Algeriens Leidensweg
Von IGNACIO RAMONET
FÜR Algerien bedeutet der Volksentscheid vom 28. November eine Art zweiten Staatsstreich. Der erste hatte im Januar 1992 stattgefunden, als die Armee die Parlamentswahlen stoppte und Präsident Chadli Bendjedid absetzte, weil sich ein Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) abzeichnete.
Seit ihrer Mitwirkung an der brutalen Niederschlagung der Aufstände von 1988 hatte sich die Armee im Hintergrund gehalten, aber nach der Ermordung von Präsident Mohamed Boudiaf, im Juni 1992, sah sich das Militär gezwungen, offen die Macht zu übernehmen, und machte mit General Liamine Zéroual einen Mann aus den eigenen Reihen zum Staatschef, der erst im November 1995 rechtmäßig zum Präsidenten gewählt wurde.
Die hohe Wahlbeteiligung bei dieser Präsidentschaftswahl war vor allem Ausdruck der Hoffnung auf ein Ende des Bürgerkriegs gewesen, bei dem in Algerien in den letzten fünf Jahren über 50000 Menschen starben. Auf die abscheulichen Verbrechen und blindwütigen Anschläge der bewaffneten islamistischen Gruppen reagierte die Ordnungsmacht mit Sondergerichten und Hinrichtungen, außerdem unterstützte und bewaffnete sie sogenannte „Selbstverteidigungsgruppen“, die für ihre Übergriffe und Attentate bekannt sind. Die Hoffnung auf ein Ende des Schreckens war vergeblich. Die Zahl solcher Gruppen ist in den letzten Monaten sogar deutlich gestiegen. Immer häufiger kommt es zu Massakern, Menschen „verschwinden“ spurlos, in Polizeistationen, Kasernen und Gefängnissen wird systematisch gefoltert. Der jüngsten Bericht von amnesty international1 zeichnet ein grauenerregendes Bild.
Eine gnadenlose Zensur sorgt dafür, daß dieser Krieg nicht in der Öffentlichkeit verhandelt wird, zumal die Machthaber, in ihrem Bestreben, ein ultraliberales Wirtschaftsprogramm nach den Vorgaben der Weltbank und des IWF in Gang zu bringen, bei ausländischen Investoren den Eindruck erwecken möchten, der Normalisierungsprozeß mache gute Fortschritte und der Terrorismus sei nur noch ein „Randproblem“. Vergeblich hoffen die Bürger auf ein Ende des Schreckens und fordern von den politischen Kräften ein Abkommen, das Frieden bringt und Auswege aus der wirtschaftlichen Katastrophe des Landes weist.
In dieser Situation schlug Liamine Zéroual vor, einen Volksentscheid über die Änderung der Verfassung von 1989 durchzuführen. Die Stellung und die Vollmachten des Präsidenten sollen gestärkt werden, das Parlament eine zweite Kammer erhalten, deren Mitglieder direkt oder indirekt vom Präsidenten ernannt werden. Zweck dieses Oberhauses ist die Kontrolle der Nationalversammlung, deren Mitglieder eigentlich zwischen April und Juni 1997 gewählt werden müßten – im März endet das Mandat des Nationalen Übergangsrats, eines nicht gewählten Organs, das zur Zeit die Funktionen des Parlaments ausübt. Nach der neuen Verfassung wird der Islam Staatsreligion, politische Parteien mit religiöser Grundlage sind jedoch verboten, eine Bestimmung, die dazu dient, die FIS auszuschließen, die aber auch die beiden gemäßigten islamischen Gruppierungen, die sich mit den Machthabern verbündet haben, in Schwierigkeiten bringt: Hamas und Ennahda müssen sich dringend ein neues Parteistatut geben. Außerdem ist vorgesehen, Arabisch zur einzigen offiziellen „Nationalsprache“ zu erklären, zum Nachteil der Berbersprache Tamazigh.
Die Mehrheit der politischen Kräfte hatte sich gegen das Referendum ausgesprochen, die Front der sozialistischen Kräfte (FFS) und die Versammlung für Kultur und Demokratie (RCD), ebenso die Bewegung für Demokratie in Algerien (MDA), Ittahadi (Exkommunisten), die Arbeiterpartei (PT) und andere. Auch zahlreiche politische Persönlichkeiten, darunter Abdelhamid Mehri (der ehemalige FLN-Führer), Mouloud Hamrouche (der ehemalige Premierminister, der Schöpfer der Verfassung von 1989 und heutige Führer des Reformflügels in der FLN) und Ali Yahia (der Vorsitzende der algerischen Menschenrechtsliga) sind dagegen. Sie alle argumentierten, es sei demokratischer, zunächst Wahlen durchzuführen, dann dem Parlament die Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu überlassen und diese anschließend dem Volk zur Abstimmung vorzulegen.
ABER die Machthaber zogen es vor, alle Trümpfe in der Hand zu behalten, um sich die optimalen Voraussetzungen für die anstehenden Parlamentswahlen im Frühjahr zu verschaffen und vor allem um sich gegen die Eventualitäten einer Teilung der Macht zu wappnen. Die Möglichkeit einer Kohabitation mußten sie ernsthaft in Betracht ziehen, denn Liamine Zéroual kann, abgesehen von unbedeutenden Gruppierungen, bei der Sicherung seiner „präsidialen Mehrheit“ nur auf wenige Verbündete zählen: die FLN unter der neuen Führung von Boualem Benhamouda, die Republikanische Nationale Allianz (ANR) von Redha Malek, die Partei der Algerischen Erneuerung (PRA) von Noureddine Boukrouh. Hinzu kommt die Bewegung für eine Islamische Gesellschaft (MSI- Hamas) von Scheich Mahfoud Nahna und vielleicht auch die Ennahda von Abdallah Jahallah.
Dem steht eine Koalition der Oppositionskräfte gegenüber, zu der alle Gruppierungen gehören, die kürzlich einen gemeinsamen „Aufruf zum Frieden“2 unterzeichnet haben, inklusive der FIS, die nach wie vor die wichtigste Kraft ist. Sollten die FIS-Wähler einem Oppositionsbündnis zum Wahlsieg verhelfen, wäre Präsident Zéroual zur Kohabitation gezwungen.
Das alles scheint jedoch fraglich, solange die Armee die Macht nicht aus den Händen gibt, und offenbar sind die Militärs derzeit bereit, das Land in „kolumbianische Verhältnisse“ abgleiten zu lassen, solange sie selbst und die Mafia, mit der sie sich eingelassen haben, wirtschaftlich auf ihre Kosten kommen. Und das würde bedeuten, daß die Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften, islamistischer Guerilla und „patriotischen“ Milizen weiterhin jedes Jahr Tausende von Toten fordern. Über Jahrzehnte.