17.01.1997

Der Lohnarbeiter – eine historische Fußnote

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Der Lohnarbeiter – eine historische Fußnote

Von JEAN COPANS *

DIE Verlagerung von Arbeitsplätzen aus industrialisierten Ländern in ihre weniger entwickelte Peripherie wirft gegensätzliche Problemstellungen auf. Zum einen ist zu fragen, ob die Arbeit noch der Grundwert unserer westeuropäischen Gesellschaften bleiben kann1 , zum anderen, ob sich in einer Zeit der Globalisierung das Nachdenken darüber auf Gesellschaften beschränken darf, in denen massive Arbeitslosigkeit eine relativ neue Erfahrung ist.

Lange richtete sich das Augenmerk ausschließlich auf die nichtselbständige Lohnarbeit. Die selbstständige, die häusliche, aber auch die Schwarzarbeit blieben unberücksichtigt – eine von steuerlichen und juristischen Gesichtspunkten geleitete, aber falsche Aufteilung. In die Analysen muß auch die seit alters her fortbestehende Vielfalt der mittelbar lohnabhängigen Arbeitsformen wieder Eingang finden. Die Trennung von Arbeit, Beschäftigung, Gehalt und Einkommen bleibt ein weltweit gültiges sozialgeschichtliches Gesetz.2 Tatsächlich ist die neue Beschäftigungsunsicherheit nicht etwa Ausdruck einer Art schleichender Auflösung der Produktivkräfte. Eher hängt sie zusammen mit einem unbelehrbaren Denken, das die Moderne allein mit der Ausbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse und der kontinuierlichen Zunahme lohnabhängiger Arbeit erklären wollte, die den rechtlich und politisch garantierten Schutz des Wohlfahrtsstaates genießt.

Diese Tendenz ist aber die Ausnahme geblieben in zwei Jahrhunderten kapitalistischer Weltwirtschaft. Deren Erfolg geht zweifellos auf die Rentabilität der Lohnarbeit zurück3 , aber auch auf die Tatsache, daß die Mobilisierung der Arbeiter von familiären, klientelistischen, paternalistischen, migratorischen und nicht zuletzt ideologischen und religiösen Faktoren bestimmt war. Wenn es um möglichst niedrige Löhne geht, ist der Rückgang der Lohn- und Gehaltsarbeit in den westeuropäischen Gesellschaften vermutlich die billigste Lösung für das Kapital.

Eine Gesellschaft von Lohn- und Gehaltsempfängern ist die Ausnahme: „Die aus einer Geschichte ohne Kapitalismus überkommenen Gesellschaftsstrukturen und kulturellen Vorstellungen sind mit ihr nicht notwendig unvereinbar.“4 So haben die Anforderungen der neuen Märkte – in Südostasien, dem pazifischen Raum, den ehemaligen sozialistischen Ländern – das Kapital denn auch veranlaßt, bei seinen Investitionen eine doppelte Strategie zu verfolgen: auf der einen Seite ungewöhnliche, bisweilen mafiose Methoden der Kapitalakkumulation, und auf der anderen die massive Mobilisierung von Arbeitern, die in Abhängigkeitsverhältnissen leben. Die internationalen Wirtschaftspraktiken beruhen nämlich immer noch auf der Ausbeutung von Kindern, Frauen und Wanderarbeitern. Die Erfolgsstory der neuen Industrieländer läßt sich ebenso wie die ungebrochene Spitzenposition der Vereinigten Staaten durch diese Diversifizierung der Ausbeutung von Arbeitskraft erklären.

Ob nun der „Harem“ der Billigfabriken an der mexikanischen Grenze oder die „Fabrikmädchen“ in Malaysia oder Taiwan: all diese Frauen unterwerfen sich freiwillig – aus Gründen der kulturellen Tradition – den Zwängen der Familie und der Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts. Die japanischen Firmen in Malaysia machen sich diese sozialen und ideologischen Verhältnisse erfolgreich zunutze, ohne sich umgekehrt zu bemühen, ihr eigenes effizientes Modell dorthin zu exportieren.5

Der Kontrast, aber auch die Komplementarität zwischen selbständiger Lohnarbeit und abhängiger Arbeit tritt vielleicht am stärksten in Indien zutage. In diesem „übervölkerten Universum“ wird die Szenerie nach Ansicht des Anthropologen Gérard Heuzé beherrscht von „Heimarbeit, der unsicheren Beschäftigungssituation von Scheinselbständigen wie auch dem gnadenlosen Arbeitseinsatz von Kindern und Migranten, denen das Wasser bis zum Halse steht“. Für Heuzé hat das nicht nur mit der Macht der Tradition zu tun, sondern mehr noch mit handfesten Interessen, aus denen die vielfältigen Formen der Arbeitsorganisation herrühren. „Arbeitskräfte ohne Festanstellung setzen in Hinterhöfen elektronische Bauteile zusammen. Man bedient sich dabei der Ideologie des seva oder der Restriktionen des pardah. In Großbetrieben gibt es weder seva noch pardah, doch beide werden hier mitunter als symbolische Bezugsgrößen angeführt und erleichtern die Umsetzung der jeweiligen Ziele.“6

Auch andernorts kennt man solche „paradoxen“ Systeme. In Brasilien, besonders im Amazonasbecken, liegt in den paternalistisch strukturierten Kleinbetrieben – einer von der kapitalistischen Ausbeutung abhängigen und zugleich von ihr verschiedenen Produktionsweise – möglicherweise die Erklärung für die kriminelle Gewalt und den rabiaten Paternalismus der dortigen kapitalistischen Entwicklung.7

Sei es nun in Brasilien, Indien, Schwarzafrika, Europa oder den Vereinigten Staaten – der Wanderarbeiter gehört zu den ältesten Erscheinungsformen, als Personifizierung der „Freiheit“, seine Arbeitskraft vermarkten zu dürfen. Die bretonischen Dienstmädchen in Frankreich, die polnischen Bergleute oder die mosambikanischen shangaan-Bergleute in Südafrika, die mexikanischen Landarbeiter in den Vereinigten Staaten und die brasilianischen peos sind nicht einfach nur Menschen, die, getrieben von Armut, Naturkatastrophen oder Bevölkerungsexplosion, ihre Heimat verlassen.

All diese Arbeiter und Arbeiterinnen erinnern daran, daß die regionalen Produktionsweisen längst zusammengebrochen sind; sie belegen aber auch eine rückläufige Dynamik der Arbeitsteilung. Die Migration zum Zweck der Arbeitssuche trägt nämlich dieselben Wesenszüge wie die heimischen Mechanismen der sozialen Mobilisierung und Reproduktion. Die durch lohnabhängige Arbeit bedingte Seßhaftigkeit schließlich ist nur eine von vielen Formen der Ausbeutung von Arbeitnehmern.

Daher der heftige gewerkschaftliche und politische Kampf zum Schutz dieser Seßhaftigkeit. Daher umgekehrt die verzweifelten Bestrebungen im ganz auf Migration abgestellten südafrikanischen Apartheidmodell nach einer völligen Trennung von Wirtschaft und Politik.

Der Wohlfahrtsstaat ist ein fast weltweit gültiges Modell, aber die Bedeutung des Sektors der festangestellten Lohnabhängigen in den meisten Gesellschaften ist so gering, daß er letztlich eine Fiktion bleibt, weil die Staaten zwar einen Teil ihres rechtsstaatlichen und bürokratischen Instrumentariums bereitstellen, jedoch nicht über die Mittel und noch weniger über den gesellschaftlichen Rückhalt verfügen, damit er tatsächlich funktioniert. Der Zerfall der staatlichen Strukturen der Sowjetunion etwa spricht Bände darüber, wie die Finanzierung der übertriebenen Absicherung der Arbeiter ihre maßlose Ausbeutung erforderlich machte. Indem der Wohlfahrtsstaat das Modell der Festanstellung ein für allemal von im weitesten Sinne freiberuflichen Einkommensformen abkoppelte, schwächte er paradoxerweise die Arbeiter, da sie sich nicht mehr gegen die Unfähigkeit oder Machtlosigkeit des Staates schützen können, indem sie auf anderweitige Einkommensquellen zurückgreifen. Beschäftigungsgarantien nichtstaatlicher und nichtkapitalistischer Art sind also eine historische und soziale Notwendigkeit, wenngleich sie oft gewalttätig, unmenschlich und mit furchtbarer Abhängigkeit verbunden sind.

Diese soziale Landschaft sollte man sich nochmals genauer ansehen, um die – bisweilen als kulturell bezeichneten – Widerstandsformen gegen diese Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen wahrzunehmen. Weil sie ohne politische Botschaften auskommen, sind derartige Erscheinungen lange unterschätzt oder abgewertet worden. Die bürgerliche Gesellschaft ist eben auch eine politisierte Gesellschaft. Die Gewerkschaftsbewegung der indischen Lastenträgerinnen, die brasilianische seringueiro-Bewegung im Bereich der Kautschukgewinnung, die von Chico Mendes angeführt wurde, die Anwendung „weiblicher“ Taktiken durch malaysische Arbeiterinnen, um die Produktion – und sei es auch nur symbolisch – zu stören oder zu verlangsamen, sind Beispiele für Entwicklungen an den Rändern des Lohn- und Gehaltsmodells der Arbeit. Diese vielfältigen, oft vereinzelten und unscheinbaren Formen des Arbeitskampfes bieten eine Möglichkeit, sich dem ungeheuer weiten Feld der Arbeit wieder als ganzem zuzuwenden. Man sollte sich hüten, sie aus einem vorgeblichen, vielleicht nur eingebildeten Klassenbewußtsein heraus abzutun.

Deshalb muß man sich noch lange nicht mit einer schlechten Realität abfinden. Es gilt vielmehr, die primitive Vorstellung zu bekämpfen, die Vertragsarbeit – und die politischen Garantien, die der Wohlfahrtsstaat für sie übernimmt – sei eine unumkehrbare Entwicklung und folglich ein Fortschritt. Vor dem Hintergrund der Arbeitslosigkeit scheint es, daß das Modell der arbeitsrechtlich gesicherten, vertraglich geregelten Arbeit weltweit nicht durchzusetzen ist. Die augenblickliche Situation macht deutlich, daß die sich durchsetzende Form der Arbeit im kapitalistischen Raum nicht in der Lohnarbeit besteht, selbst nicht in ihrer vertragslosen Variante. Fünfundzwanzig Jahre Internationalisierung und dann Globalisierung zeigen, daß die Metamorphose des Proletariers zum Lohnempfänger nur eine vorübergehende Erscheinung war.

dt. Sabine Scheidemann

* Professor für Soziologie und Anthropologie an der Jules-Verne- Universität der Picardie.

Fußnoten: 1 Vgl. Achille Weinberg, „L'avenir du travail: declin ou renouveau?“, Sciences humaines, Nr. 59, März 1996; die August/September- und die Dezemberausgabe 1995 der Zeitschrift Esprit; Dominique Méda, „Le travail, une valeur en voie de disparition“, Paris (Alto-Aubier) 1995; „La crise du travail“, Actuel Marx, Paris (Presses universitaires de France) 1995. 2 Vgl. Alain Dewerpe, „Le Monde du travail en France (1800-1950)“, Paris (Armand Colin, coll. „Cursus“) 1989, und Patrick Verley, „Entreprises et entrepreneurs du XVIIIe siècle au début du XXe siècle“, Paris (Hachette, coll. „Carré Histoire“) 1994. 3 Vgl. Jean-Pierre Durand (Hrsg.), „Vers un nouveau modèle productif?“, Paris (Syros-Alternatives économiques) 1993. 4 Jean-François Bayart, „La Réinvention du capitalisme“, Paris (Karthala) 1994, S. 33. 5 Vgl. dazu auch die zusammenfassende Studie von Aihwa Ong, „The gender and labor politics of postmodernity“, Annual Review of Anthropology, Palo Alto, Annual Reviews Inc., Band. 20, 1991, S. 279-309. 6 Gérard Heuzé (Hrsg.), „Travailler en Inde“, collection „Purusartha“ Nr. 14, Paris (Ecole des hautes études en sciences sociales) 1992, S. 25. Siehe auch vom selben Verfasser „Ouvriers d'un autre monde. L'exemple des travailleurs de la mine en Inde contemporaine“, Paris (Éditions de la Maison des sciences de l'homme) 1989. 7 Christian Geffray, „Chroniques de la servitude en Amazonie brésilienne. Essai sur l'exploitation paternaliste“, Paris (Karthala) 1995. 8 Vgl. Claude Meillassoux, „Femmes, greniers et capitaux“, Paris (François Maspero) 1975 (Neuauflage bei L'Harmattan, Paris 1992). 9 Robert Castel spricht in „Les Metamorphoses de la question sociale – Une chronique du salariat“, (Paris, Fayard 1995) von „Fixierung“ und dann von „Schwächung“. Aber auch hier bleibt der untersuchte Bereich leider ganz auf die westeuropäische Ausnahme beschränkt.

Le Monde diplomatique vom 17.01.1997, von JEAN COPANS