17.01.1997

Der Wohlfahrtskonzern

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Der Wohlfahrtskonzern

Von ROBERT CABANÉS *

IN Belo Horizonte gründete Fiat 1976 eine Niederlassung. In finanzieller, technologischer und sozialer Hinsicht bedurfte es einer mehrjährigen Anpassungsphase (der Bundesstaat Minas Gerais zog seine Beteiligung zurück; die aus Italien importierten gebrauchten Maschinen mußten nach und nach ausgewechselt werden; Unruhen und Streiks prägten das Ende der Militärdiktatur), bis das Unternehmen seit 1984 in Tritt kam. Zuvor waren im Zuge eines langanhaltenden Streiks 70 Prozent der Belegschaft entlassen und ersetzt worden. Seitdem wird scharf darauf geachtet, jedes Wiederaufleben gewerkschaftlicher Aktivitäten im Keim zu ersticken. Es herrscht Ruhe, und der Betrieb floriert: Im April 1996 brachte Fiat erstmals einen in Brasilien produzierten Wagen auf den Weltmarkt, den „Palio“.

Um so weit zu kommen, bedurfte es einer verblüffenden Mischung aus modernem innerbetrieblichem Führungsstil und einer geradezu archaischen Indoktrination der Arbeiter, um ihre ideologische Einbindung in das Unternehmen sicherzustellen. Man versuchte es mit dem alten Bild vom „treusorgenden“ Unternehmen und mit jener Ideologie, derzufolge die Schwachen tief in der Schuld der Starken stehen, von denen sie sich allenfalls durch unterwürfiges Wohlverhalten eine gewisse Erkenntlichkeit erhoffen dürfen.

Die Voraussetzungen für dieses Modell sind Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung. Mit örtlichen Besonderheiten: Fiat zahlt die höchsten Löhne in der Region und scheint vor allem – dank wachsender Marktanteile im Inland sowie beim Export – die größte Arbeitsplatzsicherheit zu gewährleisten.

Der Stand der technologischen Entwicklung liegt unter dem der Fabriken in Italien und auf gleichem oder leicht niedrigerem Niveau wie bei seinen brasilianischen Konkurrenten Ford, General Motors und Volkswagen. Dennoch kann Fiat mit der höchsten Produktivität und den niedrigsten Preisen aufwarten. Zwar sind die Löhne ein wenig niedriger als in der Region São Paulo; bekanntlich liegt aber der Anteil des Arbeitslohns an den Gesamtkosten eines Fahrzeugs bei lediglich rund 10 Prozent.

Die Methoden, die bei der Arbeitsorganisation und im Management angewendet werden, sind bei allen vier Unternehmen ähnlich; sie folgen den international üblichen Gepflogenheiten. Der Grund für die unterschiedliche Produktivität muß daher in deren konkreter Umsetzung gesucht werden. Der Integrationsgrad unter den Fiat-Beschäftigten – man könnte auch sagen, der ideologische Konsens – ist im Werk Belo Horizonte wesentlich stärker ausgeprägt als bei den Konkurrenzunternehmen in der Region São Paulo, die von einem kämpferischen Syndikalismus geprägt ist. Bei Fiat dagegen gab es seit 1984 weder einen Streik noch andere Auseinandersetzungen auf dem Arbeitssektor. Auch jüngste Umfragen unter der Belegschaft1 lassen keine grollenden Vorboten einer Revolte erkennen, sie erinnern vielmehr an das geschmeidige Schnurren eines gutgeölten Motors.

Soziologen sehen in dem integrativen System von Fiat-Brasilien ein Instrument für den Übergang zum Posttaylorismus.2 An die Stelle des „gesichtslosen“ Fließbandarbeiters, der sich gewerkschaftlich organisiert, tritt der „Mit-Arbeiter“ eines gesondert koordinierten Fertigungsbereichs, der seine Probleme dem zuständigen Personalvertreter unterbreiten und sie mit dessen Hilfe lösen kann. Die Verschiedenartigkeit der Aufgaben und der Abbau hierarchischer Strukturen fördern unter der Belegschaft das Gefühl der Zusammenarbeit, einer kooperativen statt nur ausführenden Tätigkeit. Die relative Sicherheit der Arbeitsplätze, die in dieser Region obendrein dünn gesät sind, verleiht der betrieblichen Situation einen privaten, familiären Charakter.

Und weil das Unternehmen in zunehmendem Maße staatliche Aufgaben ersetzt – in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Verkehrsmittel, Ernährung, Kreditvergabe und insbesondere in Kultur, Freizeitgestaltung und Sport –, hegen manche den Traum vom Industriebetrieb als Großfamilie und liebäugeln ein wenig mit den patriarchalischen Strukturen des Kapitalismus im Europa der letzten Jahrhundertwende. Diese ergaben sich allerdings aus der Notwendigkeit, für die Fabrikarbeit in massiver Form die in landwirtschaftliche Produktionsprozesse eingebundenen Arbeitskräfte zu rekrutieren, die sich eine gewisse Widerständigkeit hatten bewahren können. Heute sind es die Lohnempfänger selbst, die das Privileg fordern, ausgebeutet zu werden und durch die Aufnahme in die Unternehmensstruktur zu Bürgern erster Ordnung zu werden.3

Da in vielen Ländern des Südens diese Konzerne die einzigen Organisationen sind, die normal funktionieren, entwickeln die Betriebsangehörigen ihnen gegenüber einen gewissen „Patriotismus“: „Wer hier streikt und seine Entlassung riskiert, der muß verrückt sein.“4 Noch größer ist dieser Patriotismus bei denjenigen, die nach ihrer Entlassung wieder eingestellt wurden. Und er wird noch weiter angefacht, indem den Arbeitern der Eindruck vermittelt wird, sie würden sich gegenseitig einstellen: Die am längsten dabei sind, dürfen der Direktion eigene Bewerber schriftlich vorschlagen. Die beruflich-soziale Identität, die die Arbeiter auf Ansteckern an der Brust tragen („Totale Qualität“, „Perfekte Prävention durch Instandhaltung“, „Seit über zehn Jahren im Betrieb“ usw.), dehnt sich mittlerweile auf das gesamte gesellschaftliche Leben aus: Der eine möchte, daß sein Haushalt nach dem Prinzip der „Totalen Qualität“ funktioniert, für einen anderen soll sich der Staat daran ein Beispiel nehmen.

Diese beiden Tendenzen – der Staat, der sich anschickt, seine Funktionen an die Unternehmen zu verlieren, und die Beschäftigten, die die Ideologie der Unternehmen verinnerlichen – mögen im Westen für unwahrscheinlich gehalten werden. Noch gibt es in den entwickelten Ländern einen Wohlfahrtsstaat, der für Entlassung und Arbeitslosigkeit, für Weiterbildung, Umschulung und Einstellungsprämien aufkommen muß. Dennoch ist es genau das, wovon einige Experten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) träumen5 : Der Schwächere soll untergehen, der Stärkere obsiegen! Wenn diese Dynamik erst einmal akzeptiert ist, werden die Beschäftigten erkennen, daß es keinen anderen Ausweg gibt, werden sie aus der Not eine Tugend machen und jenen ein Loblied singen, die sie ausbeuten.

Liegt in Belo Horizonte, Brasilien, die Zukunft unserer Gesellschaften? Unwahrscheinlich ist das nicht. Die multinationalen Konzerne werden zu einem Segen der Menschheit, die Abhängigkeit entwickelt sich zu einer Gnade, und die vernachlässigten Regionen im Norden wie im Süden brauchen nur ihre Ergebenheit zu verdoppeln, um sich ihre neuen Herren geneigt zu machen. Die Demokratie mag ruhig das Gesellschaftsspiel der politischen Repräsentation fortsetzen, überläßt sie doch den Unternehmen immer mehr Souveränität: An die Stelle des Wohlfahrtsstaates tritt der Wohlfahrtskonzern.

Die Infragestellung der Nationalstaatsidee, vor allem aber der Siegeszug der Rentabilität scheinen in diese Richtung zu weisen. Es sei denn, das Belo Horizonte von 1996 erinnert sich wieder an das Contagem von 19686. Oder mit der Zeit wird erkannt, welche allgemeinere Bedeutung dem Streik in Frankreich vom Dezember 1995 zukommt: Er war ein Versuch, den Globalisierungsprozeß auf dem Gebiet der Arbeit aufzuhalten.

dt. Christian Hansen

* Soziologe am Institut français de recherche scientifique pour le développement en coopération (Orstom).

Fußnoten: 1 Solange Maria Pimenta, „Le Tournant de la Fiat Mineira, travail, imaginaire et citoyenneté dans l'expérience des travailleurs“, Dissertation, Paris-I, Institut d'études du développement économique et sociale, 1996. 2 Michel le Ven, „Trabalho e democratia: a experiencia dos metalurgicos mineiros 1978-1984“, Dissertation, Universität von São Paulo, 1987. 3 Vgl. Robert Cabanes, Jean Copans, Monique Selim, „Salariés et entreprises dans les pays du Sud, contribution à une anthropologie politique“, Paris (Karthala) 1995; und Robert Cabanes, Bruno Lautier, „Profiles d'entreprises au Sud, les politiques de gestion face aux cultures et aux status“, Paris (Karthala) 1996. 4 Solange Maria Pimenta, a.a.O. 5 Contagem in den Außenbezirken von Belo Horizonte war – wie Osasca in der Region von São Paulo – Schauplatz der ersten Revolte von Arbeitern in ihrer Fabrik und auch Schauplatz des ersten gewaltsamen Einschreitens des Militärregims, vier Jahre nach dessen Machtergreifung im Jahre 1964.

Le Monde diplomatique vom 17.01.1997, von ROBERT CABANÉS