13.12.1996

Helden des Papierkriegs

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Helden des Papierkriegs

ES war der Konkurrenzkampf der amerikanischen Pressezaren in den Gründerjahren der Massenkultur, der 1896 die Comic strips hervorbrachte, eine „graphische Literatur“, von der sich seither Kinder wie Erwachsene verzaubern lassen und die als Ausdruck der Imagination in unserem Jahrhundert gleichberechtigt neben dem Kino und dem Kriminalroman steht. Seit einem Jahr ist jedoch in Europa eine neue Art von Comics (und Zeichentrickfilmen) auf dem Vormarsch: Diese sogenannten „Mangas“ kommen aus Japan und zeichnen sich durch ihre beklagenswerte Schlichtheit, ihre notorische Gewalttätigkeit und ihre zweifelhafte Ideologie aus.

Von PHILIPPE VIDELIER *

Mitten auf einer Seite der Sunday World, der Sonntagsausgabe einer großen New Yorker Tageszeitung, war 1896 zum ersten Mal die Zeichnung eines Gassenjungen mit abstehenden Ohren zu sehen, der ein viel zu großes gelbes Hemd trug. Auf dem Hemd war zu lesen, was er sich gerade dachte – in einer drastischen Sprache, wie sie heute etwa von Rappern benutzt wird. Die zitronengelbe Farbe scheint ein Produkt des Zufalls gewesen zu sein: Während eines Streiks setzte man Arbeiter ein, die nicht der Gewerkschaft angehörten, und die konnten mit den Druckmaschinen nicht so gut umgehen.

Von den Lesern wurde die Figur begeistert aufgenommen und „The Yellow Kid“ getauft. Der kleine Gelbe war allerdings kein Chinese, sondern, nach dem Willen seines Schöpfers, ein typischer irischer Lümmel, wie sie damals in den ärmeren Vierteln der Metropole die Straßen unsicher machten. Seine Straße, auf der er jeden Sonntag in einer großen Zeichnung unterwegs war, hieß Hogan's Alley. Im Herbst desselben Jahres erschien der Kleine nicht mehr innerhalb des einen, dichtgedrängten Bildes, sondern er bewegte sich durch eine erzählende Bilderfolge, und sein Text wurde in „Spruchbänder“ und „Sprechblasen“ hineingeschrieben, wie man es in der Geschichte „The Yellow Kid and his New Phonograph“ sehen kann. Der Comic strip war geboren.

„Innovation und Mythologie“ verbanden sich hier zu einem „zutiefst amerikanischen“ Phänomen, wie David Pascal von der amerikanischen National Cartoonist Association in einem Interview mit einer Schweizer Kunstzeitschrift erläuterte: „Ein bedeutendes Jahrhundert neigte sich dem Ende zu, und das neue, das zwanzigste, holte sich, was an Erfindungen des vergangenen zu bekommen war, und brachte sie in die Neue Welt, wo alles bereitlag, damit sie blühen und gedeihen konnten: Kapital, Pragmatismus und Individualismus – allesamt dem Neuen aufgeschlossen.“1

New York befand sich damals im Krieg: In der Stadt tobte ein gnadenloser Krieg der Reichen um die Macht. Im Herzen der gewaltigen Metropole – einem „Sternbild von höllischer Erhabenheit“, wie Howard Phillips Lovecraft sie beschrieb – führte William Randolph Hearst (Vorbild für Citizen Kane in Orson Welles' gleichnamigem Film) eine Schlacht um den Einfluß auf das Denken der Menschen. Seine Gegner waren Joseph Pulitzer – ein Einwanderer aus Ungarn, den man heute wegen des nach ihm benannten Journalistenpreises kennt – und James Gordon Bennett Jr., der seinerseits einem großen Autorennen den Namen gegeben hat. John Dos Passos hat in „Big Money“, seiner Chronik des modernen Amerika, dem Pressezaren Hearst ein eigenes Kapitel gewidmet. Hearst, the poor rich kid, war der Sohn eines Goldgräbers, der im kalifornischen Goldrausch sein Glück gemacht hatte. Mit dem Vermögen der Anaconda Co., die er von seinem Vater geerbt hatte, gründete William Randolph in New York ein Zeitungsimperium. Als erstes kaufte er das Morning Journal „und nahm den Kampf mit den Pulitzers auf, um herauszufinden, wie man mit den Gefühlen der einfachen Leute das große Geschäft machen könnte“.

Die Comic strips dienten zunächst vor allem als Waffen in diesem erbitterten Konkurrenzkampf. „Wollen Sie lachen? Wollen Sie informiert werden? Wollen Sie staunen? Wollen Sie die neuesten Nachrichten?“ hieß es damals auf einer Werbetafel. „Dann lesen sie die Sunday World, mit ihrer konkurrenzlosen Seitenzahl, mit der großartigen Beilage und dem achtseitigen Witzblatt!“2

Richard Felton Outcault hatte die Figur des Yellow Kid für Pulitzers World geschaffen, ließ sich aber für einen Haufen Dollars abwerben. So konnte Hearst, der ehrgeizige Newcomer, schließlich verkünden: „Am kommenden Sonntag erscheint die große Wochenendbeilage des Journal mit den Witzseiten – acht Seiten in Farbe! Denken Sie daran: Nicht vier Farbseiten, und die anderen vier in Schwarzweiß, sondern ALLE ACHT Seiten in Farbe, bunt wie der Regenbogen! Verlangen Sie THE YELLOW KID!“3 R. F. Outcault war bald mit dem Geschäftsgebaren von Hearst nicht mehr einverstanden und wechselte zum New York Herald von James Gordon Bennett. Dort schuf er zunächst die Figur des „Pore Li'l Mose“ (Poor Little Moses), eines kleinen Schwarzen, und dann den berühmten Buster Brown. Aber der Zeitungskrieg war noch nicht vorüber.

Um die führende Stellung seines Sonntagsblatts zu sichern, verpflichtete Hearst einen Zeichner aus Chicago, Rudolf Dirks, dessen Eltern aus Schleswig-Holstein nach Amerika ausgewandert waren. Dirks hatte sich zwei lustige Schlingel nach dem Vorbild von „Max und Moritz“ ausgedacht, der Bildergeschichte von Wilhelm Busch, die 1865 in Deutschland erschienen war. Bei Dirks hießen die beiden Hans und Fritz, der eine blond, der andere dunkelhaarig, und die übrigen Figuren der Serie waren Die Mama, Der Captain und Der Inspector – eine kleinfamiliäre Truppe, die bis heute die Kinder in aller Welt erfreut. Schon der Titel der Strips verwies auf das deutsche Immigrantenmilieu: „The Katzenjammer Kids“.

Die erste Folge erschien am 12. Dezember 1897 in Hearsts Journal. Auch in Frankreich haben die Katzenjammer Kids im Laufe der Jahre eine Reihe von unterschiedlichen Nachahmungen erfahren: „Méfaits des petits Chaperché“, „Capitaine Cocorico“, „Capitaine Fouchtroff“ und die bekannte Serie „Pim Pam Poum“.

Gordon Bennetts Herald nahm einen Zeichner aus Ohio, Winsor McKay, unter Vertrag. McKay verdiente 60 Dollar in der Woche, damals etwa das Sechsfache eines Arbeiterlohns: „Sollten New York und unsere Zeitung, die Ihnen hierzulande das beste Forum für Ihr Talent bieten kann, Ihr Interesse wecken, dann schicken Sie uns bitte mit der nächsten Post Ihre Antwort und einige Arbeitsproben.“4 So wurden damals die Verträge ausgehandelt. McKay verlegte sich auf Kinderfiguren: „Hungry Henrietta“, die Freßsüchtige, „Little Sammy Sneeze“ mit seinen verheerenden Niesanfällen und andere mehr. Vor allem aber schuf er ab 1905 die außergewöhnliche Welt des kleinen Nemo im Reich der Träume: „Little Nemo in Slumberland“ erschien in Form prachtvoller Jugendstil-Tableaus; schon ein Jahr später wurde die Serie in sieben Sprachen übersetzt. Wie Outcault trat auch McKay im Theater auf, für 500 Dollar die Woche; „Little Nemo“ wurde als Musical am Broadway inszeniert und anschließend in Boston, Pittsburgh und Chicago gespielt. McKay wurde reich, kaufte Häuser, hielt sich Chauffeur und Leibwächter und zahlte enorme Prämien für die Versicherung seiner kostbaren Produktionsmittel: seiner Hände und Augen.

Ein Spiegel Amerikas und ein Ort der Sozialkritik

ERFOLG und Konkurrenz, der wechselnde Publikumsgeschmack und die Jagd nach Lesern führten zu grotesken Verwicklungen: In spektakulären Prozessen stritten sich die Zeitungen um die Rechte an bestimmten Comicfiguren, und ein berühmtes Urteil sprach den Autoren das Recht zu, eine Serie mit ihren Figuren anderswo unter einem anderen Titel weiterzuführen, während die Verleger sie unter dem alten Titel, aber von einem anderen Zeichner gestaltet, weiter erscheinen lassen konnten. So erschien Winsor McKays „Little Nemo“ später unter dem Titel „In the Land of Wonderful Dreams“; Rudolf Dirks brachte seine Serie als „The Captain and the Kids“ bei Pulitzer heraus, während die alten „Katzenjammerkids“ bei Hearst von Harold H. Knerr weitergeführt wurden, ebenfalls ein Kind deutscher Einwanderer. Ein dreiviertel Jahrhundert lang existierten beide Serien mit den gleichen Figuren nebeneinander.

Nach amerikanischen Copyright-Bestimmungen besaßen die Autoren kein geistiges Eigentum an ihren Serien, es blieben ihnen nur die wirtschaftlichen Nutzungsrechte. In allen Bundesstaaten und im Ausland lag die Vermarktung der Comics, die den Zeitungen so hohe Auflagensteigerungen brachten, in der Hand von Syndikaten. Das erste dieser Art, der International News Service (aus dem 1914 das King Feature Syndicate entstand), wurde 1912 von William Randolph Hearst ins Leben gerufen. Es folgten das Chicago Tribune & New York News Syndicate, gegründet 1919 von „Captain“ Joseph M. Patterson, und das United Features Syndicate, zu dem sich die Zeitung World, Bell- McClure, der Metropolitan Newspapers Service und andere zusammenschlossen.

Als Winsor McKay kurz davor war, sich mit Gordon Bennett Jr. zu überwerfen, ließ er den kleinen Nemo zum Ausdruck bringen, was sein Schöpfer von den allmächtigen businessmen hielt. Eine allegorische Reise zum Planeten Mars, deren Folgen vom 1. Mai 1910 an erschienen, führte den kleinen Träumer in eine Welt, in der man alles kaufen muß, sogar die Luft zum Atmen und die Worte, die man spricht. „Ja, die Reichen können sich unterhalten. Den Armen bleibt nichts übrig, als zu schweigen“ erklärt ein Marsbewohner, und er macht zugleich in wenigen Sätzen klar, wie der steinreiche B. Gosh, der „Großmeister des Mars“ zu seinem Vermögen gekommen ist: „Ihm gehört alles. Vor achttausend Jahren war er nur ein armer kleiner Junge. (...) Wußtet ihr nicht, daß der alte Gosh ein Dieb ist – wie könnte ihm hier sonst alles gehören?“

In den USA wurden die gezeichneten Bilderserien comics oder funnies genannt, weil sie vor allem dafür gedacht waren, die Leute zum Lachen zu bringen. Eine 1924 in Kansas und Missouri durchgeführte Umfrage ergab, daß bei den jungen Leuten in den Städten Comics die beliebteste Form der Unterhaltung darstellten. Da sie sich an das breite Publikum richteten, hielten sie Amerika den Spiegel vor und zeigten dabei gelegentlich auch Ansätze von Gesellschaftskritik. In „Yellow Kid“ ist die Hauptfigur ein irischer Gassenjunge aus den Elendsvierteln, die „Katzies“ (die Katzenjammer Kids) sind an ihrem Akzent als deutsche Einwanderer zu erkennen, und die Helden der berühmten Serie „Bringing Up Father“, von George McManus, sind ein alter irischer Maurer und seine Frau, eine ehemalige Wäscherin, die durch einen Lottogewinn reich werden. Während sie davon träumt, in die bessere Gesellschaft aufzusteigen, möchte er lieber in seine Eckkneipe zurück, um mit den Kumpels Karten zu spielen.

„Mutt und Jeff“ war die erste Serie, die nicht mehr nur in der Sonntagsbeilage, sondern täglich in der Zeitung erschien – seit 1907 im San Francisco Chronicle. Der eine besucht regelmäßig Pferderennen, der andere ist ein ehemaliger Insasse einer Irrenanstalt. In den zwanziger und dreißiger Jahren waren kleine Waisenmädchen und Vagabunden beim Publikum beliebt: Little Orphan Annie, Little Annie Rooney, Pete the Tramp. Die Darstellung von Armut und Leid auf dieser Welt ist allerdings nicht unbedingt ein Aufruf zur Revolte, wie wir seit „Charlot“ wissen – einer Bildergeschichte von Elzie C. Segar, dem Schöpfer von „Popeye“.

Seit der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre vollzog sich eine grundlegende Veränderung der Comics: Die Darstellung des Alltags wurde abgelöst von Abenteuergeschichten: Reisen zu den Sternen und in ferne Länder, Detektivgeschichten usw. 1929 erschienen am gleichen Tag die ersten „Tarzan“-Folgen von Hal Foster (nach den Romanen von Edgar Rice Burroughs) und die Serie „Buck Rogers im 25. Jahrhundert“, deren Held mit seinem interplanetarischen Raumschiff und seiner Strahlenpistole in der Kindheit von Ray Bradbury eine wichtige Rolle spielte.

In Chicago, der Stadt Al Capones, ließ Chester Gould 1931 den unbestechlichen Polizisten Dick Tracy als Serienhelden antreten. Der Erfolg der unabhängigen Serien war so außerordentlich, daß sich der Hearst-Trust etwas einfallen lassen mußte. Man wandte sich an den besten unter den Kriminalschriftstellern, an Dashiell Hammett, den Autor des „Malteser Falken“ und Schöpfer der Figur des Sam Spade. Mit großem Werbeaufwand wurde „Secret Agent X-9“ auf den Markt gebracht: „Ganz allein Dashiell Hammett konnte die atemlose Spannung und den Nervenkitzel dieser neuen, täglich erscheinenden Bildergeschichte erzeugen.“ „Secret Agent X-9“ brachte seinem Autor die erste Überprüfung durch das FBI ein, wo man es bedenklich fand, daß die angesehene Polizeibehörde in einem Comic strip auftauchte. In dem Bericht über Hammett, den die Zentrale von ihren Leuten in San Francisco angefordert hatte, kam man zu folgendem kühnen Schluß: „Nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, hat es Hammett auf seinem Gebiet zu etwas gebracht. Bei den Journalisten in der Region ist er wohlbekannt, und wenn man ihnen glauben will, hat er mit seinen Kriminalgeschichten eine Menge Geld verdient.“5 Eine Informantin meinte sogar, Hammetts Auftraggeber sei wahrscheinlich ein „Roter“.

Die erste Folge von „Secret Agent X-9“ erschien am 22. Januar 1934. Gezeichnet wurde die Serie von Alex Raymond, der mittels eines Wettbewerbs ausgewählt worden war. Raymond war sehr produktiv, er schuf außerdem die Serie „Jungle Jim“, die „Tarzan“ Konkurrenz machte, und „Flash Gordon“, einen großartigen Gegenentwurf zu „Buck Rogers“ – eine Geschichte, die mit dem Weltuntergang beginnt. Im selben Jahr gründete in Frankreich Paul Winkler nach dem Vorbild des King Features Syndicate die Agentur Opera Mundi und gab Le Journal de Mickey heraus, eine Art Illustrierte für die Jugend.

Neben den Tierfiguren Walt Disneys bot diese „Wochenzeitschrift für die Jugend“ auch die Serien „Jim la Jungle“, „La Petite Annie“, „Pim Pam Poum“ (die in Frankreich bereits 1911 in einer Beilage des Petit Parisien erschienen war), den berühmten „Prince Valiant“ (Prinz Eisenherz) von Hal Foster und viele andere. In den folgenden vier Jahren wurden nach diesem Muster ein Dutzend weiterer Zeitschriften aus der Taufe gehoben, die sich wachsender Beliebtheit erfreuten: es gab die Blätter von Winkler, jene der Éditions mondiales, der Librairie moderne und die der Offenstadt-Gruppe, die in ihrem Blatt L'Épatant bereits seit 1908 die berühmten „Piéds nickelés“ gebracht hatte. Robinson, „das Wochenblatt für die Jugend jeden Alters“; Hop-là, „Wochenblatt für die moderne Jugend“; Hurrah!, „das Wochenblatt der Abenteuer für die ganze Jugend“; L'As, „Illustrierte für die Jugend und die ganze Familie“; L'Aventureux, Jumbo, Junior und wie sie alle hießen stritten um die Gunst des Publikums, eines begeisterten Publikums, das auf den Geschmack gekommen war durch die Heldentaten von „Zig et Puce“ (seit 1925) im Dimanche Illustré, „Bibi Fricotin“ (seit 1924) im Petit Illustré und durch die ersten Abenteuer von „Tintin“ („Tim und Struppi“) im Land der Sowjets, im Kongo, in Amerika, die als Fortsetzungsgeschichten seit 1930 in der katholischen Zeitung C÷urs vaillants erschienen.

Ein vielversprechender Autor: Federico Fellini

DIE erste Ausgabe von Robinson erschien am 26. April 1936, dem Tag, als in Frankreich die Volksfront die Parlamentswahlen gewann, und sie zeigte auf dem Titelblatt das erste Bild von Guy l'Éclair (Flash Gordon): Der Held kündigt den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang und den Abflug eines phantastischen Raumschiffs zum Planeten Mongo an. Ob unter ihrem ursprünglichen oder dem neuen französischen Namen, die Figuren aus Amerika weckten die Begeisterung der Jugend: Luc Brasdefer (Brick Bradford), Mathurin (Popeye), Le Cavalier masqué (The Lone Ranger), Les Aventures de François (Terry and the Pirates), Richard le Téméraire oder Raoul et Gaston (Tim Tyler's Luck).

1938 hatte Le Journal de Mickey eine Auflage von 400000 Exemplaren, Robinson 450000, Hurrah! 250000. Nicht alle waren davon begeistert. „Im Oktober 1936 ergab eine Umfrage unter den Jugendgruppen in den von der Volksfront regierten Gemeinden, daß eine große Zahl der antifaschistischen Kinder Hurrah! lasen. Eine andere Untersuchung im Januar 1938, diesmal an einer Schule in einem der ärmeren Viertel von Paris, ergab, daß die Kinder von Eltern, die überwiegend antifaschistische Blätter lasen, Hurrah! als ihre häufigste Lektüre nannten.“6 Der kommunistische Schriftsteller Georges Sadoul, von dem diese Anmerkung stammt, beklagte sich überdies bitter, daß die Zeitschriften für Kinder nicht „französisch“ seien: „Die einzige Zeile in Hurrah!, die nicht aus dem Ausland stammt, ist die Angabe der Druckerei und des Herausgebers.“ So dachte man damals. Das hinderte die Kommunistische Partei freilich nicht im mindesten, nach dem Krieg die großartige und überaus erfolgreiche Zeitschrift Vaillant („die fesselndste Zeitschrift, die es gibt“) herauszubringen, die sich in ihren Zeichnungen stilistisch viel stärker an die amerikanischen Vorbilder anlehnte als etwa die entsprechenden französisch-belgischen Hefte Spirou und Tintin.

In Frankreich spielten antifaschistische Flüchtlinge aus Italien eine wichtige Rolle bei diesen Jugendzeitschriften: So etwa Cino Del Duca mit seinen Éditions mondiales und Ettore Carrozo, dessen Librairie moderne eine Zuflucht für viele Emigranten wurde, die häufig ohne Papiere ankamen und sich verstecken mußten. Auch der spätere Regisseur Federico Fellini, damals ein junger Journalist, arbeitete als Autor von Bildergeschichten: Auf Wunsch des Herausgebers sprang er ein, um eine „Flash Gordon“-Geschichte von Alex Raymond, den die Faschisten in Italien auf den Index gesetzt hatten, zu Ende zu schreiben. „Damals gab es ,Mandrake der Zauberer‘, ,Jungle Jim‘, ,Das Phantom von Bengalen‘, ,Flash Gordon auf dem Planeten Mongo‘“, erinnerte sich der Filmemacher. „Nerbini hatte eine Menge Ärger. Manche Episoden hatten gerade erst angefangen, und wir konnten die Leser doch nicht so sitzenlassen. Also wurden die Zeichner im Verlag beauftragt, die Geschichten weiterzuführen. Der Zeichner für ,Flash Gordon‘ war damals ein gewisser Giove Toppi, und ich war sein Texter. Ich war dann so begeistert von der Serie, daß ich noch eine weitere Folge machen wollte. Und so habe ich mir die ganze Geschichte für das letzte Abenteuer von ,Flash Gordon‘ ausgedacht, das in Italien erschienen ist.“7

Aus den gleichen Gründen hat Edgar P. Jacobs, der Schöpfer von „Blake et Mortimer“, während der deutschen Besatzung in Belgien eine Folge von „Gordon l'Intrépide“ zu Ende geschrieben, bevor er sich an seine erste eigene Arbeit in diesem Genre machte: „Le Rayon U“. Das Abenteuer ging weiter. Hergés tapferer kleiner Reporter Tintin erklomm immer neue Höhen (weltweit wurden 150 Millionen Hefte verkauft), so daß sogar General de Gaulle zu André Malraux meinte: „International macht mir nur einer Konkurrenz, und das ist Tintin!“8 Die glorreichen Jahre sind dahin, und ebenso die Zeiten, als man die großen Volkszeitungen und Illustrierten für ein paar Groschen kaufen konnte. Die Welt der Bilder hat sich aus der Gutenberg-Galaxis ins Reich der Frequenzen und Bildschirme verlagert, ohne daß der „homo typographicus“ schon ganz ausgestorben wäre. Hundert Jahre nachdem ein Gassenjunge in einem gelben Hemd diese Erzählkunst aus der Epoche der Druckmaschinen und der Massenkultur ins Rollen gebracht hat, bewahren in aller Welt die Kinder von damals in einem Winkel ihres Gedächtnisses die Erinnerung an die Comics: kleine Geschichten, in denen, ganz anders als in der Welt der Großen, immer das Gute siegt.

dt. Edgar Peinelt

* Historiker, Mitverfasser von „La Santé dans les bandes dessinées“, Paris (CNRS Éditions) 1992.

Fußnoten: 1 David Pascal, „La bande dessinée: un expressionisme américain“, Zürich (Graphis, „Comics“) 1972, S. 81. 2 Richard Marschall, „America's Great Comic Strip Artists“, New York (Abeville Press) 1989, S. 24. 3 Ebd., S. 29. 4 „Little Nemo au pays de Winsor McCay“, Toulouse 1990, S. 14. 5 Diane Johnson, „Dashiell Hammett. Eine Biographie“, Zürich (Diogenes) 1988. 6 Georges Sadoul, „Ce que lisent nos enfants“, Paris (Bureau d'édition) 1938, S. 31. 7 Zit. nach Francis Lacassin, „Pour un neuvième art, la bande dessinée“, Genf (Slatkine) 1982, S. 452. 8 André Malraux, „Eichen, die man fällt“, Frankfurt am Main (S. Fischer).

Le Monde diplomatique vom 13.12.1996, von PHILIPPE VIDELIER