Was wir aus den Mangas lernen können
Von PASCAL LARDELLIER *
DRAGON BALL Z, Fly, Sailor Moon, Akira... diese Gestalten mit ihren kriegerisch-poetischen Namen sind die neuen Helden der Fünf- bis Fünfundzwanzigjährigen. Es handelt sich um „mangas“, „Zerrbilder“, nach denen eine neue Art japanischer Comics und Zeichentrickfilme benannt ist. Ihre Vorläufer, die seit Ende der siebziger Jahre unter Namen wie „Goldorak“, „Captain Flam“ und „Albator“ bekannt waren, haben sich als trojanische Pferde einer japanischen Kultur erwiesen, die heute zeigt, was in ihr steckt.1
Seit einigen Monaten sind sie nun in allen Medien präsent. In Japan kennt man das Phänomen schon lange: Seit 1932 gibt es einen Verband der Autoren von Mangas-Geschichten. Die Auflagen erreichen Rekordhöhe: Jährlich werden bis zu fünfzehn Hefte pro Einwohner verkauft; allein 1995 sollen in Japan fast zwei Milliarden Exemplare abgesetzt worden sein.2 Shônen Jump, ein Wälzer von 600 Seiten, erscheint wöchentlich in einer Fünf-Millionen-Auflage! Und jeden Monat kommen Hunderte von neuen Bänden heraus, in billigem Schwarzweißdruck auf schlechtem Papier – Einwegprodukte zum durchlesen und wegwerfen.
Fast alle Mangas folgen dem gleichen Muster: Primitivität ist ihr Selbstzweck. Das gilt für die Herstellungstechniken, die Figuren, die Geschichten und die Zeichnungen. Ein Beispiel: Während in einem Disney-Film fünfundzwanzig Bilder pro Sekunde ablaufen, kommt ein Manga mit fünf bis sechs Bildern aus. Eine bestimmte Zeichnung wird unablässig wiederverwendet, und die Geschichte mit Hilfe von Fotokopien, Verlangsamung der Bildsequenzen, festen Einstellungen und Kamerafahrten zeitlich gedehnt. Von bewegten Bildern kann kaum die Rede sein, aber man erzielt erhebliche Einsparungen bei den Produktionskosten.
Gezielte Darstellung menschlicher Qualen
ES versteht sich, daß Mangas auch äußerst einfach zu lesen sind: Die Zeichnungen sind riesig, die Sprechblasen winzig, und die Dialoge beschränken sich auf eine Reihe von Flüchen, Ausrufen und Lauten. Auch das Seitenlayout ist aufgelöst: Man kann von links nach rechts oder von unten nach oben lesen, alles ergänzt sich und paßt mühelos zusammen. Tatsächlich sind die einzelnen Episoden der japanischen Mangas so konzipiert, daß man sie von einer U-Bahnstation zur nächsten problemlos durchlesen kann.
Kritisiert werden sie vor allem wegen ihrer Brutalität. Die allgegenwärtige Gewalt ist das treibende Moment, sie erzeugt die Handlung, und alle Figuren sind „verstrickt“ in einen Kampf, der nie endet. Auch wenn sie dabei stets edle Motive verfolgen: getragen wird die Erzählung vor allem von direkten Auseinandersetzungen, deren Schauplatz ebensogut eine zerstörte Welt wie ein Volleyballspielfeld sein kann.
Wenn einmal keine unmittelbar körperliche Gewalt im Spiel ist, dann psychische Gewalt. In verächtlichem Ton wird erzählt, welche Erniedrigungen die Helden erdulden müssen, wie sie einen Gegenstand oder eine Fähigkeit verlieren und deshalb zum Gespött der anderen werden. Am Ende scheint es nur darum zu gehen, Qualen zu zeigen: Da fließt der Schweiß, es hagelt Schläge, und die Körper stürzen zu Boden, untermalt von Schmerzenslauten und bildhafter Explosionssymbolik.
Problematisch ist diese Gewalt, weil sie nicht parodiert, sondern kalt-realistisch dargestellt wird. Sie weckt beim Betrachter eine Form von Voyeurismus oder Sadismus, und bei genauerer Untersuchung stellt man fest, daß Grausamkeit hier ganz gezielt gezeigt wird – als Strafe, körperliche und moralische Prüfung, ohne jede Ironie. In Frankreich haben die Proteste von Eltern einen Sender, der solche Mangas zeigt, dazu gebracht, eine Kommission einzusetzen, um die Streifen vor der Ausstrahlung zu „filtern“ und die schlimmsten Szenen herauszuschneiden. So bleiben dann von einem 26minütigen Film etwa 17 Minuten übrig.
In den Mangas treten stark typisierte Figuren auf, die leicht allgemeingültig wirken können. Diese stereotypen Gestalten bleiben dennoch sehr unbestimmt. Ob Kinder oder Erwachsene, Asiaten oder Weiße, Mädchen oder Jungen – sie erscheinen androgyn. Daß keine dieser Figuren Schlitzaugen hat, ist leicht zu erklären: Nur so kann man den Serien die großen Märkte erschließen, den bereits eroberten amerikanischen und den europäischen, der nun an die Reihe kommen soll.
Die Gesichter der Figuren sind auf wenige Merkmale reduziert, sie sind glatt, ihre Züge verschwommen, aber stets geprägt von unverhältnismäßig großen Augen. Immer sind es runde Gesichter, eingefaßt von sehr langen Haaren, die häufig Löwenmähnen gleichen, und sie drücken nicht mehr als fünf Gefühle aus: Verblüffung, Wut, Schmerz, Angst und eine stille Freude. Häufig sieht man gezeichnete oder gefilmte Großaufnahmen von hochroten, starren Gesichtern, auf denen der Angstschweiß perlt; gerade auf den verzerrten, entstellten Zügen verweilen die Serien gerne, körperliche und seelische Qualen werden genüßlich ins Bild gesetzt.
Die erstaunlich statische und monotone Darstellungsweise sowie die Wahl der Bildperspektive zwingen den Betrachter fortwährend dazu, den Akteuren direkt ins Gesicht zu sehen, so daß er ihren Schmerz, ihren Groll oder ihre Sprachlosigkeit ausgiebig bewundern kann. Der starre, durchdringende Blick der Augen hat etwas Hypnotisches – Kinder sind völlig gebannt von diesen Figuren, die sie so spöttisch anschauen, mit lähmendem Blick, wie die mythische Gorgo. Es gibt darüber bereits eine beunruhigende Untersuchung, die besagt, daß die zwanghafte Lektüre von Mangas zu einer ähnlichen Abhängigkeit führt, wie man sie von Videospielen kennt.3
Den psychischen und letztlich auch sozialen Folgen, die durch die Gewöhnung an sinnlose Brutalität, an die Inszenierung von Grausamkeit und Leiden bewirkt werden, ist bislang nicht genug Aufmerksamkeit zuteil geworden.
Es drängt sich die Frage auf, weshalb die Mangas beim europäischen Publikum solchen Erfolg haben. Wie ist zu erklären, daß einer so fremden Bilderwelt, so einfältigen und gewaltsamen Geschichten und so unattraktiven Figuren dieser Siegeszug gelungen ist? Werden die Mangas einfach nur „verschlungen“, in einer passiven Konsumentenhaltung, die lediglich als Reaktion auf die befehlshaberische Wirkung der Medien und die bestrickende Dauerberieselung mit Werbebotschaften zu verstehen ist?
Tatsächlich greifen die Mangas auf ihre Weise die Ängste und Fantasien der Menschen am Ende unseres Jahrhunderts auf, und insofern sind ihre Aussagen nicht nur für den asiatischen Raum, sondern auch für den Westen gültig. In diesen Geschichten geht es ständig um Zukunftstechnologien, die Helden besitzen übernatürliche Kräfte, aber es triumphiert die Waffentechnik, deren Anwendung als der Gipfel von Kühnheit und Heldentum erscheint, als sei der einfache persönliche Mut nur eine Art von Dummheit. Die Entwicklung Japans war seit 1945 geprägt vom Mythos der Technologie und ihrer Allmacht – ganz nach dem Vorbild des Westens.
Wir haben es mit fantastischen Geschichten zu tun, die in anderen Welten in wechselnden Zeiten und Räumen spielen. Diese Art von düsterer Science-fiction gewinnt an Einfluß, weil das Ende des Jahrtausends näherrückt und auch, weil noch eine andere Gefahr den Horizont überschattet: die Vernichtung des Planeten Erde durch die Menschen. Und genau dieses Problem wählen viele Mangas als Hintergrund für ihre Episoden.
In den klassischen gezeichneten Abenteuern spielten die Frauen selten eine große Rolle, männliche Tugenden wurden gerühmt, oft bis zur Lächerlichkeit. Die Mangas bringen dagegen auf ihre Weise die Emanzipation des sogenannten schwachen Geschlechts zum Ausdruck: Häufig stehen in den Geschichten weibliche Figuren im Vordergrund. Vor fünfzehn Jahren waren Millionen Mädchen in Europa hingerissen von der klugen blonden Candy – einer Art Vorläuferin der Manga-Figuren. Inzwischen ist sie von zahllosen neuen Heldinnen abgelöst worden.
Der zeichnerische und erzählerische Stil der Mangas ist geprägt von einer Auflösung der formalen Gliederung, wie sie auch in den Video-Spielen zu beobachten ist – nicht zuletzt kommt darin auch die neue Fernseh-Dialektik zum Ausdruck, die mit Hilfe von Fernbedienung und Zapping überall ihren Einzug gehalten hat.
Die Mangas sind Unterhaltung voller Gewalt in einer Zeit voller Gewalt – ein Spiegel der Verhältnisse. Doch zum ersten Mal wird hier die Brutalität ohne moralische Bemäntelung vorgeführt. Einige Kritiker behaupten sogar, daß dies einen reinigenden Effekt haben könnte: „In Tokios Straßen ist von jener Gewalt, die in den Mangas ständig und in oft erschreckender Weise präsent ist, fast nichts zu bemerken. Diese Comics haben eine deutlich kathartische Wirkung, sie bieten eine kollektive Form, sich abzureagieren statt Gewalt auszuleben. Auf diese Weise entledigt sich das Land triebhafter Energien, die zur Bedrohung der sozialen Ordnung werden könnten.“4
Verlage im Mangas-Fieber
TROTZ ihrer unübersehbaren Schwächen verkaufen sich die Mangas immer besser. Wider alle geschäftliche Logik gewinnen sie immer neue Leser und erobern den Markt. Aus den Verkaufsstatistiken muß man den beunruhigenden Schluß ziehen, daß sie innerhalb weniger Monate die traditionellen französischen Comics aus der Lesergunst verdrängt haben. Einige große Verlage stellen bereits Buchreihen mit Arbeiten europäischer Zeichner ein, und setzen voll auf die Mangas, die ihnen große Auflagen und erhebliche Gewinne bescheren.
Eine warnende Stimme hatte sich schon am Beginn der neunziger Jahre erhoben: In ihrem Buch „Die kleinen Zapper haben den Kanal voll“5 zeigte sich Ségolène Royal besorgt über die Zunahme japanischer Zeichentrickfilme in den Kinderprogrammen, fand jedoch kein Gehör. Tatsächlich sind die Serien, die in Europa den kleinen Kindern zugemutet werden, in Japan für die Heranwachsenden ab fünfzehn Jahren gedacht. Den Programmplanern scheint diese Diskrepanz, die ein Stück weit auch das Maß an Gewalt in den Serien erklärt, egal.
Daß sich Mangas so mühelos durchsetzen können, liegt einerseits an ihrem pragmatischen Konzept, andererseits aber auch daran, daß sie auf keinen ernsthaften Widerstand treffen. Es geht dabei um eine Auseinandersetzung, die man nicht einfach ignorieren oder möglicherweise sogar unter dem Deckmantel wirtschaftlicher Argumente gleichgültig und schulterzuckend hinnehmen sollte.
dt. Edgar Peinelt
* Dozent für Kommunikation im Fachbereich Kunst, Kommunikation, Sprache der Universität Nizza-Sophia-Antipolis, Mitarbeiter der Zeitschrift Alliage.