Stammestradition gegen Geschäftswelt
FAST fünf Jahre sind seit dem Ende des Golfkriegs vergangen, aber die Demokratisierung der Gesellschaften in der Region ist noch immer nicht vorangeschritten. In Saudi-Arabien hat der Aufschwung einer islamistischen Opposition zu einer um so härteren Haltung des Regimes geführt. In Bahrain dauert die Intifada für die Wiedereinsetzung der Nationalversammlung bereits mehr als zwei Jahre an. Und die jüngsten Wahlen in Kuwait bekräftigen die paradoxe Situation in diesem Emirat: Es herrschen relativ demokratische Verhältnisse, allerdings nur für eine kleine Minderheit der Bevölkerung.
Von YAHYA SADOWSKI *
Daß in Kuwait im Oktober 1996 ein neues Parlament gewählt wurde, war der westlichen Presse kaum eine Meldung wert. Schließlich haben nur 15 Prozent der Bürger Kuwaits das Wahlrecht – ausschließlich erwachsene Männer, die seit mindestens zwanzig Jahren die Staatsbürgerschaft besitzen und weder der Polizei noch der Armee angehören. Und ohnehin bilden die Staatsbürger nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung. Die ausländischen Arbeiter, die rund 60 Prozent der Einwohner stellen, werden nie dazugehören. Nach der Ausweisung von 300000 Palästinensern während des Golfkriegs hat sich Kuwait die neuen Kräfte vorwiegend aus dem Süden Indiens und von den Philippinen kommen lassen.
Außerdem sind die Befugnisse des Parlaments beschränkt. Weder bei der Bestimmung des Premierministers (dieser Posten ist dem Kronprinzen vorbehalten) noch bei der Einsetzung der Regierungsmitglieder haben die Abgeordneten mitzureden, und ihre Beschlüsse können von Kuwaits Emir Scheich Jaber al-Ahmed al- Jaber al-Sabah aufgehoben werden.
Dennoch ist es bedauerlich, daß die jüngsten Wahlergebnisse im Westen so wenig beachtet wurden. 80 Prozent der Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben. Zuvor hatte ein lebhafter Wahlkampf stattgefunden; die Auszählung der Stimmen erfolgte rasch und ohne Unregelmäßigkeiten. Diese Wahl sagt viel über die tiefgreifenden sozialen Wandlungsprozesse aus, die sich nicht nur im Emirat, sondern in der gesamten Region am arabisch-persischen Golf vollziehen.1
In der siebten Nationalversammlung, die 1992 gewählt worden war2 , hatten drei politische Gruppierungen die Sitze unter sich aufgeteilt. Ein Drittel der fünfzig Abgeordneten bestand aus sogenannten unabhängigen Kandidaten oder aus Vertretern der Stämme, auf deren Loyalität die Herrscherfamilie im allgemeinen zählen kann. Ein weiteres Drittel wurde von den islamischen Bewegungen gestellt, zu denen sowohl die Vertreter der eher liberal orientierten schiitischen Gemeinschaft zählen als auch zwei sunnitische Gruppen: die aus dem lokalen Ableger der ägyptischen Muslimbrüder hervorgegangene Islamische Verfassungsbewegung und die Salafijinen, die Verbindungen zur konservativen saudiarabischen Wahhabiten-Bewegung unterhalten. Das letzte Drittel bestand aus den Vertretern der liberalen Opposition gegen die Sabah-Dynastie: dem Demokratischen Forum der arabischen Nationalisten sowie zahlreichen unabhängigen „fortschrittlichen“ Abgeordneten. Im Parlament gaben die liberalen Kräfte den Ton an, da sie in wichtigen Fragen häufig auf die Stimmen der islamistischen Abgeordneten zählen konnten.
Die Wahlen vom Oktober haben diese Kräfteverhältnisse grundlegend verändert. Erneut gewannen die islamischen Bewegungen ein Drittel der Sitze. Doch trotz eines zusätzlichen Mandats für das Demokratische Forum ist der Rest der liberalen Opposition praktisch verschwunden: Statt zehn gibt es nur noch zwei unabhängige liberale Abgeordnete. Dagegen entsenden die Stämme nun sieben anstelle von zwei Vertretern ins Parlament, und somit bilden sie gemeinsam mit den unabhängigen Konservativen den stärksten Stimmenblock – über die Hälfte der Sitze wird nun von Männern eingenommen, die im großen und ganzen den Weisungen der Herrscherfamilie folgen.
Für die Auflösung des liberalen Blocks gibt es mehrere Gründe. Zunächst haben sich einige der langjährigen liberalen Führer aus Altersgründen zurückgezogen (unter ihnen Ahmad al-Khatib, der große alte Mann der arabischen Nationalisten in Kuwait). Außerdem führen die Stammesgruppen inzwischen Vorwahlen durch, um sich vor dem Urnengang auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen, für den sie dann geschlossen stimmen können. Zwei weitere Faktoren verdienen genauere Betrachtung, weil sie Ausdruck struktureller Veränderungen sind, die auch in Zukunft das politische Leben prägen werden.
Im Wahlkampf standen wirtschaftliche Fragen im Vordergrund. Laut den Umfragen machten sich die Wähler vor allem Gedanken um die Erhaltung der öffentlichen Mittel, um die Arbeitslosigkeit, das Haushaltsdefizit und die bevorstehenden Privatisierungen. Kein Wunder: Von den Folgen des Golfkriegs hat sich die Wirtschaft des Landes nie ganz erholt.
Vor dem Konflikt verfügte die Regierung über 100 bis 110 Milliarden Dollar an Rücklagen in einem Fonds, der für die kommenden Generationen gedacht war. Als Folge der Invasion fielen für die Dauer eines Jahres die Einnahmen aus dem Ölexport aus. Zugleich mußte die Regierung all jenen helfen, die während der Besatzung vertrieben worden waren. Der Wiederaufbau kostete Milliarden, und schließlich wollte auch Washington bezahlt werden – allein für die militärischen Operationen im engeren Sinne wurden Saudi-Arabien, Kuwait und den übrigen Emiraten 58 Milliarden Dollar in Rechnung gestellt. Außerdem mußte man sich den Verbündeten für ihre Loyalität erkenntlich zeigen, indem man für über 30 Milliarden Dollar neue Waffen bei ihnen kaufte. Kurz: Von dem genannten Fonds blieben bald nur noch 15 bis 30 Milliarden Dollar, und es entstand ein strukturelles Haushaltsdefizit in Höhe von fünf Milliarden jährlich.
Vom Geldgeber wurde Kuwait zum Schuldner, und die Regierung paßte sich den neuen Gegebenheiten an, indem sie innen- wie außenpolitisch einen deutlichen Kurswechsel vornahm. Als die Vereinigten Staaten im September 1996 eine große Zahl Flugzeuge und Bodentruppen nach Kuwait entsandten, um dem Irak gegenüber Stärke zu demonstrieren, gingen sie davon aus, daß das Emirat die Kosten dieses Aufmarsches übernehmen werde. Ein Trugschluß: Um die Bezahlung der 50 Millionen Dollar entstand eine peinliche Auseinandersetzung zwischen den Verbündeten. Kuwait zahlte schließlich, aber in mehreren Raten ...
Das Regime beschloß auch, die staatlichen Leistungen für die Bevölkerung einzuschränken. Bislang war der Staat der größte Arbeitgeber des Landes gewesen, er beschäftigte 93 Prozent der Arbeitnehmer. Die Kürzung der öffentlichen Ausgaben führte also zu einer erhöhten Arbeitslosigkeit. Daß so viele liberale Abgeordnete ihr Mandat verloren haben, lag daran, daß nach Meinung vieler Kuwaiter das 1992 gewählte Parlament zu viel Zeit mit der Erörterung von Nebensächlichkeiten vertan hat, anstatt sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Eine weitere wichtige Veränderung liegt in der Zusammensetzung der Wählerschaft. Die kuwaitische Gesellschaft unterliegt einer zunehmenden Polarisierung: Während in Kuwait-Stadt die alten Händlerfamilien, die den Staat aufgebaut haben, noch immer den größten Einfluß besitzen, drängen sich in den Vorstädten die neuen Zuwanderer, die sich nach ihrer jeweiligen Stammeszugehörigkeit zusammentun. Die Gräben zwischen diesen beiden sozialen Gruppen sind tief. Im Durchschnitt besitzen die Bewohner des Stadtzentrums die bessere Schulbildung, sie sind wohlhabender und häufig in gehobener Stellung in der Bürokratie beschäftigt. Wer am Stadtrand wohnt, ist unterprivilegiert – sofern man diesen Begriff in bezug auf ein Land gebrauchen will, das seinen Bürgern einen Broterwerb sowie kostenlose Ausbildung und Gesundheitsversorgung garantiert.
Die relativ privilegierte Bevölkerung des Stadtzentrums bildet den Kern der liberalen Wählerschaft. In diesen Kreisen gehören Geschäftsreisen ins Ausland zum Beruf, häufig arbeiten die Frauen und Töchter außer Haus, und insgesamt wird der Einfluß kosmopolitischer Vorstellungen spürbar. Die einflußreichsten Familien – etwa die al-Ghanim, die al-Hamad, die al-Saqr – sehen ihren Rang nicht geringer als den des Hauses al-Sabah, dem sie seit langem mit offener Kritik begegnen.
Dagegen halten die Bewohner der Vorstädte an ihren konservativen Vorstellungen aus dem Stammesmilieu fest. Sie nehmen Anstoß an den Sitten der Geschäftswelt und fühlen sich der Herrscherfamilie verpflichtet, die sie in Kuwait aufgenommen und ihnen die Staatsbürgerschaft gewährt hat. Im übrigen kann man es als einen Erfolg des machthabenden Clans sehen, daß es diese Bevölkerung der städtischen Randbezirke überhaupt gibt: Um sich eine Massenbasis als Gegengewicht zu den Händlerfamilien zu beschaffen, haben die al-Sabah die Beduinen zur Ansiedelung ermuntert und ihnen die kuwaitische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Seit 1960 kamen 250000 Mitglieder von Stämmen aus der Region, weitere 100000 warten noch auf ihre Einbürgerung.
Kurzfristig bedeutet der Erfolg der Vorstadtbewohner, daß die al-Sabah eher mit der Unterstützung des Parlaments rechnen können. Langfristig kommen auf das Regime allerdings schwierige Zeiten zu: Unter der Maßgabe von Haushaltskürzungen dürfte es ihnen nicht mehr so leicht fallen, sich der Loyalität der Stämme durch Vergünstigungen und Stellenvergabe zu versichern. Zwei Alternativen bieten sich an: Sie könnten die öffentlichen Leistungen weiter einschränken, die Staatseinnahmen durch Steuererhöhungen aufbessern und gleichzeitig versuchen, im Rahmen der Privatisierung neue Arbeitsplätze zu schaffen. Oder sie entscheiden sich für eine Umverteilung der Mittel, wobei ihre Anhänger vielleicht besser bedient werden als ihre Gegner.
Während also die Politiker metropolitaner Orientierung erwägen, den Frauen mehr Freiheiten einzuräumen, um ihnen Zugang zu den Entscheidungsebenen zu gewähren, nörgelt man in den Vorstädten, daß der Staat neue Arbeitsplätze schaffen könnte, wenn er sich an die konservativen Vorstellungen von der Geschlechtertrennung hielte und in den staatlichen Institutionen keine Frauen mehr einstellte. Die Regierung ist in der Zwickmühle: Was immer sie beschließt, wird Opfer fordern und Streit auslösen – beiden politischen Lagern wird sie es keinesfalls recht machen können.
dt. Edgar Peinelt
* Forscher bei der Brookings Institution, Washington D. C.