Die Armee als Hort der Hoffnung
KABUL konnten die Taliban-Milizen zwar erobern, aber es ist ihnen nicht gelungen, sich endgültig gegen ihre Feinde durchzusetzen und Afghanistan zu einen. Die Ursprünge dieser „Koranschüler“ liegen noch immer teilweise im dunkeln, und ihre Bewegung ist offenbar viel uneinheitlicher als angenommen. Sicher ist jedoch, daß sie sich ohne die Unterstützung aus Islamabad nicht lange halten könnten. Unterdessen erlebt Pakistan eine schwere Staatskrise, deren jüngster Akt die Absetzung der Premierministerin Benazir Bhutto war; das Land ist gezeichnet von der Korruption seiner Führungsschichten, verstrickt in den Afghanistan-Konflikt und festgefahren in seiner ewigen Rivalität mit Indien. Am 3. Februar soll nun gewählt werden. Ganz gleich aber, wie diese Wahlen ausgehen, auch das nächste Parlament wird sich mit der bestimmenden Rolle und den Entscheidungen der Armee abfinden müssen, die angesichts der Unfähigkeit der Politiker in den Augen vieler Bürger das letzte Bollwerk zur Rettung der Nation darstellt.
Von LUCILLE BEAUMONT
Als der pakistanische Staatspräsident Faruk Leghari am 5. November 1996 die Premierministerin Benazir Bhutto wegen „Korruption, Vetternwirtschaft und schlechter Staatsführung“ ihres Amtes enthob, wurde einmal mehr deutlich, wie labil die politische Macht in Pakistan ist. Benazirs Vater, Zulfikar A. Bhutto, war 1971 von General Jahia Khan an die Macht gebracht worden; 1977 wurde er von General Zia ul-Haq gestürzt, der ihn 1979 zum Tode verurteilen und hinrichten ließ. Die demokratischen Strukturen, die die Aufteilung der Macht zwischen zivilen und militärischen Machthabern einerseits und der Bevölkerung andererseits garantieren sollen, existieren in Pakistan nur auf dem Papier der Verfassungsurkunde. Auch wenn das Militär heute nicht mehr daran interessiert ist, offen die Macht zu übernehmen, bleibt es doch die entscheidende Kraft im Hintergrund.
Im Herbst 1996 war Benazir Bhuttos politischer Stern rapide gesunken. Innerhalb weniger Wochen war sie auf allen Ebenen gleichzeitig unter Druck geraten, in der Innen-, der Außen- und der Wirtschaftspolitik.
Als am 20. September in Karatschi im Verlauf einer Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften ihr Bruder Murtaza getötet wurde, gab es Anschuldigungen, er sei im Auftrag von Benazir Bhutto und ihrem Mann Asif Zardari umgebracht worden. Murtaza, der letzte männliche Nachkomme Zulfikar Ali Bhuttos, war gegen seine Schwester zum Kampf um die Führung der Pakistanischen Volkspartei (PPP) angetreten, die sein Vater gegründet hatte. Auch wenn letztlich die Beweise fehlten, um diese schweren Vorwürfe zu erhärten, führten doch die fragwürdigen Umstände, unter denen Murtaza Bhutto zu Tode gekommen war, im Sind, wo er dem Provinzparlament angehört hatte, zu einer Welle von Protesten. Unabhängig von der Verwicklung Benazir Bhuttos und ihres Mannes in diese Sache machte der Vorfall deutlich, daß die Premierministerin nicht mehr in der Lage war, in Karatschi, der größten Stadt des Landes, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
Tatsächlich wird die Stadt von politisch motivierter Gewalt beherrscht, wobei die Mohadschirun1 gegen die übrigen Ethnien des Landes kämpfen und die Schiiten gegen die Sunniten. 1994 forderten diese Konflikte etwa 1800 Todesopfer, 1995 waren es mehr als 2000. Daß die Zahl der Opfer 1996 drastisch zurückging (auf etwa 400), ist vor allem eine Folge des Eingreifens der Sicherheitskräfte: Die Verhaftungen haben stark zugenommen, ebenso die „außerrechtlichen“ Hinrichtungen, also Todesfälle in Polizeirevieren oder Gefängnissen. Die Ursachen der Gewalt sind damit nicht beseitigt.
Vor dem Hintergrund dieser innenpolitischen Spannungen beschloß die Regierung am 22. Oktober eine weitere Verschärfung der im Juni eingeleiteten haushaltspolitischen Maßnahmen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Staates wurde eine Steuer auf landwirtschaftliche Erträge eingeführt und im ersten Jahr direkt von den Provinzverwaltungen erhoben. Außerdem wurde die Rupie um 8 Prozent abgewertet. Zweck dieser einschneidenden Maßnahmen war es, den Internationalen Währungsfonds günstig zu stimmen, von dem die Auszahlung der zweiten Rate eines Kredits in Höhe von 600 Millionen Dollar erwartet wurde.
Den Einmarsch der Taliban in Kabul am 27. September konnte Benazir Bhutto zwar noch als politischen Sieg verbuchen, er beschleunigte aber auch ihren Sturz. Ohne direkte Mitwirkung der pakistanischen Geheimdienste wären die militärischen Erfolge der paschtunischen Fundamentalisten nicht denkbar gewesen. Dem pakistanischen Innenminister verdankten die „Koranschüler“ ihre Aufrüstung zur Kriegspartei. General Nasrullah hoffte, auf diese Weise den Bürgerkrieg in Afghanistan zu beenden und endlich die transafghanischen Verkehrswege frei zu bekommen, damit Pakistan seine Position als Durchgangsstation für Zentralasien nutzen und die eigene Energieversorgung sichern könnte.
Aber die Errichtung eines „rein islamischen“ Regimes in Kabul dient auch den militanten pakistanischen Fundamentalisten zum Vorbild: Seit Juli 1996 verkündet Hussein Ahmed, Senator und Führer der religiösen Partei Jamaat-i-Islami, er werde so lange zu Demonstrationen aufrufen, bis Pakistan eine islamische Regierung habe, denn „in diesem Land sind Wahlen eine Farce“2 .
Treue Diener aller Herren
WIRD der Rückzug von Benazir Bhutto zur Beendigung der Staatskrise in Pakistan führen? Die Verfassung schreibt vor, daß Neuwahlen erst nach drei Monaten stattfinden dürfen, aber der Teufelskreis der pakistanischen Politik läßt sich in dieser Frist nicht durchbrechen. Drei entscheidende Kräfte halten das politische Spiel in Gang.
Da sind zunächst die Träger ererbter Privilegien: Die Mehrheit der politischen Funktionsträger, der Abgeordneten und Minister, gehört der Schicht der Großgrundbesitzer an oder ist ihr verbunden. Lange Zeit konnten sie großzügig auf die Kenntnisse verzichten, die man zur Führung eines Landes braucht, denn es gab viele Notbehelfe. Die Armee etwa, deren Aufgabe es ist, die Nation zu schützen und zu verteidigen, verfügte über erhebliche Haushaltsmittel und besaß das Vorrecht, direkt in die Staatsführung einzugreifen, falls ihr eine Regierung nicht verläßlich genug schien. Und auch die staatliche Bürokratie, vorwiegend aus Mohadschirun bestehend, die besser ausgebildet waren als die übrigen Bevölkerungsgruppen im jungen pakistanischen Staat, glich immer wieder die mangelnden Kenntnisse jener politischen Akteure aus, die nicht gelernt hatten, politische Entscheidungen zu treffen.
Doch die pakistanische Gesellschaft hat sich verändert und die politische Landschaft ebenfalls. Die Armee ist heute nicht mehr an einer direkten Einmischung in die politischen Tagesgeschäfte interessiert, und die Bürokratie hat einen Teil ihrer Privilegien verloren, seit 1973 der Civil Service of Pakistan abgeschafft wurde.3 Die Kaste der Großgrundbesitzer, aus der Benazir Bhutto stammt, hält allerdings an ihren Privilegien und Gewohnheiten fest, die viele als schädlich für das Wohl des Landes empfinden. Dazu gehört ihre Überrepräsentation im Parlament ebenso wie ihre Weigerung, Steuern auf das Einkommen aus der Landwirtschaft zu entrichten.
In Ermangelung neuerer Bevölkerungsdaten (die letzte Volkszählung fand 1981 statt) sind auch die Wahlbezirke nicht neu eingerichtet worden – zum Vorteil für die ländlichen Gebiete, aus denen inzwischen große Teile der Bevölkerung in die städtischen Ballungsräume abgewandert sind. Die Einführung von Steuern auf Einkommen aus der Landwirtschaft, die im Oktober 1996 beschlossen wurde, ist eine heikle Maßnahme: Die Regierung Bhutto war von Steuermehreinnahmen in Höhe von 48,5 Millionen Dollar ausgegangen, aber es scheint fraglich, ob gleich im ersten Jahr mit einer wirksamen Umsetzung dieser Verordnung gerechnet werden kann. Eine ländliche Oberschicht, die nicht repräsentativ ist für die pakistanische Gesellschaft, regiert also das Land – und sie regiert es schlecht.
Der zweite wichtige Faktor ist die fehlende Gewaltenteilung. In Pakistan pflegt man eine sehr monopolistische Auffassung von der politischen Macht: Sie liegt in den Händen einer festgefügten Elite. Bei den Großgrundbesitzern im Pandschab und im Sind hat sich die politische Grundhaltung seit Jahrhunderten nicht geändert. Stets waren sie in erster Linie verläßliche Stützen der jeweiligen Machthaber, ob es sich nun um die Sikhs, die Afghanen, die Mogulherrscher oder die Briten handelte.4
Ihnen ging es immer nur darum, ihren Vorteil und ihre Vorrechte zu wahren, die Erwartungen der ihnen Anbefohlenen waren ihnen gleichgültig. Auch die Parteien sind nicht so sehr politische Organisationen mit einem klaren Programm, in denen Bürger ihre Meinung vertreten können, sondern eher Gruppierungen, die sich um eine charismatische Persönlichkeit scharen. Abweichende Meinungen werden lediglich geduldet. Sie finden ihren Ausdruck in der Entstehung von Fraktionen, die dann gegen die Hauptströmung aufbegehren. Gewalt gilt als die einzig wirksame Form der politischen Äußerung. Und die Politiker fördern das.
Da niemand Vertrauen in die staatlichen Institutionen hat, müssen sich die Menschen nach anderen Formen des Rückhalts – religiöser oder ethnischer Natur – umsehen. Diese allerdings fördern ihrerseits den Zerfall der Gesellschaft in gegnerische Gruppen und rühren immer wieder an das alte Trauma der indisch-pakistanischen Teilung. Pakistan ist aus der Aufteilung des indischen Empire und der Abspaltung Ost-Pakistans (das 1972 zu Bangladesch wurde) entstanden, und die Extremisten sehen für die Probleme im Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen nur eine Lösung: Abgrenzung von den „Anderen“ im Namen der Reinheit. So fordert etwa die Mohadschir- Qaumi-Bewegung (MQM)5 für die Mohadschirun die Schaffung einer eigenständigen politischen Enklave, auf die sie ebenso ein Anrecht zu haben glauben wie die Pandschabi oder die Belutschen – zum Beispiel Karatschi, wo die meisten von ihnen leben.6
All das führt zu einer Art geschlossenem politischem System, das nur rein formell eine Mitwirkung der Staatsbürger erlaubt. Dieser politische Teufelskreis läßt sich nur durch eine Einbeziehung der Mehrheit der Bevölkerung durchbrechen, damit neue Spielregeln festgelegt werden können.
Ein Gradmesser für die Bereitschaft der Regierung, einen Wandel einzuleiten, ist die umstrittene Einkommensteuer für Agrarproduzenten. Die meisten Beobachter sind skeptisch, zum einen wegen der alten Tradition der Steuerhinterziehung, und zum anderen, weil die Steuereintreibung den Provinzen übertragen worden ist. Das Provinzparlament des Pandschab hat, im Unterschied zu den übrigen drei Provinzen, die entsprechenden Gesetze nicht angenommen – und dabei handelt es sich um die reichste Provinz des Landes. Dennoch scheint die Übergangsregierung entschlossen, die Großgrundbesitzer an den nationalen Anstrengungen zu beteiligen. Der pakistanische Finanzminister und ehemalige Vizepräsident der Weltbank, Javed Burki, erklärte: „Die Feudalherren müssen lernen, ihren Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft nachzukommen.“7 Aber die Absetzung von Benazir Bhutto bedeutet noch lange keine grundlegende Erneuerung der politischen Klasse Pakistans.
Im April 1996 hat einer der schärfsten Rivalen von Benazir Bhutto, Imran Khan, der frühere Captain der pakistanischen Kricket-Nationalmannschaft, eine eigene Partei gegründet – die Bewegung für Gerechtigkeit. Sein Lieblingsthema ist die Korruptheit der Politiker. Obwohl er große Popularität genießt, haben die politischen Beobachter ihre Zweifel bezüglich seiner Fähigkeiten, den Stil der Politik in Pakistan zu ändern.
Nach wie vor ist das Militär die entscheidende politische Kraft des Landes, die einzige, deren Führungsanspruch außer Frage steht. Pakistan wurde in einer Situation der gewaltsamen Auseinandersetzungen gegründet, und den Mythos der „Gefahr für das Vaterland“ pflegte man über Jahrzehnte – folglich war die Armee stets eine Institution von zentraler Bedeutung. Der neue Staat besaß keine natürlichen Grenzen, seine politische Führungsschicht bestand vorwiegend aus militanten Nationalisten, die aus Indien (vor allem aus dem Ganges-Tal) stammten, und aus pandschabischen Militärführern. Kein Wunder, daß diese Politiker unablässig die Bedrohung durch den feindlichen Nachbarn Indien beschworen.8 So wuchs der normalen Aufgabe der Armee – der Landesverteidigung – der Charakter einer geheiligten Mission zu, nicht zuletzt weil sie zugleich als Verteidigung des Islam begriffen wurde. Pakistan galt schließlich bei seiner Gründung als „nationale Heimstätte aller Muslime“.
Zur bestimmenden Rolle des Militärs in der Gesellschaft trägt weiterhin bei, daß die Bodentruppen 95 Prozent der Soldaten ausmachen und als das zentrale Element der Landesverteidigung gelten. Außerdem stammen zwei Drittel der Offiziere aus dem Pandschab, dem geschichtlichen und wirtschaftlichen Kernland Pakistans.
Es kommt hinzu, daß die Armee die einzige funktional gegliederte staatliche Organisation darstellt. Die Vorstellung von der Bedrohung der Nation durch äußere Feinde, vor allem durch das machtlüsterne Indien, hat sie in eigener Regie erzeugt, und auch die engen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten waren weitgehend das Werk der Militärführung. Für die USA war Pakistan immer dann besonders interessant, wenn die Staatsführung aus Offizieren mit eindeutig antisowjetischer Haltung bestand, wie etwa in der Zeit des Krieges in Afghanistan oder als es um den Südostasienpakt (SEATO) ging, der 1955 unterzeichnet wurde.
Aber die Kritik an den staatlichen Institutionen schließt auch die Streitkräfte ein. Alle drei Kriege gegen Indien hat die Armee verloren (1948, 1965 und 1971), in den achtziger Jahren wurde sie zunehmend von Korruption durchsetzt, weil sie am Handel mit Drogen und Waffen beteiligt war, der durch den Krieg in Afghanistan florierte, und in Afghanistan selbst ließ sie sich auf dunkle Machenschaften ein, wie etwa die Unterstützung des Fundamentalisten Gulbuddin Hekmatjar. Dennoch genießt sie einen weit besseren Ruf als die Politiker: Viele trauen ihr noch immer wirksames Handeln zu, im Unterschied zur politischen Klasse des Landes. Sie gilt als das letzte Bollwerk gegen die Unfähigkeit der Regierungen. Als sich 1995 die Lage in Karatschi zuspitzte, wurden deshalb Stimmen laut, die den Befehlshaber der Landstreitkräfte aufforderten, mit seinen Truppen durchzugreifen. Doch General Jehangir Karamat ist ebensowenig wie sein Vorgänger bereit, sich offen in die staatlichen Belange einzumischen, auch wenn er bei der Entlassung von Benazir Bhutto im November mit Sicherheit seine Hand im Spiel hatte. In Rawalpindi, dem Sitz des Generalstabs, ist man sich sehr wohl im klaren, daß die internationale Gemeinschaft und insbesondere die Geberländer ein Militärregime nicht akzeptieren würden.
dt. Edgar Peinelt