Die klugen Köpfe von Bangalore
WÄHREND die Länder des Südens in einem immer härteren Wettbewerb um das Kapital aus dem Norden stehen, ist Indien im Bereich der computergestützten Dienstleistungen der Vorstoß in die Spitzentechnologie gelungen. Handelt es sich dabei um die neueste Phase im Siegeszug des Liberalismus durch die dritte Welt, oder öffnet sich hier, wie man in Indien meint, ein neuer Weg in den Beziehungen zwischen Nord und Süd?
Von MICHEL RAFFOUL *
„Die Welt gehört den Frühaufstehern. In Bangalore sind wir schon bei der Arbeit, bevor Sie überhaupt aufgewacht sind.“ Natajana Murthy, der temperamentvolle Direktor von Infosys, einem der größten indischen Unternehmen für Computer-Dienstleistungen1 , sitzt auf einer Ecke seines Schreibtischs und lacht laut auf. Er ist bestens vertraut mit den technologischen Neuerungen und geradezu der Prototyp jener indischen Geschäftsleute, die in der Computerbranche den Weltmarkt durcheinandergewirbelt haben.
Innerhalb von nur knapp drei Jahren ist Indien, das Land der Armut, der Bauern und des Protektionismus, zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten auf den Gebieten der Entwicklung, Modifizierung und Wartung von Computerprogrammen über große Entfernungen hinweg geworden. Nach Angaben der Nasscom, des indischen Unternehmerverbandes der Computerbranche, hat dieser Sektor bei den Exporten des Landes den stärksten Zuwachs erzielt: Er lag in den letzten zehn Jahren bei fast 50 Prozent jährlich, also doppelt so hoch wie das weltweite Wachstum in diesem Bereich. Insgesamt haben sich die Exportumsätze verachtzigfacht und sollen sich bis zum Jahre 2000 noch einmal vervierfachen.2
Wer im Zentrum des Geschäftsviertels von Bangalore die Mahatma Gandhi Road hinauffährt, der ahnt nicht, daß der Ursprung einer solchen Entwicklung in dieser 5-Millionen-Stadt (0,5 Prozent der indischen Bevölkerung) gelegen hat, die im Bundesstaat Karnataka zwischen einem wildreichen Dschungel und einer trostlosen Ebene liegt. Und doch leben allein auf der „Silicon-Hochebene“ 10 Prozent der indischen Informatikingenieure, und 25 Prozent der Exporte dieses Sektors stammen von dort.
Auf wenige Straßen konzentrieren sich hier die Giganten der Branche – IBM, Digital, Hewlett-Packard, Texas Instruments, Novell, Motorola, Bull, Sun oder Oracle. Ihre indischen Niederlassungen verzeichnen spektakuläre Wachstumsraten, und zahlreiche ausländische Unternehmen, vor allem aus Amerika, wenden sich via Datenautobahn3 an die in Bangalore ansässigen Service- Anbieter der Nasscom.
Dieser Erfolg ist nicht nur darauf zurückzuführen, daß 1991 nach Jahrzehnten des Protektionismus die indischen Handelsschranken fielen. Schon 1831 beschlossen britische Offiziere, die regelmäßig das angenehme Klima der Hochebene aufsuchten, in Bangalore – damals noch ein Kurort – die Grundlage für eine Industrie von landesweiter Bedeutung zu schaffen. Zu Beginn des Jahrhunderts hat Jamshedji Nasarwanji Tata, der Begründer der wichtigsten indischen Industriellendynastie, dort ein Wasserkraftwerk errichtet und das Indian Institute of Science gegründet.
Nach der Unabhängigkeit 1947 träumte der damalige Premierminister Jawaharlal Nehru davon, Bangalore zur geistigen Hauptstadt seines Landes zu machen. In weniger als zwei Jahrzehnten verwandelte er den Ort auf den Gebieten der Luftfahrt, Elektronik, Waffentechnik und Telekommunikation in eine Stadt der Zukunft. In ihren Anfängen hat die Computerindustrie in starkem Maße von diesen Investitionen profitiert. Ihr beispielhafter Erfolg wird jedoch inzwischen von den Unternehmenschefs relativiert. „Man surft den ganzen Tag zwischen Boston und Hongkong, aber wenn man sein Büro verläßt, steigt man über Müllberge“, knurrt V. Chandrasekaran, der Generaldirektor von Wipro, dem größten rein indischen Anbieter von Computer-Dienstleistungen in Bangalore. „Die Probleme beginnen gleich vor den Fabriktoren.“
Seit die multinationalen Unternehmen in Bangalore sitzen, sind die öffentlichen Dienstleistungen, die schon vorher nicht ausreichten, noch schlechter geworden: Straßen und Bürgersteige sind aufgerissen, und Hunderte Slums fallen im Sommer Bränden und im Winter Überschwemmungen zum Opfer. Die Grundstückspreise haben sich in fünf Jahren verfünffacht, und das Verkehrsnetz ist überlastet, was zu Rekordwerten bei der Luftverschmutzung führt. Darüber hinaus werden Wasser und Strom so oft abgestellt, daß die empörten Einwohner die Stromgeneratoren zerstören. Die Behörden veröffentlichen regelmäßig Beilagen in den Tageszeitungen, in denen sie die Bevölkerung dazu aufrufen, sich „ruhig, geduldig und kooperativ“ zu verhalten.
Für Cecil Noronha, Kabinettschef im Bundesstaat Karnataka, dessen Hauptstadt Bangalore ist, ist die Situation aber keineswegs verzweifelt: Er zählt die Infrastrukturprojekte für Bangalore auf und betont immer wieder, daß es die Stadt mit „dem stärksten Bevölkerungswachstum in ganz Asien“ sei. Selbst für die plötzliche Klimaerwärmung hat er eine Erklärung: „Bis vor fünf Jahren waren in Bangalore Ventilatoren unbekannt. Inzwischen aber verhindern die neuen großen Gebäude die Luftzirkulation, und die Wahrnehmung der Hitze hat sich verändert. Wenn man uns die nötigen Mittel gibt, machen wir aus der Stadt in fünf Jahren wieder ein Paradies.“
Samuel Paul lächelt. Früher war er bei der Weltbank für den Bereich Öffentlichkeitswesen zuständig. Nach seiner Rückkehr aus Washington hat er das Public Affairs Center gegründet, um die öffentlichen Dienste „ausgehend von den Angaben der Benutzer“ zu evaluieren. „Wir wollen, daß die indische Regierung ihren Bürgern Rechenschaft über ihr Handeln ablegt.“ Heraus kam, daß Bangalore als einzige Stadt in allen Bereichen schlechte Noten erhielt, und eine dicke Sechs wegen Korruption. Samuel Pauls Schlußfolgerung: „Es scheint keinerlei Pläne für die Schaffung anderer Entwicklungsschwerpunkte im Bundesstaat Karnataka zu geben. Bangalore wird seine wirtschaftliche Explosion wohl einfach über sich ergehen lassen müssen.“
Um die negativen Auswirkungen großer Entwicklungsunterschiede zwischen den Computerfirmen und dem Rest des Landes einzugrenzen, hat die Regierung in Neu-Delhi seit dem Beginn der achtziger Jahre versucht, den Export von Dienstleistungen zu fördern, aber auch ausländische Unternehmen anzulocken, indem man ihnen vorschlug, sich in privilegierten Enklaven anzusiedeln. Auf diese Weise entstanden, über das ganze Land verteilt, sieben Technologiezentren. Das erste wurde vor den Toren von Bangalore eingerichtet und bietet das bukolische Bild heiliger Kühe, die vor bunt zusammengewürfelten Gebäuden auf freiem Feld grasen. „Wir haben 120 Unternehmen aufgenommen“, erklärt G. S. Varadan, der Direktor dieses Zentrums, „denen wir Gebäude zur Verfügung stellen, in denen es, von uns garantiert, fließend Wasser und Elektrizität, Computer und Satellitenverbindungen gibt. Ihre Importe sind zollfrei, sie zahlen fünf Jahre lang keine Steuern, und die Ausfuhrbestimmungen wurden für sie vereinfacht. Sie können sogar ihre Gewinne rückführen: Wir haben ihnen einen roten Teppich ausgerollt!“
Hinzu kommt nach einem Bericht der Weltbank4 die Fähigkeit der indischen Ingenieure, sich der ständig fortschreitenden technologischen Entwicklung anzupassen und, was in dieser Branche selten ist, Fristen und Budgets einzuhalten; überdies haben hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Mathematik Tradition, und qualifizierte, außerdem billige Arbeitskräfte, an denen auf dem Weltmarkt großer Mangel herrscht, sind auch vorhanden. Die Lohnunterschiede zwischen einem indischen und einem westlichen Ingenieur können ein Verhältnis von 1:12 erreichen. In Asien beträgt das Verhältnis bis zu 1:10.
„Niedrige Löhne? Das ist nicht das Problem!“ sagt Anoop Garg, der Vizepräsident von Digital Equipment, das in Bangalore sitzt. „Wir stellen schon jetzt für einige unserer Leistungen Weltmarktpreise in Rechnung, ohne daß das unsere Kunden abschreckt. Verstehen Sie mich richtig: Wir verkaufen pure Intelligenz und keine billigen Hilfskräfte.“
Indien hat weltweit die größte englischsprachige Bevölkerung und mit drei Millionen Hochschulabsolventen die zweitgrößte englischsprachige Gemeinschaft von Wissenschaftlern nach den Vereinigten Staaten. Allein in der Region Bangalore gibt es 1670 Ausbildungseinrichtungen, darunter drei Universitäten, 14 Ingenieurschulen und 47 Fachschulen oder Forschungsinstitute.5 Jedes Jahr drängen 55000 neue Ingenieure auf den Markt, von denen sich etwa die Hälfte der Computerbranche, vor allem in Bangalore, zuwendet, ohne daß damit die Nachfrage schon befriedigt wäre.
Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Zahl der indischen Beschäftigten in diesem Bereich verzwanzigfacht; sie liegt heute bei 140000 Personen. Jede Woche werden in Hunderten Kleinanzeigen Ausbildungsgänge angeboten, die in gut dotierte Stellungen führen. Einzige Bedingung ist, daß der glückliche Student sich dazu verpflichtet, seinem Unternehmen mindestens einige Jahre treu zu bleiben.
„Die Mobilität der Angestellten ist mein schlimmster Alptraum“, bestätigt Ajaj Mehta, der Chef von PSI Data Systems, einer Tochtergesellschaft von Bull. „Wie soll man ein solides Team aufbauen, wenn unsere Leute, die schon zu den bestbezahlten Ingenieuren Indiens zählen, unaufhörlich Angebote aus der ganzen Welt bekommen? So können wir unmöglich unsere Erfahrungen kapitalisieren. Enorme Kompetenzen gehen dadurch verloren.“ Die Personalfluktuation von bis zu 30 Prozent jährlich und Ingenieure mit durchschnittlich kaum fünfjähriger Berufserfahrung machen eine harmonische Entwicklung indischer Unternehmen für ihre Direktoren zu einem schwerwiegenden Problem.
Die Ursache für diesen Mißstand liegt in den Vereinigten Staaten, deren Unternehmen sich in großem Umfang aus diesem willkommenen „Vorrat“ an indischen Ingenieuren bedient haben, um dem starken Wachstumsschub Ende der siebziger Jahre zu begegnen. Damit haben sie die wirtschaftliche Dynamik Indiens geschwächt. Der Weltbank zufolge sind den kapitalistischen „Kopfjägern“ bis 1994 nahezu 50 Prozent der Absolventen der großen indischen Ingenieurschulen ins Netz gegangen.
In den letzten Monaten hat der „Einstellungskrieg“, der sich in Bangalore abspielt, zu Lohnerhöhungen geführt, die bis zu 30 Prozent pro Jahr betragen können. Dadurch wurde die Abwanderung der Wissenschaftler eingedämmt und sogar eine gegenläufige Bewegung ausgelöst. Verstärkt wird diese zum einen durch die heftige Reaktion der US-amerikanischen Gewerkschaften auf die „unlautere“ indische Konkurrenz, zum anderen durch die im Juli 1995 in den USA erfolgte Verabschiedung von Gesetzen, mit denen die „Luxuseinwanderung“ erschwert wird. Es ist eine Ironie des Liberalismus, daß gegenwärtig der indische Markt von den Erfahrungen – und den Verträgen – profitiert, die bei amerikanischen Unternehmen gemacht wurden.6
Nach vierjähriger Präsenz der multinationalen Unternehmen, vor allem in Bangalore, wachsen die Zweifel, ob sie Indien überhaupt helfen können. Hoffen diese Firmen nicht eher, wie die Experten der Weltbank meinen, eines Tages ihre eigene Produktion in Indien absetzen zu können und sich in der Zwischenzeit eine solide Nachschubbasis für ihre Expansion in Richtung Südostasien zu sichern? Der indische Markt mit 200 Millionen zahlungskräftigen Konsumenten weckt Begehrlichkeiten7 , die schon einige Investitionen rechtfertigen können. Einer Untersuchung der Indosuez-Bank zufolge halten sie sich jedoch in einem sehr bescheidenen Rahmen. Dabei ist eine Arbeitsstunde in Indien dreimal billiger als eine in Europa oder in den Vereinigten Staaten, wobei die Kosten für die neue Niederlassung schon mit eingerechnet sind.8
Bedeutet dies, daß die beeindruckenden Wachstumsraten der Nasscom-Unternehmen von Bangalore nur der Nebeneffekt einer Strategie sind, die ausschließlich auf die Interessen der multinationalen Computerkonzerne zugeschnitten ist? Trotz alledem aber profitiert Indien von jeder noch so kleinen Investition aus dem Ausland. Die meisten Firmenchefs in Bangalore zweifeln nicht einen Augenblick daran, daß ihr wirtschaftlicher Erfolg das ganze übrige Land mitreißen wird und daß darin die Hoffnung auf eine neue dritte Welt steckt, die endlich in der Lage wäre, dem Norden auf seinem eigenen Terrain gleichberechtigt entgegenzutreten. Dieses Gefühl wird allerdings nicht von allen geteilt.
„Die Inder haben sich blindlings in das Wettrennen um technische Perfektion gestürzt, weil sie um ihre Wettbewerbsfähigkeit wußten. Dadurch haben sie aber andere Bereiche wie Marketing oder Arbeitsorganisation vernachlässigt. Zudem fehlt es ihnen an Erfahrung in Bereichen, wo ihre Kunden, Banken etwa und Versicherungen, aktiv sind“, erklärt Nicolas Reimen, ein hoher Beamter im französischen Industrieministerium und Koautor einer bemerkenswerten Untersuchung über den „Fall Indien“8.
Indem sie sich auf Routinearbeiten beschränken, die nur geringe Investitionen erfordern – und nur geringe Gewinne einbringen –, aber 80 Prozent der Exporteinnahmen erwirtschaften, versperren sich die indischen Unternehmen den Weg zu einer echten Autonomie. „In Wahrheit“, fügt Reimen hinzu, „sind es die ausländischen Kunden, die ihre nationale Industrie voranbringen!“
Die indischen Marktführer beginnen sich mit der Vorstellung anzufreunden, daß sie zu vollgültigen Software-Produzenten werden könnten. Aber werden die multinationalen Computerkonzerne aus Amerika es zulassen, daß die Partner sich in Konkurrenten verwandeln? „Wir sind nicht Microsoft“, antwortet Dr. Jogendra Singh, der Vizepräsident von Tata Informations Systems, einer Tochtergesellschaft von IBM, „aber schließlich waren es auch nicht die Japaner, die das Fernsehen erfunden haben!“
dt. Christian Voigt
* Journalist