17.01.1997

Artenschutz für die bedrohte Kindheit?

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Artenschutz für die bedrohte Kindheit?

DIE Verbrechen des Kinderschänders Marc Dutroux haben vergangenes Jahr die europäische Öffentlichkeit erschüttert und die Regierungen veranlaßt, mehr für den Schutz der Kinder zu tun. Diese Kampagne zugunsten „gefährdeter Kinder“ ist legitim. Sie berücksichtigt, wie es dem heutigen Rechtsempfinden entspricht, das besondere Leid von Opfern, die hilflos der Gewalt verrohter oder unmenschlicher Erwachsener ausgeliefert sind. Sie ist außerdem eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einer weltweiten Ächtung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Doch das kollektive Beschützenwollen des Kindes hat auch seine dunklen Seiten, inbesondere wenn sich dahinter der Wille verbirgt, die neuen, noch wehrlosen Generationen einer sozialen Kontrolle zu unterwerfen.

Von DENIS DUCLOS *

Einer der Befürworter besserer Gesetze zum Schutz der Kinder hat immer wieder darauf hingewiesen, daß man sie auch vor den Berufspädagogen schützen müsse, die im Namen der Gesellschaft auf sie losgelassen werden. Tatsächlich ist der gute Wille Tausender von Beamten, die dort einspringen, wo die Familie versagt, oft unbewußt infiziert von der perversen Lust an sozialer Herrschaft. Die überschäumende Empörung über Fälle von Mißbrauch und Mißhandlung kann auch dazu führen, daß man noch mehr „Familienhelfer“ einstellt, um das Verhalten zu kontrollieren, und noch mehr krisenfeste Jobs schafft, um erwachsene Straftäter technisch-medizinisch zu überwachen. Damit aber dürfte sich die ohnehin bestehende Tendenz verstärken, die Kindheit aus der Sphäre des Privaten herauszulösen: Die Kinder werden in ein Produkt verwandelt, das sozialen Wert besitzt, sie werden gleichsam unter Artenschutz gestellt.

Die Reaktion auf Gewalt gegen Kinder hat mit dem, was sie anprangert, mitunter gewisse Züge gemein. Ein Beispiel: Als der Erzieher Thomas Hamilton 1996 in einer Schule im schottischen Dunblane fünfzehn Kinder und ihre Lehrerin tötete, forderte ein französischer Psychiater in einem Interview mit Paris-Match die Bildung einer buntgemischten Kommission aus Richtern, Fürsorgerinnen, Psychiatern, Erziehern und so weiter, die über die Freiheit solcher wahnsinnigen Verbrecher entscheiden sollte. Doch wäre eine solche Mischung von Experten wirklich segensreich? Das ist zweifelhaft, denn der Wahn von Thomas Hamilton besteht gerade im Verlangen nach dieser Vermischung: Von den Müttern abgelehnt, die von seinem Interesse an den Knaben – mit denen er allzu brüderlichen Umgang pflegt – beunruhigt waren, richtet er seine tödlichen Schüsse vor allem auf eine Frau und kleine Mädchen, die für ihn den Alters- und Geschlechtsunterschied symbolisieren: einen Unterschied, den er haßt, weil er den Genuß der Verschmelzung sucht, das differenzlose Zusammensein mit Heranwachsenden des eigenen Geschlechts.

Der französische Psychiater übersieht, daß er auf sozialer Ebene fast dasselbe verlangt wie der Mörder: die Aufhebung von Differenzen, das Verschmelzen von Gattungen. Er fordert nämlich, die soziale Autorität an ein Gremium von Sachverständigen zu delegieren, die untereinander alle gleich sind, statt den radikalen Unterschied anzuerkennen, der den Richter, eine vom Volk gewählte Amtsperson, die souverän entscheidet, von den diversen Experten trennt.

So gibt er sich als jemand zu erkennen, der nicht mehr auf politische Souveränität vertraut, sondern allein auf einen Präventionsapparat, der heute an die Stelle Gottes getreten zu sein scheint. Damit steht er nicht allein. So vertritt Marie-France Botte, die in Belgien an vorderster Front gegen Sekten und Pädophilie kämpft, eine „therapeutische Politik gegenüber den Tätern“, das heißt, „die inhaftierten Sexualverbrecher müssen medizinisch und psychologisch betreut werden“, und zwar von einer „Sachverständigenkommission“1 .

Die Eltern der Opfer von Dunblane reagierten maßvoller. Während nach dem Massaker überall die vorhersehbaren Rufe nach schärferen Waffengesetzen sowie Sicherheitsmaßnahmen an den Schulen laut wurden, meinten einige: „Stacheldraht rund um die Schule würde völlig andere Menschen aus uns machen. Wir sollten lieber mit aller Kraft versuchen, wieder so zu leben wie vor den Morden.“2

Ein Ordnungsprinzip existiert nämlich bereits. Will man dem Mörder nicht mit blindem Haß begegnen, muß man zuallererst dafür sorgen, daß sein Eindringen nicht die von alters her bestehenden Abläufe durcheinanderbringt, ähnlich wie man in Algerien bestrebt ist, die Destabilisierungsversuche der Islamisten dadurch abzuwehren, daß man im Familien- und Berufsleben nach jedem Anschlag möglichst schnell zum Alltag zurückkehrt.

Doch viele, die sich eine Beaufsichtigung der Schwachen wünschen, sehen das nicht so, im Gegenteil, sie wollen Verwandtschaftsbeziehungen und traditionelle Instanzen durch politisch-administrative Maßnahmen ersetzen.

Ein aufschlußreiches Zeichen: Wer seinem Kind eine Ohrfeige gibt, kann demnächst gerichtlich verfolgt werden, während gegen die Eltern gerichtete Handlungen nicht mehr beim Namen genannt werden. So kennt das französische Gesetz keinen „Vater-“ oder „Muttermord“ mehr, sondern spricht, weniger symbolträchtig, vom „Mord an einem Vorfahren“.

So gerecht der Zorn auf die Triebtäter auch ist, sollte man doch nicht vergessen, daß die kollektive Liebe zum Kind insgeheim zu Exzessen neigt und bisweilen monströse Formen annimmt. So wendet man sich mit Abscheu von der inzestuösen Sinnlichkeit ab, spricht vom (verdrängten oder unverdrängten) Trauma des Kindes, kümmert sich aber kaum um seine Würde als Subjekt, wenn die Polizei es seinen Eltern wegnimmt, bloß weil Nachbarn beobachtet haben, daß es zwei Stunden lang allein zu Hause war (in den USA und Kanada ein ganz gewöhnlicher Vorfall). Man geißelt die Art, wie Erwachsene ihre Position gegenüber Minderjährigen mißbrauchen, aber man scheut sich, eine soziale Organisation zu kritisieren, die sich dazu versteigt, auf Plakaten von „unseren Kindern“ zu reden, obwohl dies an gewisse Regime erinnert, die ganze Generationen nach dem Bild eines Führers modellieren wollten. Mit Grausen blickt man auf den, der sich seinen Sprößlingen in unzüchtiger Absicht nähert, doch man wagt nicht, gegen die verlogene Schwärmerei vorzugehen, die dem Kind als einem Produkt der Gesellschaft gilt, das durch die Schule und die Dauerberieselung mit Werbung standardisiert wird.

Der Zwang, den ein niederträchtiger Vater oder ein sittlich verdorbener Erzieher gegen einen wehrlosen Geist und Körper ausübt, wird inkriminiert, doch der Zwang, der in einem auf Verdummung zielenden Erziehungsstil liegt, wird kaum wahrgenommen. Regt sich irgend jemand über die zahllosen Techniken mentaler Beeinflussung auf, die an autistischen Kindern vorgenommen werden – mit der Begründung, daß diese Gewalt nur zu ihrem Besten sei, worunter man sich nichts anderes vorstellt als ihre gelungene Eingliederung in die Gesellschaft?

Doch damit nicht genug: Als globalitätsgläubige Herdentiere schicken wir uns an, mit Gesetzen gegen die Mißhandlung und sexuelle Ausbeutung von Kindern einem besonders in Amerika verbreiteten Trend zu folgen, gegen Sexualverbrecher, immerhin trotz allem unsere Mitmenschen, mit überzogenen Repressionen vorzugehen. Wer aber überprüft jene Pseudowissenschaftler, die behaupten, sie könnten die Lust der von ihnen betreuten Delinquenten durch Einübung neuer Masturbationsgewohnheiten auf gesellschaftlich akzeptable Objekte lenken?

So empfindlich wir auf das obszöne Verhalten des Sexualverbrechers reagieren, so wenig scheint uns das gute Gewissen einiger Spezialisten für Zwangsbehandlungen zu beunruhigen, obwohl dieses voraussetzt, daß man die gerichtliche Verantwortlichkeit des einzelnen Bürgers geringschätzt, und obwohl es auf der Anmaßung beruht, man könne Begierden kanalisieren, das Denken lenken und noch in die letzte dunkle Ecke eines jeden Menschen hineinleuchten.

Wird sich eine gefährlich emotionalisierte politische Klasse noch zu der einfachen Einsicht durchringen können, daß die Abdankung des Rechtssubjekts zugunsten eines unfreiwilligen Patienten uns wieder auf das Herumstümpern am menschlichen Körper zurückwirft? Sieht man nicht, was für einen Rückschritt es bedeutet, einen Verbrecher als Kranken zu behandeln, obwohl er dies gewiß nicht durch die Art seines Begehrens oder die Wahl seines Objekts ist, sondern weil er sich entschieden hat, Taten zu begehen, die in unserer Gesellschaft als verwerflich gelten?

Denn warum sollte man dann nicht auch die Homosexuellen wieder zu „Kranken“ erklären? Warum sollte man die Vorliebe gewisser junger Männer für reife Frauen und gewisser Frauen für Männer, die ihre Väter sein könnten (es aber nicht sind), nicht als krankhaft betrachten? Warum sollte man nicht wieder aus jeder Begierde, die der sozialen Norm zuwiderläuft, eine Krankheit machen, die behandelt werden muß?

Mordinstinkte

ABGESEHEN davon, daß eine Negation des Begehrens keinen Erfolg verspricht (dieses hat noch jedes Verbot überlebt), scheint man nicht die Folgen zu bedenken, deren geringste Gesundheitskontrollen wie im vorigen Jahrhundert wären, während die schlimmsten auf puritanische Gesetze der übelsten Sorte hinauslaufen dürften.

Soll man den rückfälligen Vergewaltiger chemisch kastrieren? Warum eigentlich nicht? Er hat es ja nicht anders gewollt. Soll man den Pädophilen entmannen? Aber ja doch! Um ein Exempel zu statuieren! Doch wenn wir uns schon auf die Logik der Rache einlassen: warum nicht Pornofilmern und ihren Millionen Zuschauern die Augen ausstechen? Warum nicht gleich Müttern, deren „Pädophilie“ zwar nicht so sichtbar ist4 , die ihre Kinder aber auch mißbrauchen oder sie mit ihrer „Liebe“ ersticken, chemisch die Gebärmutter oder die Brüste entfernen?

Man mag einwenden, daß sich Sexualverbrechen nicht wesentlich von anderen Straftaten unterscheiden. Daran soll es nicht scheitern!, erwidert diese Logik. Man könnte ja auch – chemisch natürlich – die Beine des Handtaschenräubers oder die Hände des Taschendiebs abschneiden. Und – warum nicht? – chemisch das Gehirn derer amputieren, die den Betrug des Jahrhunderts geplant haben (etwa in Form der steuerfreien Renten).

Das Lächerliche ist hier freilich nicht weit von der Wahrheit entfernt: Die geplanten Gesetze zur Zwangsbehandlung schaffen die gedanklichen Voraussetzungen für eine Regression, indem durch sie die Ursachen für abweichendes Verhalten in den Körper zurückverlegt werden: Rauschgiftsucht, Alkoholismus, Wahnsinn und jetzt auch Formen der sexuellen Begierde, die man eigentlich als gesellschaftlich vorgegebene, aber dennoch – bis hin zum Verbrechen – frei und verantwortlich wählbare Verhaltensweisen betrachten sollte, werden zu physischen Gebrechen umgedeutet.

Schon immer fielen Mörder gern über Schwächere her (der Mann über die Frau, die Frau über die Kinder), ganz so, wie es auch Sklavenhalter taten oder – nach altem Brauch – die Zuhälter noch heute tun. Doch wie kommt man darauf, derartige Praktiken, die zum Teil sozial induziert sind, mit einer psychologischen Intention zu verwechseln, der ein hormonell gesteuerter Trieb zugrunde liegen soll, der sich unterdrücken ließe? Wieso stülpt man dem Verbrechen oder der Straftat den Begriff der Krankheit über, wie es die in Frankreich im Schnellverfahren vorbereiteten Gesetzentwürfe tun, wenn nicht mit dem Ziel, die Psychiater zu veranlassen, ihren Kompetenzbereich zu überschreiten und sich zu Mitarbeitern einer allgemeinen Sittenpolizei aufzuschwingen?

Denn letztlich haftet dem Sexualverbrechen nichts an, was eine derartige Mobilisierung von Expertengremien oder moralischen Milizen zwecks Unterstützung der Justiz rechtfertigen würde. Vergewaltiger oder Kinderschänder werden nicht häufiger rückfällig als andere Kriminelle, eher seltener. Die bestbeglaubigten internationalen Zahlen bestätigen das hinlänglich, doch im Überschwang der Empörung wird es gern vergessen. Wenn die Pädophilen angesichts des inakzeptablen Charakters ihrer Leidenschaft weitverzweigte Netze im Untergrund gebildet haben mögen, heißt dies noch lange nicht, daß Entführungen deshalb zugenommen haben oder daß jeder Pädophile Kinder tötet oder verletzt. Dagegen konnten seriöse Forscher im Volk wie bei den Medien eine Tendenz nachweisen, bestimmte reale Ereignisse mit Gerüchten zu vermengen (wie denen über Adoptionen im Ausland, über den Handel mit Nieren oder gar mit menschlichem „Material“ für Opferrituale!).

Natürlich muß dem Serienverbrechen, ob sexueller Natur oder nicht, ein Riegel vorgeschoben werden. Doch in der breiten Masse anständiger Bürger weckt es zudem oft Mordinstinkte, besonders wenn die Gesellschaft in einer Identitätskrise steckt (was zum Beispiel für die wallonische Gesellschaft gilt, die in den letzten Jahren starke wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen durchmachen mußte, oder für die deutsche Gesellschaft, die immer noch an den Wunden leidet, die die Weltkriege ihrem Selbstwertgefühl zugefügt haben).

Jede ernsthafte Analyse der sozialen Neurose, wie sie besonders kraß im Rahmen der schrecklichen Dutroux-Affäre hervortrat oder unlängst in Kalifornien (wo das Volk über einen Gesetzentwurf abstimmen will, der die chemische Kastration rückfälliger Sexualstraftäter vorsieht), muß stets die tieferen Beweggründe berücksichtigen. Neben einer verständlichen Reaktion gegen die Zunahme von immer offener ausgeübten Perversionen – oft in höheren Kreisen – gibt es auch Motive, die keineswegs auf der Höhe jener Moralpredigten sind, wie sie anläßlich des Jahrs des Kindes gerne gehalten wurden. Um sie in den Blick zu bekommen, sollte man einmal nüchtern fragen, wer eigentlich das große Gezeter anstimmt (oder die Medien an seiner Stelle aufheulen läßt).

Der laute Ruf nach Strafe und Vergeltung, der die Kehrseite der gesellschaftlichen Vergötterung des Kindes bildet, ist mit einer allgemeineren Aggression verwandt, die sich gegen das Kind selbst richtet, ein Übergangswesen, aus dem unausweichlich ein Erwachsener wird. Der Schwärmer indes glaubt an ein mythisches Reich der Kindheit, und Kinder sind für ihn eine bedrohte Art, ein gemeinsames Erbe der Menschheit, ein kollektiver Freudenquell, über den die Eltern nur die Aufsicht haben.

Muß man daran erinnern, daß das, was zwar nicht das Kind im Werden, wohl aber die Kindheit als Zustand tötet, weniger die physische Gewalt ist, sondern das Leben selbst? Unvermeidlich wächst man (auch wenn man es, wie der Held der „Blechtrommel“ von Günter Grass, nicht will), verläßt die Sphäre des mütterlichen Umsorgtseins und betritt die Welt der Großen, die allein mit ihrem Schicksal fertig werden müssen.

Sicher hat jedes Kind, wie es auf einem Plakat der Fondation de France heißt, ein Recht auf seine Kindheit. Doch es hat auch das unverjährbare Recht, ein Subjekt zu sein, das eines Tages aus ihr herauswächst. Indem er den Traum von der Kindheit – der vor allem einer der Erwachsenen ist – verewigen will, idealisiert der Priester des postmodernen Kinderkults eine Situation, aus der die Kinder selbst in Wahrheit herauswollen. Wie sollten sie auch wünschen, ihr Leben lang die Schwachen in einer Beziehung der Ungleichheit und gegenseitigen Abhängigkeit zu sein?

Doch eben das scheint dem Anhänger einer geschützten und gleichsam vakuumverpackten Kindheit vorzuschweben, wenn er die Kinder in alterslose Idole verwandelt und eine eigene Spezies aus ihnen macht, in der sich sein besseres Ich spiegelt. Wo der einzelne Pädophile dem Kind seine Gegenwart raubt, bemächtigt sich der „Kinderschützer“ der Kindheit im ganzen und läßt sie zu einer gesellschaftlich manipulierbaren Vorstellung gerinnen: zur Vorstellung einer zeitlosen Selbstreproduktion des sozialen Ich.

In letzter Zeit haben mehrere bedeutende Personen vor dieser beunruhigenden Tendenz gewarnt, so etwa Francis Mertens5 , der schreibt: „Mit ihrer seelischen Unreife und ihren morbiden Trieben halten die Pädophilen der Gesellschaft ein grimassierendes Spiegelbild vor, in dem diese sich nicht wiedererkennt. Täglich aber blickt sie mit Wohlgefallen auf die hoffnungsfrohen Bilder einer Werbung, die mit androgynen Jugendlichen lockt.“ Und Bryan Appleyard von der britischen Zeitung The Independent: „Dieses Besessensein von der Kindheit – als Symbol des Guten und manchmal auch des Bösen – ist infantil. Es ist symptomatisch für eine Gesellschaft, die nicht erwachsen ist. Natürlich muß man sich um die Kinder kümmern und die verfolgen und verurteilen, die sie mißhandeln. Aber daß wir so davon besessen sind, beweist nur, daß wir am Erfolg unserer Bemühungen zweifeln und daß es in der Gegenwart etwas so Schreckliches gibt, daß wir lieber in die Zukunft flüchten, die, so denken wir, von unseren Kinder verkörpert wird. Doch diese werden uns dafür nicht dankbar sein, denn anders als ihre Eltern glauben die Kinder noch, daß sie größer werden.“6

Schließlich sei noch aus dem schönen Artikel von Jean Baudrillard zitiert7 , in dem er die von der UNO verabschiedete Konvention über die Rechte der Kinder kritisiert: „Dies ist das Ende des Kindes als eines Wesens, das nicht nur die Dualität von Mann und Frau in sich trägt, sondern auch die von Vergangenheit und Zukunft, die allein ein Gedächtnis erschafft.“ – „Das Kind“, fügt Baudrillard betrübt hinzu, „wird es auch weiterhin geben, doch es wird ein Objekt der Neugier oder der sexuellen Perversion sein, ein Objekt des Mitleids, der Manipulation und des pädagogischen Experiments.“

Diese Einschätzung dürfte noch richtiger sein, wenn man „und“ statt „oder“ sagt, denn all das scheint gemeinsam einzutreten, nicht zuletzt dank jener Gutmenschen, die, wie noch einmal Jean Baudrillard mit Blick auf den UNO-Text sagt, „das Kind der Lächerlichkeit preisgeben und einen gelehrten Affen aus ihm machen, indem sie es mit dem ganzen juristischen Tand der Erwachsenen ausstaffieren“.

Das Ideal kindlicher Abhängigkeit, das sich hinter der Empörung über den Verbrecher verbirgt, läßt sich zum Beispiel daran ablesen, daß man das Verbrechen des Pädophilen gegen diesen selbst kehren möchte: Durch die von vielen geforderte chemische Kastration würde der Verurteilte zu einem geschlechtslosen Wesen ohne eigenes Verlangen, ganz so wie man sich das geschändete Kind vorstellt (damit es ein echtes Opfer ist). Doch auch wenn die Umerziehung nur auf psychologischem Weg vonstatten geht, zielen die angewandten Methoden auf eine Infantilisierung des Patienten: „Verbinden Sie eine bestimmte Farbe mit einem bestimmten Gefühl“, fordert ein Betreuer im Maßregelvollzug den Rückfälligen auf, den er augenscheinlich für einen abgestumpften Halbidioten hält.

In der gewaltsamen Infantilisierung einiger Verbrecher ist die Infantilisierung der „normalen“ Erwachsenen vorprogrammiert. Der mangelnde Respekt vor dem Erwachsen- und Verantwortlichsein der ersteren geht unmittelbar über in den mangelnden Respekt vor der Verantwortung aller Erwachsenen, die nun einmal, in ihrer Gesellschaft, gewisse Grenzen nicht überschreiten, nicht jeder Begierde nachgeben dürfen.

Nicht nur dem Verbrecher, sondern allen wollen die Kontrolleure des Sexus durch infantilisierende Repression die Angst vor dem Geschlechtsakt ersparen, der das Selbst und den anderen umgreift. Durch diese Repression soll das Geschlechtliche in eine Logik transparenter – und von Natur aus guter – Seelen eingebunden werden, die sich gegenseitig überwachen, kurz, Verhalten soll durchgängig „pädagogisiert“ werden.

Hinter den schneidigen Reden, die unmenschliche Taten (deren Bestrafung man getrost dem Richter überlassen sollte) zum Vorwand nehmen, um einen „über die Menschenrechte hinausgehenden“ Schutz zu fordern, lauert eine Massenperversion, die nur darauf wartet, daß die Vernunft der Bürger eine Schwäche zeigt, um ihr wahres Gesicht hervorzukehren. So wie es etwa der puritanische Diktator Cromwell tat, der ein Spezialist in der Beseitigung von Häretikern war und sich – ein Zufall? – „Protektor“ nannte. Dann wird es nicht mehr so friedlich wie jetzt noch um Schutz für die Schwachen gehen.

Wenn ein schöner Film wie der von Jacques Doillon („Ponette“) in Frankreich wegen angeblich pädophiler Tendenzen vor Gericht gebracht werden soll, spürt man einen Haß, der für das, was er zu verdammen vorgibt, ein geheimes Interesse hegt. Indem uns der Regisseur das Kind als kleinen Erwachsenen vorführt, entwirft er ein Gegenbild zur heute herrschenden Kindheitsideologie, die, wie der Historiker Philippe Ariès gezeigt hat, im 18. Jahrhundert entstanden ist. Dieses Bild ist nicht unbedingt treffender, aber immerhin wird so eine Debatte zwischen Leuten ermöglicht, die sich fragen, welche Liebe uns, ob groß oder klein, im Leben hält.

Rückkehr der alten Gespenster

DIESE Diskussion aber soll nicht mehr erlaubt sein! Weil es seit jeher ein Häuflein „schmutziger alter Männer“ gibt, die die Körper unserer Kinder betatschen, und weil abscheuliche Subjekte sie vergewaltigen und töten (prozentual nicht häufiger als vor zwanzig oder hundert Jahren), sollen wir uns weltweit vereinen im Entsetzen über eine Schandtat, die sich einem bloß juristischen Zugriff angeblich entzieht.

Man weiß nicht, ob man eine Geistes- oder Triebstörung dafür verantwortlich machen soll, doch wenn man die Massen der Demonstranten fragt (die die derzeitigen Gesetzesnovellierungen auf den Weg gebracht haben), kommt der eigentliche Urheber des Verbrechens schnell ans Licht: der leibhaftige Teufel!

Dieses personifizierte Böse, das geheime Zentrum jeder fundamentalistischen Haltung, spukt vor allem durch die Köpfe ohnmächtiger Wohlstandsbürger, was die reichen Vororte, in denen ein blinder, zielloser Haß wächst, potentiell wieder so explosiv werden läßt wie 1692 in Boston (Hexenprozesse von Salem), gefährlicher jedenfalls für den allgemeinen Frieden als die Trabantenstädte der Arbeiter und kleinen Angestellten, wo man oft pragmatischer und weniger sektiererisch reagiert.

Wenn es darum ging, dumpfe Masseninstinkte zu wecken, war das Kind als unschuldiges Opfer (das vielleicht in letzter Minute noch von einem guten Erwachsenen gerettet wurde) oft der geeignete Auslöser. Als die Schlachter des jüdischen Ghettos von Avignon verdächtigt wurden, dem koscheren Fleisch Reste geopferter Kinder unterzumischen, wußte man nur zu gut, wozu dieses von königlichen und päpstlichen Behörden ausgestreute Gerücht diente. Als man in Salem neunzehn „Hexen“ hängte, weil sie unter anderem auch schmutzige Dinge mit Kindern getrieben haben sollten, gab es in der tristen Bay Colony sicherlich ein paar Verrückte (wie auch im britischen Mutterland, wo solche Tribunale recht zahlreich waren). Doch was derartige Prozesse den Inquisitoren oder den fanatischen Pastoren ermöglichten, war etwas anderes: Sie konnten die als Christen verkappten Juden verfolgen, konnten Jagd machen auf junge Frauen, die gegen die häusliche und sexuelle Unterdrückung aufbegehrten, und ganz allgemein politische oder religiöse Abweichler mundtot machen.

Umgekehrt darf man sich fragen, was besonders aufdringliche Bekundungen von Kinderschutz eigentlich bedeuten. Zum Beispiel die merkwürdige Gewohnheit einiger Aggressoren, die Kinder ihrer ermordeten Opfer zu „adoptieren“ (wie es etwa in den siebziger Jahren in Argentinien die folternden Militärs taten). In einer normalen Situationen mag es noch angehen, daß jemand ein armes oder geschundenes Kind adoptiert, und sei es nur, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen, das ihn seine Untaten gegenüber Vertretern anderer Meinungen vergessen läßt. Doch Kinder, auch wenn sie nicht begrapscht, vergewaltigt oder geschlagen werden, brauchen sicher ein frühes Philosophengemüt, um bleibende Schäden zu vermeiden, wenn sie als lebende Siegestrophäen aufwachsen müssen.

Der Lobgesang auf die kindliche Unschuld schlägt übrigens schnell ins Gegenteil um: in das Entsetzen vor dem wilden Kind, das zu Halloween als leibhaftiger Tod erscheint, um zu verlangen, was ihm zusteht! In einer Kultur von Beschützern, denen das Gespür für die Generationenfolge abhanden gekommen ist, sind übertriebene Liebe und blindwütiger Haß auf das Kind also enger miteinander verwandt, als man meint.

Bei all dieser Raserei der Gefühle sollte man freilich nicht die Kinder vergessen, die wirklich ein Martyrium erleiden, und versuchen, die oft komplexen Hintergründe zu analysieren. Auf den aus den Medien vertrauten Anblick asiatischer Kinder, denen nur die Straße und die Prostitution bleibt, müßte dann endlich so reagiert werden wie 1830 auf die Berichte von Louis René Villermé, nach deren Bekanntwerden in Frankreich das Zeitalter der Kinderarbeit zu Ende ging.

Wenn perverse Praktiken sich über das Maß des für erlaubt Gehaltenen hinaus verbreiten, sucht die Gesellschaft nach geeigneten Eindämmungsmaßnahmen. Doch sollte man seine Aufmerksamkeit lieber ein paar soziologischen Aspekten der wirtschaftlichen oder sexuellen Ausbeutung von Schwächeren schenken. Warum zum Beispiel scheint die Pädophilie in den höheren Schichten häufiger als anderswo vorzukommen? Erklärt vielleicht die Gewohnheit, Diener, Untergebene oder Sklaven mit Kindern gleichzusetzen, zum Teil jene Umkehrung der Metapher, die dazu führt, Kinder als Sklaven zu behandeln? Unterscheiden sollte man jedenfalls zwischen dem eher volkstümlichen Inzest und dem elitären pädophilen Netz, um dann zu überlegen, was dieser Unterschied für Herrschaftsbeziehungen und Herrschaftsmittel im allgemeinen bedeutet, in einer Welt, in der sich die sozialen Gräben ständig vertiefen.

Die bürgerlichen Freiheiten sind etwas so empfindliches, daß der Bürger sich fragen sollte, ob das Heilmittel nicht schlimmer sein wird als das Übel und am Ende perverse Exzesse der Macht provoziert. In einer Zeit jedoch, in der angesichts der vielen Sackgassen des Fortschritts die Ängste zunehmen, ist man mehr und mehr bereit, die Gefahr solcher Exzesse in Kauf zu nehmen.

Und zwar, was besonders beunruhigt, nicht nur am Stammtisch. Was hat kluge Menschen, die „Brave New World“ von Aldous Huxley und „Clockwork Orange“ von Stanley Kubrick einmal für großartige Werke hielten, die uns vor dem in jeder Massengesellschaft möglichen Abgleiten in den Faschismus warnen, dazu gebracht, Dinge wie die chemische Kastration oder die Fernüberwachung durch Armbandsender, die Zwangsbehandlung oder die sexuelle Umerziehung, die Röntgenstrahlen an Schultoren oder die Denunziation von Eltern als geeignete Mittel der Verbrechensbekämpfung zu betrachten? Wie kommt es, daß gebildete Menschen, die eben noch die Kritik von Maurice Blanchot und Jacques Lacan am latenten Sadismus moralisierender Pädagogik für richtig hielten, scheinbar gleichgültig mitansehen, daß eine ethische Wiederaufrüstung betrieben wird, die sich am Modell eines ebenso plumpen wie zweideutigen Puritanismus orientiert?

dt. Andreas Knop

* Soziologe, Autor von „Complexe du loup-garou“, Paris (La Découverte) 1994, und von „Nature et démocratie des passions“, Paris (PUF) 1996.

Fußnoten: 1 Libération, Paris, 21. August 1996, Seite 6. Trotz dieser kritischen Bemerkung verurteilen natürlich auch wir die feigen Angriffe gegen Marie-France Botte, zu denen es im Zuge der über Belgien hereingebrochenen Massenpsychose gekommen ist. 2 Bill Hewitt, John Hannah, Joel Stratte-McClure, Sterling Fenell Eason, „Innocents Lost“, People Weekly, 1. April 1996, S. 42 und 49. 3 Welche Gefahren dies birgt, hat sich am 11. Oktober 1996 im belgischen Kortrijk gezeigt, als der Vater eines kleinen Mädchens einem Freund der Familie die Kehle durchschnitt, nachdem dieser gestanden hatte, es mißbraucht zu haben. 4 Aber durchaus real, glaubt man der großen Psychologin Joyce McDougall; vgl. ihr neues Buch „Eros aux mille et un visages“, Paris (Gallimard) 1996. 5 Präsident der Vereinigung psychoanalytisch orientierter Psychologen Belgiens. Siehe „Un modèle belge de désarroi“, Le Monde, 11. Oktober 1996. 6 „L'infantilisme des défenseurs de l'enfance: exploitation politique“ (Übersetzung in Courrier international, Paris, Nr. 305, 5.-12. September 1996). 7 „Le continent noir de l'enfance“, Libération, 16. Oktober 1995.

Le Monde diplomatique vom 17.01.1997, von DENIS DUCLOS