13.12.1996

Blindflug am Elektronikhimmel

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Blindflug am Elektronikhimmel

EINE rein buchhalterische Betrachtungsweise hatte die Regierung Juppé veranlaßt, die Thomson AG den Konzernen Matra und Daewoo anzubieten. Welche Bedeutung hatten in dieser Sache Freundschaften im Medienbereich (der Direktor von Matra-Hachette, Jean-Luc Lagardère, leitet auch einen Pressekonzern)? Welche Vorstellung von einem sozialen Europa leiteten die Politiker bei ihrem Entscheid? Mit der am 4. Dezember beschlossenen Aussetzung der Privatisierung des Konzerns hat Juppé zwar eine Schlappe einstecken müssen, doch eine veränderte politische Haltung bahnt sich nicht an. Der folgende Beitrag erschien in der französischen Ausgabe wenige Tage vor dem Aussetzungsbeschluß.

Von LAURENT CARROUÉ *

Am 16. Oktober 1996 entschied Staatspräsident Jacques Chirac, die Thomson AG für einen symbolischen Franc zu privatisieren und dabei der Unternehmensgruppe Matra-Hachette den Vorzug vor Alcatel-Alsthom zu geben.1 Damit bahnt sich eine offenkundige Mesalliance an: Matra-Lagardère ist ein Mischkonzern (er umfaßt die Bereiche Elektronik, Rüstungsgüter, Transport, sowie – im Verein mit Hachette – Presse- und Buchverlag), die Thomson AG umfaßt hingegen nur drei Kernbereiche: Thomson-CSF (Ausrüstungsgüter für zivile und militärische Anlagen), Thomson-SGS Mikrochips und Thomson Multimedia (TMM, Unterhaltungselektronik).

Außerdem will hier offenbar die Schlange das Krokodil verschlingen: Lagardère-Matra bringt es mit 43622 Beschäftigten auf einen Umsatz von 53 Milliarden Franc (31 Prozent davon im militärischen Bereich), während Thomson mit 100000 Beschäftigten einen Umsatz von 74 Milliarden Franc erzielt (davon 32 Prozent im militärischen Bereich). Unter dem Strich ist es ein unverhofftes Geschenk für Lagardère-Matra, was auch an dem um 24 Prozent gestiegene Kurswert zu erkennen ist, den die Matra-Aktien am 17. Oktober an der Pariser Börse verzeichneten. Es wird geschätzt2 , daß Lagardère bei Thomson nur 5,5 Milliarden Franc investieren muß. Den Staat hingegen, und damit die Steuerzahler, wird diese Privatisierung mit Belastungen in Höhe von 20,3 Milliarden Franc3 teuer zu stehen kommen.

Die absolute Geheimhaltung, das autoritäre Vorgehen und die Undurchsichtigkeit, mit der diese Privatisierung vollzogen wurde, hat sie moralisch und politisch in Mißkredit gebracht. Die im Frühjahr gemachte Zusage, den Konzern als Ganzes zu erhalten, wurde ausgerechnet von demjenigen gebrochen, der sie feierlich gegeben hatte. Sie diente nur dazu, die Aktivitäten der Pressure-groups, den Einsatz privater Beziehungen sowie die vielfältige Einflußnahme zu überdecken. Der Staatspräsident und der Premierminister maßen sich enorme Rechte an, während die Rechte des Parlaments, der Unternehmensvorstände und der betroffenen Arbeitnehmer ganz offensichtlich mit Füßen getreten werden. Daher auch die Ablehnung, auf die das Vorhaben in der Öffentlichkeit stößt4 .

Die skandalöse Entscheidung erklärt sich aus der Strategie der gegenwärtigen französischen Führung, alles auf die militärische Karte zu setzen. Ziel ist die Schaffung eines großen Zentrums für Verteidigungselektronik. Thomson-Matra, das zu 60 Prozent vom Lagardère-Konzern kontrolliert würde, stünde dann weltweit an zweiter Stelle hinter dem amerikanischen Konzern Lockheed-Martin-Marietta. Demgegenüber wollte der andere Bewerber, Alcatel, den Bereich Thomson Multimedia als Teil des neuen Unternehmensgefüges erhalten, doch dieser soll nun von Matra-Lagardère an den südkoreanischen Daewoo-Konzern verkauft werden. Damit verzichtet die französische Industrie gänzlich darauf, ihre Stärken im zivilen Bereich auszubauen.

Um klarzumachen, worum es bei der ganzen Sache geht, ist daran zu erinnern, daß Thomson den Bereich Mikroinformatik 1982 an Bull, den Telefonbereich 1983 an Alcatel, den Bereich Medizinische Geräte 1987 an das amerikanische Unternehmen General Electric und den Haushaltsgerätebereich 1992 an ein italienisches Unternehmen verkauft hat. Dieser sukzessive Ausstieg erfolgte zugunsten des militärischen Bereichs und erwies sich jedesmal als Katastrophe. Der Rückzug ist als Teil einer allgemeineren Entwicklung zu interpretieren: Thomson Multimedia erlebte Höhen und Tiefen, das Informatikunternehmen Bull, dessen Privatisierung gerade ansteht, läuft große Gefahr, in ausländische Hände zu geraten, und France Télécom sieht sich mit der Deregulierung auf dem Markt für Telekommunikation konfrontiert.

Für die Preisgabe von Thomson, in deren Gefolge 5000 Entlassungen angekündigt wurden, müssen die öffentlichen Haushalte kräftig bluten, um den Konzern attraktiv zu machen. Die ernsten finanziellen Schwierigkeiten des Unternehmens (Schulden in Höhe von 24 Milliarden Franc) sind zu einem guten Teil darauf zurückzuführen, daß sich der Staat 1990 als Aktionär geweigert hat, dem Unternehmen einen Kapitalzuschuß von 6 Milliarden Franc zu gewähren. Premierminister war damals Michel Rocard, der Finanzminister hieß Pierre Bérégovoy. Diese hohe Schuldenlast wirft wieder einmal die Frage auf, warum sich die staatlichen wie die privaten französischen Banken traditionell weigern, ihr Kapital für die Finanzierung der Industrie einzusetzen. Statt dessen zogen sie es in den letzten zehn Jahren vor, eine hemmungslose Finanz- und Immobilienspekulation zu betreiben, bei der sie viel Geld verloren haben (beim Crédit Lyonnais betrugen die Verluste 100 Milliarden Franc, die letztlich der Steuerzahler tragen muß).

Einer der absurdesten Aspekte beim Verkauf von Thomson Multimedia ist die Tatsache, daß die Unterhaltungselektronik durchaus keine veraltete und hinfällige, sondern eine äußerst zukunftsträchtige Branche darstellt. Über die Kontrolle im multimedialen Bereich zu verfügen wird auf politischer, technologischer, industrieller und kultureller Ebene5 von strategischer Bedeutung sein. Die Entwicklung neuer Produkte (elektronische Bücher auf CD-ROM, Lernsoftware, PCs, CD-Player, digitale Fernsehgeräte, Multimedia-Terminals und so weiter) und Dienstleistungsangebote (Zugriff auf Datenbanken am Arbeitsplatz oder zu Hause, Telearbeit, Internet) stützt sich auf eine digital vermittelte Verknüpfung von EDV, Fernsehen, Telefon und Satellitentechnik.

Auf der ganzen Welt steht die audiovisuelle Landschaft vor tiefgreifenden Veränderungen, die durch die Entwicklung des Digitalfernsehens ausgelöst werden und die es möglich machen, auf einem Kanal bis zu achtmal mehr Programme auszustrahlen. Das mögliche Angebot von mehr als hundert Themenkanälen läuft unter der Bezeichnung „digitale Bouquets“6 . In den Vereinigten Staaten vertreiben Direct TV und USSB per Satellit zwei Bouquets mit 175 beziehungsweise 25 Programmen. Auf diesem Gebiet verfügt Thomson Multimedia über einen unbestreitbaren Vorsprung, liefert es doch die digitalen Decoderboxen und die Empfangssysteme an DSS, den Betreiber von Direct TV und USSB. Entsprechende Verträge wurden auch mit lateinamerikanischen Ländern und Indonesien unterzeichnet. Weltweit wird der Verkauf von Decoderboxen voraussichtlich von 20 Millionen Stück 1997 auf 75 Millionen im Jahr 1999 steigen. Diese Aussichten verschärfen die heftige Konkurrenz zwischen den Vereinigten Staaten, Europa und Asien. So haben Philips und Sony kürzlich die Markteinführung der Digitalen Video Disc (DVD) für 1997 angekündigt, die den privaten Hifi-Sektor revolutionieren wird, weil sie die CD, die (womöglich schon überholte) CD-ROM und die Videokassette ersetzen kann und mit Hilfe einer bisher unerreichten Speicherkapazität Informationen in digitaler Qualität zur Verfügung stellt.

Angesichts solcher Perspektiven ist es schwer verständlich, warum Frankreich seine Unterhaltungselektronik an einen asiatischen Konzern veräußert. Zumal die EU mit ehrgeizigen Programmen diesen Sektor zu unterstützen versucht, in dem eine beträchtliche Wachstumsdynamik steckt. Zu nennen ist hier vor allem das Programm Medea (Micro-Electronics Development for European Applications). Medea soll die europäischen Unternehmen mit Submikrobauteilen versorgen, die es ermöglichen, ihre Geräte in den Bereichen Telekommunikation und Unterhaltungselektronik weiter zu verkleinern. Das Programm besitzt ein Budget von 2 Milliarden Ecu (ein Ecu entspricht 1,94 Mark) und bündelt die Kapazitäten von SGS Thomson Mikrochips, Philips, Alcatel, Siemens, Bosch und ASM.

Da die französische Regierung nun einmal, selbst wenn sie wollte, nicht in der Lage wäre, industriepolitische Argumente vorzubringen, rechtfertigt sie den Verkauf von Thomson Multimedia (TMM) mit rein buchhalterischen Überlegungen – TMM hat 14 Milliarden Franc Schulden, davon mehr als eine Milliarde Kreditfinanzierungskosten. Diese Zahlen muß man natürlich in Rechnung stellen, aber sie sind zu relativieren, wie die Erfolge des Ariane-Programms in der Raumfahrt oder des Airbus in der zivilen Luftfahrt zeigen: Rein rechnerisch gesehen hätte man diese Projekte schon längst aufgeben müssen. Wie hoch ist der tatsächliche Wert des Konzerns Thomson Multimedia? Glaubt man der Regierung, hat er 14 Milliarden Franc Schulden, glaubt man der Gewerkschaft, stehen dem Aktiva von 15 Milliarden Franc entgegen. Offiziell aber ist TMM nichts, oder gerade mal einen symbolischen Franc wert.

Die Antwort auf diese Frage hat eine politische Dimension: Ist die Allgemeinheit bereit – und wenn ja, in welchem Ausmaß? –, sich finanziell zu engagieren, um die Kontrolle über einen zukunftsträchtigen Bereich zu behalten? Dabei sollte man vor allem berücksichtigen, daß die beanstandete Verschuldung von TMM aus der Konzernerweiterung der achtziger Jahre resultiert, als man nacheinander die deutschen Unternehmen Telefunken, Nordmende und Saba, die britische Firma Fergusson und schließlich in den Vereinigten Staaten RCA und die Sparte Unterhaltungselektronik von General Electric aufkaufte. Diese Anstrengungen zur Internationalisierung und zur Eroberung ausländischer Märkte sind Daewoo natürlich nicht entgangen. Zumal die Kapitalspritze vor der Privatisierung einen großen Teil der Schulden beseitigen wird, so daß die Bilanz zum 1. Januar 1997 nur ein Minus vom fünf Milliarden Franc aufweisen dürfte.

In der rüstungstechnologischen Sackgasse

TROTZ seiner Schulden verfügt TMM über beachtliche industrielle, geschäftliche und technologische Trümpfe: Hinter Sony, Matsushita und Philips ist TMM weltweit der viertgrößte Konzern im Bereich der Unterhaltungselektronik. 1995 erzielte das Unternehmen einen Umsatz von 36,4 Milliarden Franc und ist weltweit, insbesonders in Europa, den USA und Asien vertreten. Es verfügt über deutlich höhere Marktanteile als das Unternehmen, von dem es übernommen wird, und dies sogar in Asien (China und Südkorea ausgenommen): Der Marktanteil von TMM liegt dort bei 3 Prozent, der von Daewoo dagegen unter 1 Prozent.

Um seine Verluste zu verringern, hat TMM im ersten Halbjahr 1996 Rückstellungen in Höhe von 1,4 Milliarden Franc vorgenommen, die zur Finanzierung von Fabrikschließungen und Entlassungen bestimmt sind. Bedroht sind acht Werke oder Handelsniederlassungen und 9000 Arbeitsplätze, davon 2200 im malayischen Muar. Der Wert seiner Forschungen und Entwicklungen (digitale Technologie, interaktives Fernsehen, Integration von Video und EDV), der hohe technische Standard (50 Prozent Weltmarktanteil bei digitalen Decodern), seine qualitativ hochwertigen Produkte sowie der Bekanntheitsgrad seiner Marken (RCA, Thomson, Saba, Telefunken) und die Qualität seines Industrieparks (40 Werke in 16 Ländern) machen TMM zu einem Spitzenunternehmen.

1995 und 1996 ist es dem Unternehmen gelungen, im Multimediabereich strategische Bündnisse mit amerikanischen Unternehmen einzugehen: mit Sun beim interaktiven Fernsehen und mit Oracle bei der Entwicklung eines Internet-Terminals, das den Zugang zum Internet über das eigene Fernsehgerät ermöglicht. TMM profitiert auch von den Synergieeffekten aus der Zusammenarbeit mit SGS Thomson Mikrochips; das zeigte sich im September 1996, als SGS einen in Crolles bei Grenoble produzierten Chip auf den Markt brachte, den man in DVD-Player einbaut, um zu verhindern, daß von digitalen Video Discs Raubkopien produziert werden. Vor kurzem fiel an TMM auch der Anspruch auf Erlöse (1 Milliarde Franc pro Jahr) aus Patenten zurück, die sich im Besitz von RCA befanden und für den Zeitraum 1987-1998 an General Electric abgetreten worden waren. Hinzu kommen Gewinne aus Großverträgen im Bereich der „drahtlosen Kabel/MMDS“ und im Bereich der Satellitendecoder; die Summe dieser Einnahmen plus die Kapitalspritze des Staates würden es dem Unternehmen nach Auskunft seines Generaldirektors Alain Prestat ermöglichen, ab 1998 „automatisch rentabel“ zu arbeiten.

Daewoo Electronics wurde 1967 gegründet. Der elftgrößte Konzern auf seinem Gebiet ist global nur von zweitrangiger Bedeutung und nicht sehr bekannt, auch wenn sich Unternehmensgründer Kim Woo-Chong mit seinen engen Beziehungen zu Präsident Chirac brüstet. Das Unternehmen hat hohe Schulden (352 Prozent des Jahresumsatzes), ist auf den Niedrigpreisbereich spezialisiert, verfügt über keine wirkliche technologische Kompetenz für zukunftsträchtige Produkte und über eine höchst begrenzte Handelsposition. Daewoo produziert – kostengünstig und in hohen Stückzahlen – technisch einfache Produkte für den gehobenen Konsum in den Schwellenländern. Deshalb begnügt sich das Unternehmen mit sehr niedrigen Gewinnspannen und baut im wesentlichen andere Produkte nach. Spitze ist das Unternehmen hingegen bei der Jagd nach staatlichen Subventionen, die sie sich auch schon von der Europäischen Union für die Eröffnung neuer Werke und die Schaffung von Arbeitsplätze beschaffen konnte. Insofern versteht man natürlich das Interesse des Unternehmens, TMM zu übernehmen und dafür – dank der Unterstützung durch Matra, den französischen Staat und die Steuerzahler – nur einen symbolischen Franc zu zahlen. Es geht um die Eroberung der asiatischen, amerikanischen und europäischen Märkte, um den Sprung auf den ersten oder zweiten Platz auf seinem Sektor, um den Zugang zu einem technologischen Kapital von gehobener Qualität (Plasma- und Flüssigkristallbildschirme) und um die Finanzierung von 30 oder 40 Prozent seiner französischen Investitionen durch öffentliche Gelder, die für regionale Entwicklung ausgegeben werden.

Angesichts seiner strukturellen Probleme stellt die Übernahme von Thomson Multimedia für Daewoo Electronics den Rettungsanker dar. Man muß entweder sträflich uninformiert oder völlig blind sein, wenn man wie der französische Außenhandelsminister Yves Galland am 7. November 1996 in Seoul die Meinung vertritt, daß „die Entscheidung für Daewoo im Interesse Frankreichs liegt“.

Für Daewoo kam die Übernahme von TMM ganz unverhofft, für das französische und europäische Unternehmen TMM könnte sie sich auf lange Sicht als verheerend, wenn nicht gar als tödlich erweisen. Trotz gelegentlicher Zusagen, die angesichts kritischer Stimmen immer wieder modifiziert werden, verfolgt Daewoo den Plan, die heutige Unternehmensführung auszuschalten, spätestens zwei Jahre nach der Privatisierung einen neuen Partner aufzunehmen, eine mit Toshiba in Singapur getroffene Übereinkunft im Videorecorderbereich zu kündigen und einige asiatische Werke zu schließen. Der Erfolg von Daewoo beruht auf einer Firmenpolitik, die keinerlei Rücksicht auf die Beschäftigten kennt. Die Arbeiter in Lothringen erhielten als Ausdruck dieser Unternehmenskultur ein Exemplar des Buches „Der Elite-Unternehmer“ von Kim Woo- choong, dem Gründer und Generaldirektor des Unternehmens, den Alain Juppé im Mai dieses Jahres mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet hat. In diesem exemplarischen Text werden „Aufopferung“, „Unterordnung“ des Menschen und des Familienlebens unter die Arbeit, „Opferbereitschaft“ und „Leidensfähigkeit“ als Tugenden dargestellt, die beispielhaft zum gemeinsamen Erfolg des Unternehmens beitragen.

Im Rahmen der von Daewoo verfolgten Unternehmensstrategie sollen Frankreich und Europa zu einem Industriestandort werden, an dem ungelernte Arbeiter Produkte zusammenschrauben, so wie es bereits in den lothringischen Werken von Daewoo der Fall ist, von denen das Unternehmen so viel Aufhebens macht. In dem Werk von Villiers-la-Montagne (340 Mitarbeiter) werden jährlich 1,3 Millionen Mikrowellenherde hergestellt. Diese Fabrik in einer Industriezone von Longwy beschäftigt zu 80 Prozent Frauen im Alter zwischen 25 und 30 Jahren, die lediglich angelernt und folglich unterqualifiziert sind und nur auf dreiviertel des gesetzlichen Mindestlohnes kommen. In welchem Maße sie ausgebeutet werden, verrät die jährliche Fluktuation, die sich auf 50 Prozent der Belegschaft beläuft. Durch Sanktionen, die Verhinderung von Gewerkschaftsarbeit, nachlässige Sicherheitsbestimmungen und so weiter sucht man ihren Widerstand zu brechen. All das läßt die vollmundigen Versprechungen zum Thema Beschäftigung, die jeden Tag anders, aber immer wunderbar klingen, nicht besonders glaubwürdig erscheinen. Inzwischen hat sich weithin herumgesprochen, daß die Logik des externen Wachstums (durch Firmenübernahmen) in der Regel zu massiven Entlassungen in dem aufgekauften Unternehmen führt.

Die von Chirac und Juppé getroffene Entscheidung, alles auf die militärische Karte zu setzen, erweist sich somit als äußerst schädlich. Wäre die einzig vernünftige Lösung nicht die, das Programm zur Privatisierung von Thomson zu stoppen, wie es die Regierung im Fall von GAN- CIC getan hat, um die ganze Angelegenheit noch einmal aufzurollen? Diese vernünftige Maßnahme würde endlich die Möglichkeit bieten, eine landesweite Diskussion über die Zukunft des militärischen und zivilen Elektroniksektors in Frankreich und Europa zu führen. Die Kontrolle über diesen Sektor ließe sich sehr gut über die Sicherung eines in staatlicher Hand verbleibenden Zentrums für militärisch und zivil genutzte Elektrotechnik gewährleisten. Im Rahmen einer langfristigen strategischen Konzeption könnte man dann die Zusammenarbeit des französischen Unternehmens TMM auf andere französische und europäische Unternehmen ausweiten.

dt. Christian Voigt

* Geograph an der Universität Paris VIII und am CRIA (Universität Paris I).

Fußnoten: 1 Alcatel Alsthom hatte 1995 einen Umsatz von 160,4 Milliarden Franc und beschäftigt gegenwärtig 197000 Mitarbeiter. 2 Les Echos, 4. November 1996. 3 Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen: 11 Milliarden Franc für die Kapitalspritze, 3,3 Milliarden für den Kauf von Aktien des Crédit Lyonnais durch den Staat, 4 Milliarden für den Kauf von 17 Prozent der Aktien von Thomson SGS Mikrochips durch die CEA, 2 Milliarden für eine Steuerstundung in defizitären Geschäftsjahren. 4 Laut einer Umfrage der Zeitung La Tribune/CSA vom 27. Oktober 1996 sind 45 Prozent der Franzosen gegen und 34 Prozent für eine Privatisierung von Thomson. 72 Prozent finden es skandalös, daß Thomson nach der Kapitalspritze für einen symbolischen Franc verkauft wird, und 66 Prozent würden es vorziehen, wenn der Staat ein öffentliches Unternehmen behält, auch wenn er es wieder flottmachen muß. 5 Siehe Armand Mattelart, „Von der Kanonenbootpolitik zur Diplomatie der Netze“, Le Monde diplomatique, August 1995. 6 Siehe Yves Eudes, „Des chaines de télévision par centaines“, Le Monde diplomatique, März 1996.

Le Monde diplomatique vom 13.12.1996, von LAURENT CARROUÉ