Vom schwierigen Verhältnis der Malerei zur Geschichte
AM 19. Dezember wird in Paris die Ausstellung „Face à l'histoire“ (Vom Umgang mit Geschichte) eröffnet. Dieses ehrgeizige Projekt konfrontiert die wichtigsten historischen Ereignisse seit 1933 mit den Sichtweisen der bildenden Künstler. Gewiß handelt es sich hier nicht um eine Wiederbelebung der „Historienmalerei“, in Abgrenzung zu der schließlich die moderne Malerei ausgangs des 19. Jahrhunderts entstanden war. Doch die Ausstellung weiß sich einer gewissen Vorstellung von „Modernität“ verpflichtet, und entsprechend kontrovers wird die getroffene Auswahl der Künstler und Kunstwerke aufgenommen werden, zumal ausgerechnet solche Werke ausgeschlossen wurden, die in herausragender Weise die Schrecken ihrer Zeit überliefert haben.
Von LIONEL RICHARD *
Wer sich ein wenig für zeitgenössische Kunst interessiert, der weiß, daß sich etliche Künstler überall auf der Welt durch die Geschichte von 1930 bis heute haben inspirieren lassen. Und nicht erst durch die Kunstwerke der letzten Jahrzehnte ist man zu der Einsicht gelangt, daß die Kunst auch zur Interpretation der Geschichte, zur Vertiefung historischer Kenntnisse wie auch zur Einsicht in mentalitätsgeschichtliche Zusammenhänge beitragen kann. Die Hoffnung allerdings, mittels der Kunst zu einer historischen Wahrheit gelangen zu können, erweist sich als trügerisch: Geschichte und Kunst sind zweierlei Dinge.
Der Gang der Geschichte beeinflußt Inspiration und Stil von einzelnen Künstlern ebenso wie von Künstlergruppen; er kann sogar die Entstehung bestimmter Tendenzen oder Strömungen begünstigen. Doch die Geschichte ist kein Bilderbuch, und die Kunst ist nicht die Bebilderung von Geschichte, sofern darunter eine Abfolge von Schlüsselepochen und vermeintlich einschneidenden Ereignissen verstanden wird. Gerade durch die Transzendenz der Geschichte entsteht die Kunst. Der Schweizer Essayist Heinrich Wölfflin schrieb zu Anfang dieses Jahrhunderts in seinen „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen“: „Die bildenden Künste sprechen das Auge an, sie haben ihre eigenen Bedingungen und ihre eigenen Existenzgesetze.“1
Die Besucher, die diese Meinung teilen, werden wahrscheinlich der Ausstellung „Face à l'histoire“2 im Pariser Centre Pompidou mit einem gewissen Zögern begegnen. Die Organisatoren wollen nach eigener Aussage zeigen, wie der moderne Künstler „von 1933 bis heute auf die historischen Ereignisse reagiert hat“. Mit anderen Worten: Sie präsentieren mehr als ein halbes Jahrhundert Malerei, nicht nur mit Rückbezug auf Ereignisse in Frankreich, sondern in der ganzen Welt. Einzige Bedingung dabei ist, daß die betreffende Kunst „modern“ ist.
Welchen Inhalt sie aber diesem Wort geben, bleibt ihr Geheimnis. In der Mitteilung an die Presse heißt es dazu lediglich, man verfolge mit der gewählten Thematik das Ziel, den Ereignissen „seit 1933 (Ausbreitung des Totalitarismus, Weltkrieg und Bürgerkriege, politische Krisen) jene Werke gegenüberzustellen, die sich der Grundfrage moderner Kunst verschrieben haben und gleichwohl die Umwälzungen des Jahrhunderts in ihrer ganzen Tragweite bildnerisch zu gestalten trachten“.
Zu diesem Zweck sind die Exponate auf zwei Bereiche verteilt. Die weitläufige große Galerie auf der fünften Etage beherbergt die Periode 1933-1980. Im Korridor zwischen den Ausstellungsräumen regen zahlreiche Schaukästen mit Fotografien, Zeitungen, Plakaten, Magazinen und Büchern dazu an, die Werke in den Kontext ihrer Epoche einzuordnen. Der zweite, kleinere Bereich in der Nordgalerie ist den letzten fünfzehn Jahren vorbehalten; hier soll „der Blick des Künstlers auf die Geschichte heute“ festgehalten werden.
Der Gang durch die Ausstellung ist in vier Abschnitte unterteilt. Die Phase von 1933 bis 1945 heißt „die Vision der Apokalypse“. Der Teil von 1945 bis 1960 ist überschrieben „Das Nichtdarstellbare oder Das historische Subjekt in der Krise“ und der Entdeckung des „Trümmerhaufens“ gewidmet, der, wie es scheint, einen „Ausweg aus den Wirren der Zeit“ ebenso wie die „Kenntlichmachung von Henkern und Opfern“ verhinderte. Für 1960 bis 1980 steht „politische Kritik, Kritik des Bildes, künstlerische Utopie“. Zum Abschluß dann ein Blick auf neue Ansätze in der zeitgenössischen Kunst, die nach der hier vorgelegten Definition von einer Suche „nach den Wurzeln der Identität bis hin zu einer neuen Blüte der Protestkunst“ reichen.
Im Rahmen dieser chronologischen Unterteilung kann jeder Abschnitt zur Illustration der Gesamtidee und der einzelnen Untergruppen dienen. In Zahlen ausgedrückt heißt das: 450 Exponate von über hundert Künstlern. Von Beckmann, Chagall, Dali, Masson und Picasso bis Fautrier, Guttuso, Pignon, Rauschenberg, Tapiès, Beuys und Warhol. Und vielen andere. Picasso ist leider ohne „Guernica“ vertreten: Aus Angst vor einer Beschädigung des Werkes verweigerten die spanischen Behörden seinen Verleih.
Die Planer der Ausstellung sind optimistisch, daß sich „aus der Fülle der Erfahrungen und der Vielfalt der gruppierten Werke eine Lehre ziehen läßt: daß nämlich das „20. Jahrhundert sich auf eigene Weise, und weit entfernt vom sozialen Realismus, eine eigene Kunst erfunden hat, die letztendlich auf eine Darstellung der Zeit abzielt, auf eine „Geschichtsmalerei“ außerhalb jeder akademischen Norm“. Sie scheuen sich nicht zu sagen, daß letztlich herausgekommen ist, was herauskommen sollte. Bei solch einer Handhabung des Beweisverfahrens wären Zweifel natürlich gänzlich unwillkommen.
Alle Erklärungen, die in der Pressemitteilung geliefert werden, legen offen, mit welcher internen Ausrichtung dieses monumentale Projekt angegangen wurde. Entgegen der deterministischen Konzeption der Veranstalter erfindet eine Epoche aus sich selbst heraus rein gar nichts. Es sind die Menschen, die etwas erfinden. Die Kunst einer Epoche, sollte man meinen, erweist sich aus der Summe der Werke, die alle Künstler der jeweiligen Zeit hervorgebracht haben, wobei unterstellt wird, daß der jeweilige Künstler sich durch eine freie und individuelle schöpferische Tat auszeichnet und nicht passiv die Tage verstreichen läßt. Reagiert nicht auch der Künstler, der jedes politische oder soziale Engagement ablehnt, mit seinem Schaffen bewußt oder unbewußt auf die Geschichte? Es sei unmöglich, sagte der Maler Edouard Pignon 1966, daß sich ein wahrer Künstler in seinen Werken den „bildlichen Beunruhigungen seiner Zeit“ entziehen könnte.
Was alles fehlt
ES ist erstaunlich, wie hier eine moderne Kunst des 20. Jahrhunderts konstruiert wird, die zwar in der Reaktion auf die Geschichte begründet wird, deren konstitutives Moment gleichwohl in der Überwindung des sozialen Realismus bestehen soll; insbesondere, wenn man dann Bilder von Käthe Kollwitz, Otto Dix, George Grosz, Francis Gruber, André Fougeron, Renato Guttuso oder Boris Taslitzky ausstellt. Oder wollte man damit dem Betrachter suggerieren, daß deren ästhetische Mittel im Vergleich mit denen anderer Künstler wie Dali, Manessier, Mathieu, Motherwell, Vedova und Wols überholt und veraltet sind? Dieser Schluß drängt sich auf, wenn man sieht, in welchem Umfang allen erdenklichen Spielarten der abstrakten Malerei im Vergleich zu figuralen Darstellungen (realistischer, surrealistischer, narrativer oder freier Provenienz) Rechnung getragen wird.
Sich auf den Begriff der „Historienmalerei“ zu beziehen, um diesen in Zusammenhang mit den Künstlern des 20. Jahrhunderts zu rehabilitieren, ist eher kurios und steht in krassem Widerspruch zur Entwicklung gerade der „modernen“ Kunst. Mit dem Ersten Weltkrieg landeten die Bilder, die öffentliche Ereignisse verherrlichten und mit denen so viele Künstler der akademischen Malweise im 18. und 19. Jahrhundert ihr Brot verdient hatten, in der Rumpelkammer der Geschichte. Der nicht eben bilderstürmerische Kunsthistoriker Salomon Reinach erklärte das Genre 1930 für tot und stellte fest, daß die Schlachtfelder seit 1914 nichts Bedeutendes hervorgebracht hätten, das sich den Arbeiten von Meissonier, dem Illustrator der napoleonischen Feldzüge, hinzufügen ließe. 1920 formulierte Klee den Nachruf auf eine gegenständliche Kunst, die mit der Fotografie zunehmend obsolet geworden war: „Die Kunst reproduziert nicht, was sichtbar ist, sie macht sichtbar.“
Paradox ist es, wenn ausgerechnet die Pariser Gruppe um Alain Jouffroy, die sich seit 1977, teils provokativ, teils ironisch, auf die Rückkehr zu einer „Historienmalerei“ beruft, in dieser Ausstellung kaum vertreten ist. Errö und Monory sind zwar vorhanden, treten aber kaum hervor. Unverständlicherweise ist Velickovic lediglich mit einem Plakat aus dem Jahre 1968 vertreten, das in keiner Weise die Ausdruckskraft seiner Gemälde vermittelt. Dabei dreht sich fast sein gesamtes Werk – insbesondere die Arbeiten der letzten Jahre, die von dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien geprägt sind – um eine Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen. Die anderen Mitglieder der Gruppe – Chambas, Dufour, Fromager, Recalcati – fehlen ganz.
Wenn man zu viel unter einen Hut bringen will, müssen Lücken offen bleiben. Und die Liste der Vergessenen ist lang: unbegreiflich, daß Gromaire, Masereel, Rouault und Vieira da Silva außer acht gelassen wurden; daß man weder den Arbeiten von Lapoujade zu den Themen „Aufstand“ und „Folter“ aus der Zeit des Algerienkriegs noch den Werken von Kijno aus der Zeit der Vietnam-Demonstrationen Platz eingeräumt hat, daß Cueco nur als Mitwirkender an einem Kollektivgemälde vertreten ist und daß Ernest Pignon- Ernests Aktionen gegen die Apartheid in Südafrika mit keiner Silbe erwähnt werden.
Und überhaupt – hat Südafrika keinen einzigen Künstler, der es verdient, als „modern“ bezeichnet zu werden? Und was ist mit den anderen Ländern in Afrika und Asien? Nicht einmal in Südamerika, möchte man bei der Ausstellung meinen, scheint es solche Künstler zu geben, abgesehen von Orozco, Siqeiros und Matta, die in Frankreich bekannt sind. Zum Glück legen die Schaukästen mit Dokumentationsmaterial, insbesondere der vorletzte, der dem kämpfenden Afrika gewidmet ist3 , das Gegenteil nahe. Hier wird deutlich, daß die „modernen“ Schriftsteller, die an den Kämpfen der Zeit teilhaben, durchaus Aufmerksamkeit verdienen, auch wenn sie nicht in Europa oder den Vereinigten Staaten leben. Und an den bildenden Künsten geht das, was sich in der Literatur tut, sicherlich nicht vorbei. Bei einer Ausstellung in Glasgow im letzten Sommer4 beeindruckte gerade die überraschende Originalität etlicher südafrikanischer Künstler, die es verstanden, bei ihrer Anklage der Apartheid Tradition und neue Formen miteinander zu verbinden.
Aus sechzig Jahren Kunst mit dem Anspruch, „modern“ zu sein, eine Auswahl zu treffen, bei der die Entstehung der Kunst weltweit an die Reaktionen der Künstler auf historische Ereignisse geknüpft wird, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Insbesondere wenn es sich um Ereignisse handelt, die vom Extrem menschlicher Niedertracht bis zum Höhepunkt menschlicher Größe reichen, von der Vernichtung der Juden durch die Nazis bis zur Landung des Menschen auf dem Mond. Durch die Konzentration auf einzelne Ereignisse hätte man vermeiden können, daß die Geschichte als Ansammlung von Bruchstücken oder als Chaos erscheint. Oder man hätte eine große Anzahl von Werken von nur einigen, weltweit anerkannten Künstlern zeigen können. Hier hängt nun ein Bild des dänischen Surrealisten Wilhelm Freddie neben dem abstrakten Konstruktivisten Otto Freundlich, dann kommt ein Werk des italienischen Realisten Renato Guttuso und so weiter – eine unglückliche Anordnung, die nach Gemischtwarenlager und Schlußverkauf aussieht. Das Vorhaben droht auf dreifache Weise zu scheitern: Es läßt weder die Geschichte noch die Kunstgeschichte noch das Werk auch nur eines einzigen ausgestellten Künstlers greifbar werden.
Es liegt in der Natur dieser Ausstellung, daß sie zu Kontroversen und Polemiken reizt. Von der Realisierung einmal ganz abgesehen, liegt das auch an der Frage, ob sich so große thematische Apparate in Europa nicht dem Einfluß der Institutionen auf die zeitgenössische Kunst und der Macht ihrer Vertreter verdanken. Zum obersten Künstler wird hier derjenige, der die Werke auswählt, zusammmenträgt und aufhängt.5 Und die Werke werden ausgewählt, nachdem die Ausrichtung des Projekts bereits feststeht, obwohl die Kunstwerke eigentlich der Ausgangspunkt sein sollten. Es ist kein Zufall, daß Ausstellungen zunehmend theatralisiert werden, denn diejenigen, die sie konzipieren, ernennen sich gleichzeitig zum Regisseur ihres eigenen Theaters.
Kunst ist immer künstlich, aber was für ein Glück, wenn mehr davon bleibt als billige Kunststückchen. Und das könnte trotz allem bei „Face à l'Histoire“ geschehen, denn ganz im Unterschied zu den konventionellen Mustern, die sich in den letzten Jahren so hartnäckig durchgesetzt haben, zwingt diese Ausstellung dazu, Geschichte und Kunst einzeln und gemeinsam zu betrachten. Nicht als einen ewig gleichen Quell der Enttäuschung, Melancholie oder Nostalgie, sondern als in Bewegung befindliche Wirklichkeit, in der Menschen tätig sind.
Modern oder nicht, was genau ist ein wahrer Künstler? Die Antwort kann man den Notizbüchern des Malers Gromaire6 entnehmen, dessen Fehlen in der Ausstellung besonders frappierend ist. Derjenige sei ein schaffender Mensch, notiert er 1925, der die Kunst als Darstellung „der harmonischen Kraft sieht, die alle Wesen beherrscht“, und in diesem Sinne als den „Spiegel dessen, was bleibt, den Spiegel der unzerstörbaren Energie.“
dt. Esther Kinski
* Verfasser des Buches „L‘Art et la Guerre: les artistes confrontés à la seconde guerre mondiale“, Paris (Flammarion) 1995.