13.12.1996

Probleme der Integration in Zentralasien

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Probleme der Integration in Zentralasien

Von VICKEN CHETERIAN *

IN Zentralasien haben sich die herrschenden Eliten erst spät an die 1991 erlangte Unabhängigkeit gewöhnt. Die Reformen des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow hatten die Nomenklatura der achtziger Jahre nur partiell erneuert. Der Aufschwung von Oppositionsbewegungen, der – wie in Tadschikistan – zu Bürgerkriegen zu führen drohte, und die Zusammenstöße zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen im kirgisischen Osch1 machten die Gefahren einer regionalen Destabilisierung deutlich.

Es ist überaus bezeichnend, daß Kasachstan die letzte der Sowjetrepubliken war, die ihre Unabhängigkeit erklärte. Die zentralasiatischen Republiken erlangten ihre Souveränität nicht nach einem Kampf um die „nationale Befreiung“. Ihre Politiker hatten keine andere Wahl, also plädierten sie sofort für eine enge regionale Zusammenarbeit unter postsowjetischen Bedingungen. Sie traten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) bei, ohne den Abzug der russischen Truppen von ihrem Territorium zu verlangen. Im Gegenteil: Da die Republiken Zentralasiens über keine eigene Armee verfügten, vertrauten sie den Schutz ihrer „Außengrenzen“ den russischen Grenztruppen an.

Moskau verfolgte andere Ziele. Die zu Sowjetzeiten an diese südlichen Unionsrepubliken geleistete Hilfe hat Rußland nicht fortgesetzt. Nach dem Zusammenbruch der industriellen Produktion sah sich das Zentrum der ehemaligen Föderation nicht mehr in der Lage, den Konsumbedarf des mittelasiatischen Marktes zu befriedigen. Da die russische Führung außerstande war, ein neues Verteidigungssystem an der Grenze zu Zentralasien zu errichten, versuchte sie, die militärischen Anlagen aus sowjetischer Zeit aufrechtzuerhalten, womit sie zugleich ihre alte Einflußsphäre sicherte.

Auf dieselbe Weise sind die zentralasiatischen Republiken auch ökonomisch von Rußland abhängig. Als territoriale Enklaven müssen sie zwangsläufig die russischen Transportnetze benutzen, wenn sie die internationalen Märkte erreichen wollen. Dennoch interessiert sich Rußland für Zentralasien, von Kasachstan abgesehen, nur sehr wenig. Eine größere Bedeutung schreiben die russischen Strategen in der GUS den slawischen Republiken und dem Transkaukasus zu.2 Und der Vorschlag einer Zollunion, den Präsident Jelzin im letzten Frühjahr unterbreitete, entsprang weniger einem wirklichen Willen zur Integration als vielmehr wahltaktischen Überlegungen. Einzig Kasachstan und Kirgisistan reagierten auf Jelzins Aufforderung. Inzwischen hat man in offiziellen Kreisen zurückgesteckt, und hinter vorgehaltener Hand kritisiert man sogar den Wortlaut des Vertrages.

Die politische Öffnung in Zentralasien hauchte auch der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (ECO) neues Leben ein, die 1985 von der Türkei, dem Iran und Pakistan gegründet wurde. 1992 traten der ECO sieben neue Partner bei, so daß die Organisation heute ein Gebiet von 7,9 Millionen Quadratkilometern abdeckt und 270 Millionen Einwohner umfaßt. 3 Der Mittlere Osten und die Türkei, wo die Infrastruktur als kostengünstiger gilt, würden gern einen Teil des mittelasiatischen Frachtverkehrs übernehmen. Aber der ECO drohen allerlei Gefahren. Die Konflikte, die in Afghanistan, Tadschikistan und im Kaukasus toben, und der Kampf zwischen Ankara, Teheran und Islamabad um Einflußzonen in Zentralasien hemmen die Stabilisierung in der Region.

Der Handel der zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken ist zwar weiterhin rückläufig, wird aber immer noch zur Hälfte mit anderen GUS-Partnern abgewickelt.4 Die Politiker der Region bemühen sich, neue Wirtschaftsbeziehungen zur Europäischen Union, zu China und Japan aufzubauen. Das gilt auch für die nordamerikanischen Konzerne, die an Großprojekten Zentralasiens beteiligt sind. So hat Chevron in der Erdölförderung im kasachischen Tengissee Fuß gefaßt, und Newmont Gold sucht in den usbekischen Goldregionen nach neuen Vorkommen. Mit den ökonomischen Interessen der Vereinigten Staaten gehen neue geopolitische Aktivitäten einher. Die stillschweigende Unterstützung, die Washington den afghanischen Taliban gewährt, ist dafür ein ebenso beredtes Beispiel wie die sechs Patrouillenboote, die Kasachstan von den USA geschenkt bekommen hat und die den Kern der neuen kasachischen Flotte im Kaspischen Meer bilden werden.5

Was die Bemühungen um eine regionale Integration betrifft, so fällt die Bilanz eher bescheiden aus. Tadschikistan ist ein Sonderfall: Seit 1992 tobt hier ein Bürgerkrieg, die Wirtschaft liegt völlig am Boden, und auf seinem Territorium sind noch 25000 russische Soldaten stationiert. In Turkmenistan hat der Turkmenbaschi (der Chef aller Turkmenen), Präsident Saparmurad A. Nijasow, die Neutralität seines Landes erklärt und weigert sich, an irgendeinem der Regionalforen teilzunehmen. Was ihn nicht daran gehindert hat, offen die Taliban zu unterstützen – als Gegenleistung für den Bau einer Pipeline, in der turkmenisches Erdgas via Afghanistan in die pakistanischen Häfen gelangen soll.6

Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan haben für eine enge regionale Zusammenarbeit optiert. Die kürzlich geschaffenen „Friedensbataillone“, die sich aus Soldaten aller drei Republiken zusammensetzen, sind die Vorreiter dieser Entwicklung. Die in Kasachstan stationierten Truppen können für friedenssichernde Maßnahmen in Tadschikistan eingesetzt werden. Bei dieser Gelegenheit äußerte die kirgisische Außenministerin Rosa Otunbajewa unverhohlen die Absicht der zentralasiatischen Republiken, militärische Optionen außerhalb der GUS wahrzunehmen, um so „reale Garantien für die nationale Sicherheit“ zu erhalten.7

Asiatische Rivalitäten

DIE inneren Bruchlinien zwischen den neuentstandenen zentralasiatischen Staaten behindern eine interregionale Zusammenarbeit. Mit einem Anteil von 34 Prozent Russen an der Gesamtbevölkerung dürfte Kasachstan das größte Handicap haben, ein wirklicher Integrationspunkt zu werden. Und Usbekistan, der andere Kandidat, der in der Region die Führungsrolle spielen könnte, wird von den Nachbarn aufgrund seiner jahrhundertealten Vorherrschaft in Zentralasien gefürchtet. Überdies ist eine Wirtschaftsunion nur schwer vorstellbar, wenn alle potentiellen Partner Rohstoffe exportieren und Konsumgüter und Fertigprodukte importieren.

Nach fünf Jahren der staatlichen Unabhängigkeit ist die Region noch immer in mehrere Einflußsphären aufgeteilt. Die Anwesenheit der russischen Truppen ermöglicht es Moskau, seine politische Einflußnahme zu verstärken. Längst schon gibt es eine Konkurrenz um die zentralasiatischen Märkte zwischen dem Iran, Pakistan, den asiatischen Riesen, sowie den USA und Deutschland. Die Kooperation zwischen den Regionen könnte freilich an der Konkurrenz unter den verschiedenen Führungsriegen scheitern, oder auch an der Ausbreitung von bilateralen Grenzkonflikten.

dt. Eveline Passet

* Journalist (Genf).

Fußnoten: 1 Im Juni und Juli 1990 kamen in Osch bei Zusammenstößen zwischen Usbeken und Kirgisen 320 Menschen ums Leben. 2 Siehe Irina Sviagelskaja, „The Russian Policy Debate on Central Asia“, London (The Royal Institute of International Affairs) 1995. 3 Zur Economic Cooperation Organization (ECO) gehören heute zehn Länder: die Türkei, der Iran, Pakistan, Afghanistan und die sechs „muslimischen“ ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Turkmenistan und Tadschikistan. Siehe hierzu Bruno De Cordier, „The Economic Cooperation Organization: Towards a New Silk Road on the Ruins of the Cold War?“, Central Asia Survey, London, Vol. 15, Bd. 1, 1996. 4 Siehe Marie-Agnès Crosnier, „La CEI en chiffres 1993-1995“, Le Courrier des pays de l'Est, Nr. 410, Juli 1996. 5 Siehe The Wall Street Journal Europe, 15. Oktober 1996. 6 Siehe Olivier Roy, „Die Taliban als Wächter der Scharia und der Pipeline“, Le Monde Diplomatique, November 1996. 7 Siehe Transition, Prag, 9. August 1996.

Le Monde diplomatique vom 13.12.1996, von VICKEN CHETERIAN