17.01.1997

Auf dem Weg zum Postzapatismus

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Auf dem Weg zum Postzapatismus

Ist die Guerilla in Lateinamerika tot oder lebendig? Der Überfall eines Kommandos der Túpac Amaru (MRTA) auf die Residenz des japanischen Botschafters in Lima (Peru) am 18. Dezember 1996 fällt zeitlich mit dem erneuten Ausbruch bewaffneter Kämpfe in Kolumbien zusammen. Offenbar haben die Desaster des Wirtschaftsliberalismus zur neuerlichen Ausbreitung von gewaltsamen Auseinandersetzungen geführt. Gleichzeitig haben in Guatemala Regierung und Guerilla ein Abkommen zur Beendigung des dreißigjährigen Bürgerkriegs unterzeichnet. Die zapatistische Armee im mexikanischen Chiapas ist ein Sonderfall. Ihr Vorgehen unterscheidet sich von allen bisherigen militärischen Strategien in Lateinamerika.

Von MAURICE NAJMAN *

BEGEHT die Zapatistische Nationale Befreiungsarmee (EZLN) Verrat am Zapatismus, wenn sie auf internationalem Parkett Kontakte nicht nur zur traditionellen, sondern auch zur arrivierten Linken aufnimmt, statt bei den „autonomen Kämpfen“ zu bleiben? Die Mitglieder der ersten offiziellen Auslandsdelegation der zapatistischen Armee, die sich kürzlich in Paris aufhielten, betonten jedenfalls, sie wollten ihre politischen Beziehungen über den engen Kreis der Solidaritätsgruppen hinaus ausdehnen.

Für ihre „diplomatische Offensive“ hatten Javier Elorriaga und Gloria Benavides1 von Subcomandante Marcos und dem Revolutionären Untergrundkomitee der Indigenas (CCRI)2 ein klares politisches Mandat erhalten: Um die Umklammerung durch die mexikanische Armee zu lockern, die Isolation der in den Bergen und Waldgebieten von Chiapas verschanzten Bewegung zu durchbrechen und etwas frischen Wind hineinzublasen, sollte weltweit mit den „großen politischen Vereinigungen und Gewerkschaften“ ein direkter politischer Dialog aufgenommen werden.

Zum dritten Mal in seiner Geschichte tritt der Zapatismus damit in eine neue Phase ein. Ein Statement, das die beiden Sonderbeauftragten von Subcomandante Marcos unermüdlich wiederholten, lautete: „Am 12. Januar 1994 haben wir gemäß den Vorstellungen der mexikanischen Gesellschaft eine strategische Entscheidung getroffen: Die Armee soll in eine neue politische Kraft umgewandelt werden, damit der Weg für einen friedlichen Übergang zur Demokratie frei wird.“

Nachdem der Versuch scheiterte, aus dem Demokratischen Nationalkonvent (CND) heraus3 eine Nationale Befreiungsbewegung (MLN)4 zu gründen, und auch die Verhandlungen von San Andrés Larráinzar im September 1996 zum Stillstand kamen, hatte die politische Ausweglosigkeit zu einem spürbaren Rückgang der Unterstützung durch die Zivilgesellschaft geführt. Die Zapatisten, die Prinzipientreue mit großem Pragmatismus verbinden, hatten daraufhin einen neuerlichen Kurswechsel beschlossen.

Steht also – um eine Formulierung von Marcos aufzugreifen – der Übergang vom „Neozapatismus“ zum „Postzapatismus“ bevor? Handelt es sich lediglich um einen taktischen Schachzug, oder aber um den Beginn einer Wende, die das Erscheinungsbild der Bewegung verändern wird? Die Zapatisten haben einen Dialog mit der Zivilgesellschaft begonnen. Sie kämpfen nicht um die politische Macht, sondern um Freiräume zur Entwicklung einer zivilen Gesellschaft, und das nicht nur für die von ihnen kontrollierten Gemeinschaften. In den Verhandlungen mit der Regierung vertreten sie die Forderungen der indianischen Völker und aller Ausgegrenzten. Damit haben sie sich von den „avantgardistischen“ Praktiken der revolutionären Linken abgewendet. Merkwürdig paradox wirken sie beide: sowohl diese Armee, die sich selbst überflüssig machen möchte, als auch die revolutionäre Bewegung, deren Andersartigkeit sich auch in ihrer politischen Sprache niederschlug sowie in einer politischen Praxis, die mit dem Dogmatismus und dem Sektierertum der radikalen wie der reformistischen Linken gebrochen hat. Jedoch ist es ihnen gelungen, die Aufmerksamkeit und Unterstützung eines breiten Spektrums politischer, gewerkschaftlicher und sozialer Bewegungen zu gewinnen. Ganz zu schweigen vom Identifikationsbedürfnis der Jugend, der es offensichtlich an Idealen mangelt, und den engagierten Aktivisten von einst, die sich nach neuen Aufgaben sehnen.

Die indianischen Comandantes aus Chiapas haben den Beweis angetreten, daß es nach wie vor nicht nur gerecht, sondern auch möglich ist, den scheinbar unabänderlichen Lauf der Geschichte zu beeinflussen, und sie haben die Form der Radikalität (oder der Revolution) für das 21. Jahrhundert erdacht.

Das Handeln der Zapatisten ist ethischen Prinzipien, aber auch der Kunst des politischen Vorgehens verpflichtet: Werte statt Linientreue, Dialog statt Verlautbarungen, Treue gegenüber denjenigen, in deren Namen man handelt („gehorchend befehlen“ lautet das unantastbare Prinzip der „Gemeinschaftsdemokratie“ in den zapatistischen Dörfern). Man gibt einer horizontal organisierten Zivilgesellschaft und partizipatorischer Demokratie den Vorzug gegenüber einem fast-staatlichen, vertikal ausgerichteten Parteien- und Organisationsfetischismus, einer „politischen Gesellschaft“ und einer nur scheinbar repräsentativen Demokratie.

Das ist eine geradezu kopernikanische Wende. Der Soziologe Alain Touraine, der am Internationalen Treffen gegen den Neoliberalismus und für eine menschliche Gesellschaft5 teilnahm und sich von den Zapatisten sehr angetan zeigte, spricht von einem regelrechten „epistemologischen Bruch“, der auf zwei Grundsätzen beruhe: einerseits auf der Bedeutung, welche dem „Sozialen“ und den „neuen sozialen Bewegungen“ zugemessen werde; andererseits auf der originellen Art, eine Beziehung zwischen dem Einzelnen, dem Individuum, der Gemeinschaft und dem Universellen herzustellen, also Persönlichkeitsrechte und universelle Rechte gleichermaßen zu berücksichtigen.

Deshalb wagt Touraine den Vergleich zwischen Marcos und Martin Luther King oder Nelson Mandela. Auch diese beiden haben nicht um die Macht gekämpft, sondern erfolgreich die politischen und sozialen Rechte der Ausgegrenzten verteidigt. Dafür mußten sie die Selbstorganisation der Gemeinden fördern, durch die Anleitung zu gewaltfreiem Handeln Freiräume zur Ausübung der bürgerlichen Rechte schaffen, das Land demokratisieren, Herrschaftsverhältnisse verändern. Die von den Soldaten und Offizieren des Ejercito Zapatista de Liberación Nacional (Zapatistische Nationale Befreiungsarmee) getragenen, doch nur selten eingesetzten Waffen waren das letzte Mittel, um sich Gehör zu verschaffen, nachdem die Indigenas- Gemeinden alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hatten.

Die Entdeckung der Indigenas

AM 12. Januar 1994 erhielt das zapatistische Generalkommando nach mehreren Tagen heftiger Kämpfe eine überraschende Meldung: Die Regierung rief zu einer Waffenruhe auf und schlug die Aufnahme von Gesprächen vor. „Eine neue Kraft war aufgetaucht, mit der niemand gerechnet hatte“, erinnert sich Marcos. „Wir begriffen, daß nicht die Regierung den ,Dialog‘ suchte, sondern eben das Volk, das wir dazu aufgerufen hatten, sich unserem Kampf anzuschließen.“ Aus dieser Begegnung mit der Zivilgesellschaft entstand der Neozapatismus.

Die Entdeckung, daß wirtschaftliches und soziales Elend zur Entstehung von Vereinigungen, Komitees, sozialen Bewegungen sowie städtischen und ländlichen regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) geführt hatten, war für die Aufständischen wie eine Offenbarung. Das veranlaßte sie, einem Merkmal ihrer Bewegung besondere Aufmerksamkeit zu schenken, das sie bis dahin mit ihrer marxistisch-leninistischen Klassenrhetorik nicht hatten vereinbaren können. Die Indigena-Thematik, bislang nur ansatzweise und versteckt zum Ausdruck gekommen, bekam jetzt starke Bedeutung. Freilich nicht unangefochten: „Die Compañeros wollten klar machen, daß sie für das ganze Land kämpften. Wenn man die ethnische Frage allzusehr in den Vordergrund stellte, könnten sich all jene ausgeschlossen fühlen, die keine Indigenas sind“, hieß es in einem Text zur ersten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald.6

„Als dieses spezifische Anliegen in meinen Texten immer mehr Raum einnahm“, erzählt Marcos, „meinten einige, man könnte uns irgendwann für eine regionale, ethnisch begrenzte Bewegung halten, und das führe in die Isolation.“ Andere wiederum fühlen sich durch eine stark ethnische Ausrichtung des Kampfes an die Vergangenheit erinnert, die zwar von Widerstand und ständigen Kämpfen, aber auch von Niederlagen und blutigen inneren Auseinandersetzungen geprägt war. Die Vorbehalte sind nicht ausgeräumt. Marcos, der das Paradoxe liebt, hatte wahrscheinlich seine Freude daran, daß gerade die traditionellsten Gemeinden von Los Altos, „der am stärksten von Indigenas geprägte Teil des EZLN“, besonders skeptisch auf den Beschluß des CCRI reagierten, den Nationalen Indigena-Kongreß uneingeschränkt zu unterstützen.7

Unfreiwillige Veränderung

SO haben wir schließlich an die gesamte Menschheit appelliert und uns auf die universellen Werte berufen. Je mehr wir das Spezifische betonten, desto mehr öffneten wir uns dem Gesamten“, sagt Marcos. Wenn es etwas gab, das die indigene Bevölkerung dem mexikanischen Volk als Ganzem geben kann, dann ihre Art, sich zu organisieren, zu kämpfen und zu denken. „Was uns 1994 am meisten genützt und zum Verständnis unseres Kampfes beigetragen hat, waren nicht so sehr die Kommuniqués, die Erzählungen oder meine Briefe, sondern die Reportagen von Journalisten, die unsere Dörfer und Gemeinschaften besucht haben“, sagt Marcos. Dort entdecken die Leute, was sich hinter den Tarnkappen verbirgt: Selbständig organisierte Gemeinschaften und eine unbekannte Welt, die durch ihre eigenständigen politischen und sozialen Strukturen im Widerstand überleben konnte.

Als 1988 Cuauhtémoc Cárdenas durch Wahlbetrug um den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen gebracht wurde, entstand die erste Keimzelle einer zivilen Protestbewegung. Auf der anderen Seite des gesellschaftlichen Spektrums wurde die rechtskatholische Partei der Nationalen Aktion (PAN) wiederbelebt und in eine konservative Bewegung modernen Zuschnitts verwandelt, in der sich die unzufriedenen Angehörigen aus den Mittel- und Oberschichten sammelten. Die Korruptheit der Familie Salinas, die Verwicklung des, heute in den USA inhaftierten, Bruders des damaligen Präsidenten in den Drogenhandel, die verbrecherischen Praktiken des Regimes, das selbst vor politischem Mord nicht zurückschreckte, schließlich die Flucht von Präsident Carlos Salinas de Gortari, der heute in Irland lebt – all das schuf allmählich ein Klima der Unregierbarkeit, von dem die Zapatisten profitierten.

Die Sympathie, die den Zapatisten entgegenschlug, und die gewaltige Resonanz auf ihre „Botschaft“ sowie das Entstehen einer unabhängigen Zivilgesellschaft in mehr oder minder engem Zusammenhang mit der zapatistischen Bewegung stärkten zwar die Widerstandskraft des EZLN und der Indigena-Gemeinschaften in Chiapas, zwangen sie jedoch auch, sich rasch zu verändern. „Die Indigenas waren von da an nicht mehr einfach Menschen, mit denen man sympathisierte, sondern wir wurden zu ihren Mitkämpfern“, meint Marcos. Dennoch brauchten die Zapatisten eine Weile, um sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. „Wir dachten noch viel zu sehr in Begriffen eines EZLN-Zapatismus, eines militärischen Zapatismus. Wir hatten noch nicht ganz begriffen, daß wir ungewollt etwas völlig Neues geschaffen hatten, einen ,zivilen Zapatismus‘, dessen politische, soziale und programmatische Formen und Inhalte noch unklar waren, der jedoch, selbst auf internationaler Ebene, eine Eigendynamik entwickelte. Also mußten wir unsere Reden und unsere Taten verändern, um ein gleichwertiges Verhältnis zwischen militärischem und zivilem Zapatismus zu schaffen.“

Ab dem Zeitpunkt der Einberufung des Demokratischen Nationalkonvents durch den EZLN begann man, wie Marcos festhält, „von einem Zapatismus zu sprechen, der nicht mehr ausschließlich dem des EZLN entsprach, sondern auch andere gesellschaftliche Bereiche, Traditionen und Kampfformen einschloß.“ Der Zapatismus entwickelte sich zu einer komplexen Bewegung, die sich aus „drei miteinander verknüpften Teilen“ zusammensetzt. Zunächst gibt es den EZLN, zu dem sowohl die Streitkräfte als auch die Gemeinschaften zählen, die der Guerilla als Stützpunkte dienen und nur über den EZLN mit der Außenwelt verbunden sind. „Dieser Zapatismus ist immer noch geprägt vom Autoritätsdenken und der Ungeduld der Militärs sowie von den hierarchischen Zügen einer Armee, die, wie jede Armee, das Undemokratischste ist, was man sich vorstellen kann.“

Daneben gibt es den zivilen Zapatismus, der in den Städten entstanden ist und anfänglich eine Art riesiges Solidaritätskomitee war, sich aber mit der Zeit in eine politische Organisation verwandelte. Und schließlich gibt es noch einen weniger starken, diffusen, dafür aber breit gestreuten gesellschaftlichen Zapatismus, der Leute umfaßt, die sich entweder nicht organisieren wollen oder anderen politischen Organisationen und gesellschaftlichen Gruppen angehören, und der sich in unabhängigen sozialen und kulturellen Aktivitäten ausdrückt. „Seither ist“, wie Marcos ergänzt, „sogar ein ,internationaler Zapatismus' entstanden, breit gestreut, aber, wie man auf dem ,intergalaktischen‘ Treffen im letzten Sommer erleben konnte, auch ziemlich konfus.“

Der Postzapatismus entstand, weil die zapatistische Armee ihr Verhältnis zu den Gemeinschaften, zum zivilen Zapatismus in Form der neu gegründeten Nationalen Zapatistischen Befreiungsfront (FZLN), zum gesellschaftlichen und zum internationalen Zapatismus neu definieren muß. Die Bewegung soll gewissermaßen die Beziehung „zu sich selbst“ klären, wie Marcos sagt. Alle Initiativen verfolgen seither dieses Ziel: der Demokratische Nationalkonvent; das Referendum8 , in dessen Verlauf 1,2 Millionen Menschen der Umwandlung des EZLN in eine unabhängige politische Kraft zugestimmt haben; die verschiedenen Treffen mit Aktivisten im ganzen Land, mit Intellektuellen, NGOs, unabhängigen Organisationen usw.; und nicht zuletzt die Verhandlungen mit der Regierung über „Rechte und Kultur der Indigenas“ oder über „Justiz und Demokratie“. Die Vorschläge, die die zapatistische Delegation dabei vortrug, waren in großen Gesprächsrunden vorher ausgearbeitet worden.

In dieser gefährlichen Situation mußten die Regierung und der herrschende Partido Revolucionario Institucional (Partei der Institutionalisierten Revolution – PRI) handeln. Krisengeschüttelt und in verschiedene, zum Teil offen verfeindete Fraktionen zersplittert, hat der PRI seine Glaubwürdigkeit verloren. Die immer noch vorherrschende Strömung der „Modernisierer“, für die es inzwischen um Sein oder Nichtsein geht, ist heftig bemüht, dem bedrohten Regime wenigstens Reste von Legitimität zu erhalten. Gegen den erbitterten Widerstand der reaktionärsten Fraktion, die von der wachsenden Militarisierung des Landes profitiert, aber mit Zustimmung der zwei großen Oppositionsparteien, der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und des PAN, wurde eine Wahlreform durchgeführt. Diese ist zwar sehr eingeschränkt, hat aber den großen Vorteil, eine Befassung mit den zapatistischen Vorschlägen zur Staatsreform erst einmal aufzuschieben.

„Die Regierung hat den Kreis der Entscheidungsträger einfach geringfügig erweitert, aber die unmißverständliche Botschaft an den EZLN und die unabhängigen Organisationen lautet weiterhin: Wer in diesem Land Politik machen will, muß sich mit uns arrangieren und unsere Spielregeln akzeptieren.“ Für Marcos ist die Wahlreform „eine Reform der Machthaber für die Machthaber“. Die Mehrheit der Gesellschaft bleibt weiter von der Politik ausgeschlossen.

Die Taktik der Regierung hat ihre Wirkung jedoch nicht verfehlt. Die miserable Wirtschaftslage führt zu Ermüdungserscheinungen in der Gesellschaft, das Militär hat in aller Stille seine Kontrollen verstärkt, und die Verhandlungen ziehen sich hin, während man gleichzeitig versucht, nach alter klientelwirtschaftlicher Tradition, die Gemeinschaften in Chiapas durch die Verteilung von Hilfsgeldern zu entzweien.

Nach dem „intergalaktischen Treffen“ (an dem sich nur wenige Mexikaner und Lateinamerikaner beteiligten), wurde der Spielraum für den EZLN zunehmend enger, zumal sich die Entwicklung der Zapatistischen Front nicht so rasant vollzog, wie man sich das vorgestellt hatte. An den etwa 400 „Dialogkomitees“ beteiligten sich nur wenige junge Sympathisanten. In der Mehrzahl bestehen sie aus Aktivisten, die durch den Aufstand vom Januar 1994 Morgenluft gewittert haben. Weil die Zapatisten ihr politisches Programm zudem bewußt vage gehalten haben, müssen sie ohne die klare theoretische Orientierung und straffe Organisationsstruktur auskommen, von denen kleine Bewegungen üblicherweise profitieren.

Die Unbestimmtheit, die zum Programm erhobene Poesie und die zur Politik erhobenen Erzählungen9 , die der Bewegung in einer bestimmten Phase eine besondere Note gaben und viel zu ihrer Beliebtheit beitrugen, werden allmählich zu Hindernissen. „Es kommt der Zeitpunkt, wo der EZLN zwar seine Toleranz und Offenheit für Pluralismus beibehalten, aber dennoch eigene politische Vorschläge ausarbeiten muß“, erklärt der Sprecher der Bewegung. „Wir können nicht ewig in unseren Tarnmützen herumlaufen.“

„Wir können auch nicht für alle Zeiten die Macht in einem Teil des mexikanischen Staates ausüben. Entweder verallgemeinert sich dieser Zustand, wofür gegenwärtig keine Hoffnung besteht, oder wir werden zerrieben. Ebensowenig können wir uns erlauben, eine militärische Kraft zu bleiben, die nicht kämpft, oder eine politische Kraft, die aufgrund ihrer Klandestinität nicht offen und legal politisch arbeiten kann.“ Die zwei Flügel entwickeln sich tendenziell auseinander. Der EZLN muß sich für eine der beiden Optionen entscheiden, mit allen Konsequenzen, sonst wird es gefährlich, denn „vor lauter Unbestimmtheit kann sich bald niemand mehr mit uns identifizieren.“

Nationales Projekt oder ethnische Armeen?

INNERHALB des EZLN könnte die Notwendigkeit, ein „Programm“ auszuarbeiten, auf Dauer zu Spaltungen führen. Im Augenblick treten sie noch nicht sichtbar zutage, doch Risse gibt es bereits. Bisher war es Marcos dank seines taktischen Geschicks gelungen, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. War die Situation blockiert, ergriff er noch jedes Mal die Initiative und schaffte es, die eigenen Reihen zusammenzuhalten, die Regierung und die Gesellschaft zu überraschen und für einige Zeit seinen strategischen Vorteil zu nutzen. Doch kann man nicht ständig etwas Neues erfinden.

Gelänge es der Regierung, Marcos zu ermorden – so wie 1919 Emiliano Zapata –, so würden die Einheiten der Armee, wie es der „Sub“ formuliert, „militärisch und politisch auseinanderfallen, was bis zur ethnischen Aufspaltung führen könnte. Die Chol, die Tzotzil, die Tojolabal, die Tzeltal und so weiter würden eigene Armeen bilden.“ Eine solche „Balkanisierung“ entspräche der jahrhundertealten Tradition der indigenen Völker, sich voneinander abzugrenzen. Mit der Bildung des CCRI schien diese alte Gewohnheit erstmals überwunden.

Doch fällt es schwer, diese „Entscheidung“ zu treffen: „Wir wollen und können uns nicht einfach in die Armee zurückverwandeln, die wir einmal waren. Aber wir wollen auch keine traditionelle politische Partei wie die PRD werden. Und ein ,Programm‘, das zur Doktrin einer klassischen politischen oder politisch-militärischen Gruppierung erhoben wird, dem man nur noch zustimmen muß, können wir auch nicht brauchen“, meint Marcos.

Die Zeit drängt. Durch den Zerfall der Zivilgesellschaft einerseits und den engeren Zusammenschluß der politischen Klasse sieht sich der Zapatismus in die Enge getrieben und gezwungen, auf dem Terrain der Politik die Initiative zu ergreifen. Dies ist aber nicht das angestammte Gebiet der Zapatisten und seinen Kadern wenig vertraut. Das Parlament müßte ein Gesetz beschließen, wodurch die Verfassung im Sinne des Abkommens aus der ersten Verhandlungsrunde in San Andrés geändert würde und die politische, rechtliche und kulturelle Autonomie der Indigena-Gemeinschaften darin Eingang fände. Wenn das nicht bald geschieht, besteht die Gefahr, daß sich viele Anhänger, vor allem in den Indigena-Gemeinschaften, vom friedlichen Weg verabschieden und sich den Hardlinern der EPR anschließen. Diese, wiewohl isoliert, verfügt in den abgelegensten Landesteilen über eine bedeutende soziale Basis.

Eine solche Möglichkeit zeichnete sich bereits während der Tagung des Nationalen Indigena-Kongresses im Oktober 1996 ab. Dort zeigte sich, daß die indigenen Völker derzeit in Mexiko den militantesten, bestorganisierten und kämpferischsten Teil der Bevölkerung darstellen. Das bedeutet, daß diese Organisation, die sich im Verlauf des Kongresses aus den 300 anwesenden Delegierten von 57 Ethnien bildete, die einzige Achse darstellt, um die herum sich die übrigen alternativen Kräfte gruppieren könnten. Eine solche Entwicklung würde jedoch den Interessen des EZLN zuwiderlaufen, der sich im Gegenteil darum bemüht, alle auf gleichberechtigter Basis um ein landesweites Projekt zu sammeln.

Hierin liegt der Grund für den Vorschlag, in einen „nationalen Dialog für einen würdigen und gerechten Frieden“ einzutreten. Laut Javier Elorriaga soll ein „möglichst breiter Konsens hergestellt werden, um die augenblickliche Situation zu analysieren und Alternativen für das ganze Land ausarbeiten zu können.“ Zu diesem „Dialog“, der demnächst im Rahmen eines Friedenskongresses stattfinden könnte, haben die Zapatisten alle eingeladen, „einschließlich unserer Gegner“, wie betont wird. Denn „unser Verständnis von Politik, Demokratie und Macht bedeutet auch, daß wir unsere Gegner, wenn wir sie nicht vernichten wollen, als Teil der Problemlösung ansehen.“

Die anhaltende Verschlechterung der politischen Situation könnte zu einer Verstärkung gewalttätiger Demonstrationen, bewaffneter Auseinandersetzungen und schließlich zu zunehmender Repression führen. Im PRI, der in einer Krise steckt, stoßen die Forderungen der Zapatisten mittlerweile auf ein gewisses Echo, und die Herausbildung einer Mitte-links- Gruppierung aus politischen Persönlichkeiten und Hochschullehrern rückt diese heterodoxen Vorstellungen in den Bereich des Möglichen. Elorriaga prophezeiht: „Entweder gelingt das, oder es kommt zum Bürgerkrieg.“10

dt. Birgit Althaler

* Journalist, Paris.

Fußnoten: 1 Javier Elorriaga und Gloria Benavides waren von den mexikanischen Behörden im Februar 1995 festgenommen worden, als die Regierung eine Militäroffensive in Chiapas startete (vgl. Maurice Lemoine, „Le Mexique en guerre au Chiapas“, Le Monde diplomatique, März 1995). Beide sind inzwischen wieder frei. 2 Das Ende 1993 gegründete Comité Clandestino Revolucionario Indigena (CCRI) ist die eigentliche politische Leitung der Zapatisten. Sie besteht ausschließlich aus Indigenas (in Chiapas leben sieben verschiedene Hauptethnien), und ihre Mitglieder sind direkte Vertreter der Gemeinden. Subcomandante Marcos, dessen politische Rolle unbestritten ist, ist genau genommen nur Sprecher und militärischer Befehlshaber der Bewegung. 3 Die Convención Nacional Democrática (CND) hat sich im August 1994 im später in Aguascalientes umbenannten Guadelupe Tepeyac versammelt. An ihr beteiligten sich über 5000 Delegierte von politischen und gewerkschaftlichen Organisationen und Verbänden sowie Hunderte von unabhängigen Persönlichkeiten. 4 Der Vorschlag zur Bildung einer Nationalen Befreiungsbewegung (Movimiento de Liberación Nacional) wurde von Marcos im Namen der EZLN auf der Versammlung der CND unterbreitet. 5 Dieses Treffen fand vom 27. Juli bis 4. August 1996 in Chiapas statt. Es nahmen daran 3000 Delegierte aus etwa 40 Ländern teil (vgl. Le Monde diplomatique von August 1996). 6 Der Text heißt „Ya basta“ und ist mit 1. Januar 1994 datiert. 7 Dieser Kongreß fand vom 8. bis 12. Oktober 1996 statt. 8 Ein von den Zapatisten am 27. August 1995 organisiertes Referendum. 9 Alle Kommuniqués des CCRI und von Subcomandante Marcos, die zwischen Oktober 1994 und Januar 1996 veröffentlicht wurden, können auf Französisch nachgelesen werden in „Ya basta. Vers l'internationale zapatiste“, ins Französische übersetzt von Anatole Muchnik in Zusammenarbeit mit Alexandra und Eduardo Carrasco und mit Fußnoten versehen von Tessa Birsac, Paris (Edition Dagorno) 1996. Auf deutsch liegen vor: „Ya Basta! Der Aufstand der Zapatistas“, hrsg. von Topitas, Hamburg (Verlag Libertäre Assoziation) 1994, 364 Seiten; „Subcomandante Marcos. Ein maskierter Mythos“, hrsg. von Anne Huffschmid, Berlin (Elefanten Press) 1995, 232 Seiten; Marta Durán de Huerta Patiño, „Viva Zapata. Gespräche mit Subcomandante Marcos in Chiapas“, Die Aktion I/1995, 82 Seiten, Edition Nautilus, Hamburg; Quelle: WoZ Nr. 29 vom 21. Juli 1995, d. Red]. 10 In Frankreich stützt sich das Solidaritätsnetz mit Mexiko im wesentlichen auf Cimade, die Chiapas-Komitees (33, rue des Vignolles, 75020 Paris), GRAM (42, rue d'Avron, 75020 Paris) und die Zeitung Volcans. Nach dem Besuch der zapatistischen Delegation hat sich eine Koordination gebildet, an der CGT, FSU, SUD-PTT, die Kommunistische Partei, die Grünen, CAP, Arev und zahlreiche andere Verbände beteiligt sind.

Le Monde diplomatique vom 17.01.1997, von MAURICE NAJMAN