17.01.1997

Die neoliberalen Daumenschrauben der Quebecer Sozialdemokratie

zurück

Die neoliberalen Daumenschrauben der Quebecer Sozialdemokratie

Von JEAN PICHETTE *

AUF seine „Besonderheit“ innerhalb der politischen Landschaft Kanadas legt Quebec großen Wert. So hat die dortige Regierung im letzten November – was einzigartig ist im nördlichsten Land Amerikas – per Gesetz ein „Nulldefizit“ und einen ausgeglichenen Haushalt beschlossen. Daß eine Regierung, die sich der Sozialdemokratie zurechnet, eine solche Initiative ergreift, mag überraschen. Indes paßt sie ausgezeichnet in das Bild einer Regierung, die im Namen „höherer Interessen der Nation“ ihre neoliberale Politik vorzugsweise hinter einem eher konsensfähigen neomerkantilistischen Rahmen versteckt. Vielleicht liegt die Besonderheit von Quebec eben darin, daß hier der Politik noch abverlangt wird, sich zu legitimieren, auch wenn diese Rechtfertigungsübung sich darin erschöpft, den Neoliberalismus mit ritueller Regelmäßigkeit zu verurteilen, während er längst seinen Einzug in die hiesigen Vorzimmer der Macht gehalten hat.

Die öffentliche Verschuldung ist zu einer regelrechten Obsession geworden: „Es muß Ordnung geschaffen werden im Quebecer Haus“, wird Ministerpräsident Lucien Bouchard nicht müde zu betonen. Im März letzten Jahres versammelte ein erster Gipfel zur sozialen und wirtschaftlichen Zukunft Quebecs Regierungspolitiker, Vertreter der Arbeitgeber und Gewerkschaften sowie Repräsentanten von Bürgergruppen und -bewegungen. Damals konnten die Regierungsvertreter ihre Partner von der Notwendigkeit überzeugen, daß der Schuldenberg, der 1995/96 auf 44 Prozent des Bruttoinlandprodukts angewachsen war, abgebaut werden müsse. Das Haushaltsdefizit von 5,7 Milliarden kanadischen Dollar 1994/95 (3,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts) war bereits auf 3,9 Milliarden (2,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts) im folgenden Jahr gesenkt worden, beziehungsweise auf 9,3 Prozent gemessen am Gesamtbudget von 42 Milliarden Dollar (1 kanadischer Dollar entspricht etwas mehr als 1 Mark). Nun wurde vereinbart, das Defizit weiter abzubauen, bis es im Haushaltsjahr 1999/2000 ganz ausgeräumt wäre.1

Die Situation der öffentlichen Finanzen ist tatsächlich alarmierend, denn 16 Prozent der Einnahmen der Provinz werden für den Schuldendienst aufgewendet.2 Hinzu kommt, daß sich die Bundesregierung selbst einer Schuldenlast gegenübersieht, die einen Umfang von 75 Prozent des kanadischen Bruttoinlandprodukts erreicht hat, und sie daher ihren Beitrag zu den Budgets der einzelnen Provinzen erheblich reduziert hat.

Bereits zwischen 1983/84 und 1995/96 sank der Transfer von Bundesmitteln in das Budget von Quebec von 28,9 auf 21,3 Prozent (was eine Reduzierung von acht Milliarden Dollar bedeutet). Diese Transferleistungen werden in den beiden kommenden Jahren noch weiter – bis auf 5,82 Milliarden Dollar in 1997/98 – zurückgehen. Die Regierung Bouchard erinnert immer wieder an diese Zahlen, um auf diese Weise ihre Ausgabenkürzung im Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialbereich zu rechtfertigen.

Das Problem der öffentlichen Finanzen greift allerdings über den Konflikt zwischen Ottawa und Quebec weit hinaus. Auf beiden Regierungsebenen zeigt der Umgang damit vielmehr, daß weder die Bundes- noch die Provinzregierung jener Dynamik sich zu widersetzen gedenkt, die inzwischen weltweit die wirtschaftlichen Abläufe bestimmt. Geht es um die Finanzen, so ergibt sich aus der Verbindung von guten sozialdemokratischen Vorsätzen und schlechtem finanzpolitischem Gewissen in Quebec eine lammfromme Zustimmung zur Liberalisierung des internationalen Handels. Und da macht keine Partei eine Ausnahme.

Viele Separatisten rechtfertigten die Bildung eines großen nordamerikanischen Marktes 1988 damit, daß die Akzentuierung einer nord-südlich verlaufenden Handelsachse gegenüber einer ost-westlichen eine notwendige Zwischenetappe sei, um Wirtschaft und Politik der Provinz zu stärken.3 Doch mit der hastigen Übernahme des liberalen Ideals und dem Abbau von Handelsschranken im Namen des sakrosankten Wettbewerbsprinzips wird auch sozialdemokratischer Politik, wie sie über dreißig Jahre hinweg entwickelt wurde, eine Absage erteilt. Um diesen Widerspruch zumindest dem Anschein nach zu überwinden, appelliert man an den Elan aller „aktiven Kräfte“, neue Märkte zu erobern; dies sei der unvermeidliche Umweg für den Erhalt, ja die Verbesserung des Lebensstandards der ganzen Bevölkerung.

Als im Oktober vergangenen Jahres beim zweiten und letzten Teil des Sozial- und Wirtschaftsgipfels der große Konsens verkündet wurde, ließ die Botschaft an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Die Quebecer Gesellschaft muß sich dem neuen weltwirtschaftlichen Kontext anpassen. Dazu gehören insbesondere ein Steuerwesen, das dem freien Wettbewerb verpflichtet ist, und eine Lockerung der Vorschriften für Unternehmen, um ihre Konkurrenzfähigkeit zu stärken. Die Folgen im öffentlichen Dienst haben nicht auf sich warten lassen. Um die Fälligkeitstermine auf dem Weg zum „Nulldefizit“ einzuhalten, forderte die Regierung gerade einmal zwei Wochen nach dem Gipfel rund 400000 gewerkschaftlich organisierte Staatsangestellte auf, einen Beitrag zur Reduzierung der Personalkosten um 6 Prozent zu leisten. „Die Gesellschaft von Quebec hat sich ein Ziel gesetzt [...], die Reduzierung des Defizits von 3,9 Milliarden Dollar in diesem Jahr auf Null im Jahre 2000“, erklärte der stellvertretende Ministerpräsident Bernard Landry. „Die Gesellschaft darf sich nicht unter Wert verkaufen – weder in ihren eigenen Augen noch in jenen der Finanzwelt – und ein Ziel verfehlen, das sie feierlich angekündigt hat.“4

Um ihr Ziel zu erreichen, wollte die Regierung teilweise ein Modell übernehmen, das bei der staatlichen Gesellschaft Hydro-Québec bereits in Kraft ist. In diesem Unternehmen wurde im vergangenen November ein neuer Tarifvertrag angenommen, der eine Arbeitszeitverkürzung mit proportionalem Einkommensabbau vorsieht – ein „Rezept“ zur Schaffung von Arbeitsplätzen, über das man inzwischen in Quebec diskutiert. Um den Einkommensverlust auszugleichen, sollten die gewerkschaftlich organisierten Staatsangestellten eine proportionale „Freistellung“ bei ihren Beiträgen zur Rentenversicherung erhalten, die zur Zeit einen Überschuß verbucht.

Zwar haben die Gewerkschaften diesen Vorschlag abgelehnt, doch hat er immerhin zu einer Vereinbarung geführt, die kurz vor der Unterzeichnung steht und unter anderem vorsieht, daß im öffentlichen Dienst durch Kündigung oder Vorruhestand 15000 Stellen abgebaut werden. Finanziert werden soll das Ganze zur Hälfte aus den Überschüssen der Rentenkasse. Hierzu muß man wissen, daß die Provinz Quebec rund sieben Millionen Einwohner hat, und das bei einer Arbeitslosenquote, die nach wie vor etwa 12 Prozent beträgt (das sind ungefähr 400000 Menschen), ganz zu schweigen von den 800000 Sozialhilfeempfängern.

Diese offensive Defizitbekämpfung setzt auf das Prinzip der „Verschlankung“ (downsizing), das im Ruf steht, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu erhöhen. Mit unablässigen Beschwörungen des „globalen Wirtschaftskampfs“ sucht die Regierung die Bevölkerung zu mobilisieren und läßt sie unter dem Banner „Quebec Inc.“ den Schulterschluß üben, um neue Marktanteile zu erobern.

Diese Verschmelzung von Neoliberalismus und Neomerkantilismus geht freilich an der Ursache für die prekäre Lage der öffentlichen Finanzen vorbei. Wenn seit mehr als zehn Jahren der Schuldendienst der Quebecer Regierung ihr jährliches Defizit übersteigt, so ist dies ein Ergebnis der Geldpolitik, wie die Bank von Kanada sie nach US-amerikanischem und britischem Vorbild betreibt. Deren Kampf gegen die Inflation war so erfolgreich, daß sie nicht nur Unternehmen und Banken Gelegenheit gab, Staatseinnahmen abzuschöpfen, sondern Kanada auch an den Rand der Deflation brachte. So hat die Bank von Kanada in den letzten anderthalb Jahren zwar beinahe ununterbrochen den Diskontsatz gesenkt – im vergangenen November erreichte er sein niedrigstes Niveau seit vierzig Jahren –, der Konsum der privaten Haushalte aber stagniert trotzdem.

Vermag der Export, also eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit, die Wirtschaft wiederanzukurbeln? Das würde bedeuten, die Löhne und die Belastungen der Unternehmen zu senken, was wiederum einen Rückgang der Staatseinnahmen nach sich zieht. Und in der Folge eine Verschlechterung der öffentlichen Finanzen und also auch eine wachsende Ungleichheit bei der Verteilung des Reichtums.

dt. Eveline Passet

* Journalist bei Le Devoir (Montreal).

Fußnoten: 1 Regierung von Quebec, Finanzministerium, „L'Evolution des finances publiques au Québec, au Canada et dans les pays de l'OCDE“, Oktober 1996. 2 Regierung von Quebec, Finanzministerium, „Mise à jour du cadre financier du gouvernement du Québec“, Oktober 1996. 3 Der stellvertretende Ministerpräsident und Minister für Wirtschaft und Finanzen, Bernard Landry, schrieb bereits 1987, daß der freie Handel mit Gütern und Dienstleistungen über offene Grenzen hinweg die Staaten nicht zerstöre, sondern stärke und vergrößere. Vgl. „Commerce sans frontières“, Montreal (Éditions Québec-Amérique) 1987. 4 Le Devoir, 11. Dezember 1996.

Le Monde diplomatique vom 17.01.1997, von JEAN PICHETTE