen gelte. Solche Unterscheidungen bestehen jedoch nur in Hinblick auf die Auslegung der heiligen Texte; für das politische Handeln muß man andere Kategorien bemühen, die nicht immer klar abzugrenzen sind: Hier stehen den „Revolutionären“, die den islamischen Staat „von oben nach unten“ durchsetzen wollen (wenn nötig mit Gewalt), die „Reformer“ gegenüber. Zu ihnen gehören die „Muslimbrüder“, die an den Aufbau „von unten nach oben“ glauben und auf langsamen Wandel und politische Übereinkünfte setzen. Eine gute Analyse beider Richtungen bietet der Beitrag von Ijad Barghuti über Jordanien und die palästinensischen Gebiete. Demnach sind der Islamische Dschihad und die Islamische Befreiungspartei (Hisb al-Tahrir) der revolutionären Strömung zuzurechnen, die führende Rolle in der reformistischen Fraktion spielen die Muslimbrüder.
EINE interessante Arbeit ist auch das Buch von Beverly Milton-Edwards: „Islamic Politics in Palestine“2 . Auch sie widmet sich ausführlich der relativ unbekannten Islamischen Befreiungspartei. Ihre Stärke liegt allerdings in der sorgfältigen Analyse der islamistischen Bewegung in Palästina seit ihren Anfängen zur Zeit des britischen Mandats. In den dreißiger Jahren waren es vor allem zwei Männer, die entscheidenden Einfluß auf die Bewegung gewannen: Scheich Izz al-Din al- Qassam und Hadsch Amin al-Husseini, der damalige Mufti von Jerusalem. Danach entstand gleichzeitig im Westjordanland und im Gazastreifen die Bewegung der Muslimbrüder. Diese beiden Gebiete waren zwanzig Jahre lang aufgrund des israelischen Unabhängigkeitskriegs von 1948 getrennt gewesen, bis sie durch die israelische Besetzung 1967 wieder zusammengeführt wurden, was jedoch für die Muslimbrüder im Westjordanland zugleich hieß, daß sie von ihrem Hauptquartier in Jordanien abgeschnitten wurde. In Gaza entstand, unter israelischer Besatzung, die islamische Wohlfahrtsorganisation Mudschama; und dort begann, zehn Jahre später, auch der Aufstieg der islamistischen politischen Bewegung, die zunächst von Israel unterstützt wurde, um ein Gegengewicht zur PLO zu schaffen.
Im letzten Drittel des Buches geht es um die Intifada und den wachsenden Einfluß von Hamas, deren anfänglich gute Beziehungen zum israelischen Staat abrupt abbrachen, als sie sich einer Politik der Gewalt zuwandte. Hier erfährt man, welche Ansätze zu einer Friedensregelung es bis zum Abkommen von Oslo gab und wie die islamistischen Gruppierungen zu ihnen standen, während gleichzeitig ihr jeweiliger „bewaffneter Arm“ an Einfluß gewann. Die Analyse der verschiedenen Quellen, aus denen sich das Denken der islamistischen Gruppen in Palästina nährt, hätte noch ausführlicher ausfallen dürfen. Auch die Entwicklung seit Beginn der Intifada wird leider nur in einem Kapitel zusammengefaßt, obwohl die Islamisten in dieser Zeit zu einer bestimmenden politischen Kraft im Kampf um die Macht wurden und von der PLO nicht mehr einfach ignoriert werden konnten.
WENDY KRISTIANASEN LEVITT
dt. Edgar Peinelt