Pulverfaß, noch ohne Lunte
DIE vom 20. bis 27. Oktober durchgeführten Kommunalwahlen endeten, wie schon die Parlamentswahlen im Mai 1996, mit einem Sieg der regierenden Demokratischen Partei Albaniens. Zwar erreichte der Wahlbetrug nicht das skandalöse Ausmaß wie im Frühjahr, doch die ausländischen Beobachter zeigten sich nicht weniger beunruhigt. Angesichts der aktuellen Entwicklungen ist das nur zu verständlich. Denn die Situation in Tirana strahlt aus auf die ganze Region: die Hälfte aller Albaner leben außerhalb ihres Heimatlandes. Die „albanische Frage“ könnte, aus den gleichen Gründen wie die „serbische Frage“, eines Tages die Balkanregion destabilisieren.
Von unserem Korrespondenten CHRISTOPHE CHICLET *
1912 schrieb der französische Publizist Francis Delez: „Über die Sahara oder Tibet wissen wir mehr als über Albanien.“ Der Zusammenbruch des Kommunismus hat Albanien dem Vergessen entrissen; zugleich ist mit dem Zerfall Jugoslawiens einer der alten Dämonen des Balkans wiedererwacht: die albanische Frage.
Die Großmächte hatten keine glückliche Hand, als sie 1912/13 die neuen Grenzen in der Region festlegten: achtzig Jahre später lebt jeder zweite Albaner außerhalb der Republik Albanien.1 Im Norden und Osten des neuen Staates verblieben Regionen mit erheblichem albanischen Bevölkerungsanteil außerhalb der Grenzen. Umgekehrt leben auf albanischem Territorium relativ große Minderheiten, etwa die griechische im Süden und die slawomakedonische im Südosten.
Im Ersten Weltkrieg wurde das Land von italienischen, österreichischen, serbischen, französischen und griechischen Truppen besetzt. 1939 ließ Mussolini Albanien militärisch besetzen, von hier aus fielen die faschistischen Truppen am 28. Oktober 1941 in Griechenland ein. Das griechische Heer drängte die Italiener zurück und besetzte anschließend den albanischen Epirus, wo es von der griechischen Minderheit als Befreier begrüßt wurde. Nach dem Sieg der Achsenmächte auf dem Balkan gründeten Deutschland und Italien ein Großalbanien, das auch den griechischen Epirus, den Westen des jugoslawischen Makedonien und den gesamten Kosovo umfaßte. Mit der Befreiung schrumpfte Albanien auf die Grenzen von 1912, aber die Grenzstreitigkeiten waren keineswegs beigelegt.
Die muslimischen Albaner im griechischen Epirus, die Çam, die der italienischen und der deutschen Besatzungsmacht und anschließend den griechischen Partisanen unterstanden hatten, wurden im August 1944 zu Hunderten von rechtsgerichteten griechischen Partisanen massakriert und zu Tausenden vertrieben.2 Im Verhältnis zu Jugoslawien konnte die kommunistische Völkerfreundschaft den nationalen Konflikt nicht lange überleben. Im Grunde hoffte Josip Broz Tito, Albanien als sechste Republik an Jugoslawien anschließen zu können. Der Bruch zwischen Tito und Stalin im Juni 1948 bewahrte Enver Hodscha vor dem Verlust seiner Herrschaft und sicherte Albanien die Unabhängigkeit. Danach hat dann der albanische Staat eine völlig eigenständige Entwicklung genommen.
Die hinter dem eisernen Vorhang lebenden Çam konnten nicht nach Griechenland zurückkehren, zumal Athen nach wie vor den „Nordepirus“, also Südalbanien, beanspruchte. Erst die sozialistische Regierung Papandreou verzichtete 1984 auf jeden territorialen Anspruch an Albanien, und 1986 wurde auch der Kriegszustand zwischen beiden Staaten formell beendet.
Die Grenze zwischen Jugoslawien und Albanien war bis 1990 hermetisch abgeriegelt. Die Albaner im Kosovo und in Makedonien konnten innerhalb des Tito- Staates ihre Institutionen und ihre Kultur entwickeln, ihre religiösen Traditionen pflegen und sogar in den Westen emigrieren.3 Während in Albanien jede Opposition im Arbeitslager endet, demonstrierte die albanische Minderheit in Jugoslawien 1968 und 1981 vehement für ihre Rechte.
Die Stabilität des Balkans hängt zum Teil von den bilateralen Beziehungen zwischen Griechenland und Albanien ab. Diese haben heute dank der pragmatischen Haltung beider Staaten Vorbildcharakter. Als die griechischen Sozialisten 1993 wieder an die Regierung kamen, wurde der militärisch-diplomatische Konflikt beigelegt. Athen ist vor allem um bessere Lebensbedingungen für die griechische Minderheit im albanischen Epirus bemüht. Getreu der Stalinschen Nationalitätenpolitik hatte Enver Hodscha eine griechische und eine slawomakedonische Minderheit anerkannt und beiden vier Jahre muttersprachlichen Schulunterricht zugebilligt, allerdings nur in ihren alten Siedlungsgebieten, wo laut albanischer Statistik 56000 Griechen in 99 Dörfern und mehrere tausend Slawomakedonier in 7 Dörfern lebten. Demgegenüber reklamierte Athen 400000 „Nordepiroten“, während Skopje keine Zahlen nannte. Durch die Abwanderung vieler Griechen nach Griechenland seit 1990 ist dieser Zahlenstreit jedoch entschärft. Die griechische Minderheit hat sich in der Partei Omonia organisiert, in der nur noch eine kleine Fraktion die Vereinigung mit dem Mutterland fordert.
Von der humanitären Hilfe, die Griechenland 1991 und 1992 dem notleidenden Albanien geleistet hat, erhoffte sich Athen eine Verbesserung der Beziehungen.4 Doch aus innenpolitischen Motiven überboten sich die griechischen Politiker im Herbst 1993 an nationalistischem Eifer. Im April 1994 hatten Extremisten, die einem orthodoxen griechischen Bischof nahestanden, eine Kaserne in Südalbanien überfallen und zwei albanische Soldaten ermordet. In Tirana wurden daraufhin Mitglieder der Omonia-Führung zu schweren Haftstrafen verurteilt. Als wichtigste Handelspartner des ausgebluteten Landes setzten die Griechen darauf, daß Albanien auf die Drachmen-Einkommen der 300000 halb- oder illegal in Griechenland lebenden Gastarbeiter angewiesen war: Im Herbst 1994 deportierte Athen 70000 von ihnen nach Albanien und blockierte Hilfsprogramme der EU in Höhe von 35 Millionen Ecu.
Die damals in die Makedonien-Krise verstrickte griechische Diplomatie5 erreichte die Freilassung der Omonia-Mitglieder mit Hilfe der Intervention der USA. Der bereits schwerkranke Papandreou stellte die Weichen auf Entspannung. Im März 1995 reiste Außenminister Papoulias nach Tirana. 1996 unterzeichnete der griechische Staatspräsident Stefanopoulos einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit. Beide Staaten erkannten gegenseitig ihre Grenzen an; ein Teil der illegalen albanischen Gastarbeiter soll durch eine saisonale Arbeitserlaubnis legalisiert werden, der Devisentransfer wird durch die Eröffnung griechischer Banken in Albanien erleichtert; eine Zusammenarbeit beider Armeen wurde vereinbart. Im Gegenzug genehmigte Albanien die Gründung von drei höheren griechischen Schulen in den südlichen Bezirken des Landes6 sowie einer Privatschule für die in Tirana lebenden Griechen.
Die Albaner im Kosovo, die in der ehemals autonomen Provinz 90 Prozent der Bevölkerung stellen, leisten seit 1981 Widerstand und sind seit 1989 in offener Rebellion. Trotz der Besetzung durch die serbische Polizei und Armee konnten sie im Untergrund eine Art Gegengesellschaft schaffen. Unter der Führung des Pazifisten Ibrahim Rugova haben die Kosovo- Albaner ihre eigene Republik ausgerufen, die nur von Albanien anerkannt wird. Sie haben einen Präsidenten, ein Parlament, Abgeordnete, eigene Schulen und medizinische Einrichtungen. Ihre finanziellen Mittel stammen zum Teil aus dem Drogenhandel, der auch den Waffenschmuggel in der ganzen Region finanziert. Nach dem Ende des Bosnienkrieges rechneten viele mit dem Ausbruch eines noch schrecklicheren Konflikts im Kosovo. Albanien hatte für diesen Fall gewarnt, daß es nicht untätig bleiben könne.
Die Parallelregierung der Kosovo- Albaner verhält sich jedoch pragmatisch. „Das unabhängige Kosova muß gegenüber Albanien und Serbien gleichermaßen offen bleiben: Es muß neutral sein“, verkündete Ibrahim Rugova. Und Ilaz Ramajli, der Missionschef der „Republik Kosovar“ in Albanien, versicherte uns gegenüber: „Angesichts des Kräfteverhältnisses und der Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft, die Grenzen nicht in Frage zu stellen, wissen wir, daß wir auf unsere Unabhängigkeit noch lange warten müssen. Wir wollen ein zeitlich befristetes Protektorat unter amerikanischer Schirmherrschaft.“
Der serbische Präsident Milošević weiß genau, daß es nicht leicht sein wird, den Kosovo zu halten; auch will er neue Wirtschaftssanktionen unbedingt vermeiden. Gegen eine Wiederherstellung des Autonomiestatus von 1974 hätte er nichts einzuwenden. Deshalb kam es am 2. September 1996 zur Unterzeichnung eines Vertrages mit Rugova über die Wiederzulassung des Albanischunterrichts im Kosovo – ein erster Schritt in Richtung Normalisierung. Daß man Tirana darüber nicht vorher informiert hatte, kühlte die Beziehungen zwischen Albanien und den Kosovo-Albanern ab. Diese Beziehungen waren ohnehin belastet, weil es nach den umstrittenen Wahlen im Mai 1996 zu Kontakten zwischen Politikern des Kosovo und der Opposition gegen Präsident Berisha gekommen war.
Hinter Tiranas rhetorischer Unterstützung für den Kosovo verbirgt sich im Grunde ein tiefes Mißtrauen gegenüber „diesen arroganten und kulturlosen Neureichen“. Im übrigen war beim letzten Wahlkampf in Albanien der Kosovo kein Thema. „Albanien wäre eine Autonomie des Kosovo recht, aber nicht mehr“, resümiert ein hoher europäischer Beamter. „Albanien will lieber den Musterschüler auf dem Balkan spielen, um sich finanzielle Hilfe zu sichern, statt sich auf ein Abenteuer einzulassen, bei dem es mit keinerlei internationaler Unterstützung rechnen kann. Anders formuliert: die Albaner haben nicht vor, für ihre „Brüder“ im Kosovo zu sterben.
Fundamentalistische Einflüsse
DIE albanische Frage ist tatsächlich sehr brisant, vor allem in Makedonien“, meint Grigoris Papadopoulos, der im griechischen Außenministerium das entsprechende Ressort innehat. Tatsächlich bleibt die Lage in dem seit 1991 unabhängigen Vielvölkerstaat gespannt. Doch gerade in dieser ehemaligen Teilrepublik Jugoslawiens haben die Albaner die meisten Rechte. Zwar leben sie ökonomisch und sozial eher abgeschottet, stellen aber Minister, Abgeordnete und Diplomaten und sind auch in Bildungseinrichtungen und Medien vertreten. Durch ihre Kontakte zu den Kosovo-Albanern profitieren sie auch vom Drogenhandel.
Nach der letzten Volkszählung im Juli 1994 stellten die 443000 Albaner 23 Prozent der Bevölkerung.8 Sie beanspruchen den Status eines zweiten Staatsvolks der Republik und die Gleichstellung mit der makedonischen Mehrheit, wobei sie freilich kleinere Minderheiten wie die Roma, Türken und Serben vergessen. Schon im Januar 1992 hatten sie ein unilaterales Referendum über politische und territoriale Autonomie in den Regionen abgehalten, in denen sie die Mehrheit stellen. Aus Angst vor einer Sezession verbündete sich der alte Präsident Kiro Gligorow mit der gemäßigten Albanerpartei PDP (Partei der Demokratischen Prosperität). Dagegen setzen die radikaleren Kräfte ihre Obstruktionspolitik fort.
Wiederholt kam es zu blutigen Unruhen in den Albanervierteln von Skopje und Tetovo, „Hauptstadt“ des albanischsprachigen Gebietes und zugleich Hochburg der Extremisten und einiger aus Bosnien, dem serbischen Sandschak und dem Iran zugewanderter Fundamentalisten, die sich mit Drogen- und Waffengeschäften finanzieren. Im Januar 1994 versuchten die Radikalen vergeblich, die PDP unter ihre Kontrolle zu bringen. Daraufhin gründeten sie die PDPAM (Partei der Demokratischen Prosperität der Albaner Makedoniens), die für die albanische Unabhängigkeit eintritt und das fragile Gleichgewicht in Makedonien und im südlichen Balkan unterminieren könnte. In der öffentlichen Meinung Albaniens gelten sie zwar als fundamentalistische Bauern, doch die Schachzüge dieser Lokalpolitiker sind von Albanien aus nur schwer zu durchschauen. So können extremistische Führer der PDPAM wie Menduh Tachi und Arben Xhaferi in Albanien an Einfluß gewinnen, wo einige Regierungsmitglieder die makedonischen Albaner bereits mit den Palästinensern vergleichen.
Am 3. Oktober 1995 überlebte der Präsident Makedoniens wie durch ein Wunder ein Bombenattentat. Dabei könnten albanische Extremisten ihre Hände im Spiel gehabt haben, um den Apostel eines multiethnischen Makedonien auszuschalten.9
Die Vereinigten Staaten, die in Makedonien in Gestalt von Blauhelmen auftreten, sind aus strategischen Gründen auch anderswo in der Region präsent: in der Türkei, in Griechenland, Bulgarien und in Albanien. Mit Kostas Simitis als neuem Ministerpräsidenten geht der amerikanische Einfluß in Griechenland allerdings zurück. Dasselbe gilt für Albanien, wo die Haltung Washingtons nach den Wahlen im Mai vom Präsidenten nicht gerade positiv aufgenommen wurde: Sali Berisha sucht die Annäherung an die EU, in erster Linie an Deutschland und Österreich, während Frankreich offensichtlich keine ernsthafte Balkanpolitik betreibt.
Weder in Tirana noch in Priština weckt die Idee eines Großalbanien große Begeisterung: Bevor man sich über ein großes Albanien Gedanken machen kann, muß man die Probleme des kleinen lösen. Die nüchtern denkenden Einwohner des Kosovo haben das längst begriffen. Nur die Irredentisten im makedonischen Tetovo scheinen zu allem bereit, auch auf die Gefahr hin, daß ein zweites Bosnien entstehen könnte. Dann allerdings würde der Konflikt vielleicht seine ursprünglichen Grenzen überspringen und die Stabilität aller Nachbarländer bedrohen.
dt. Andrea Marenzeller
* Journalist, Redaktionsmitglied von Confluences Méditeranée.