Verminte Erinnerung in Mahabad
WIE einst für den Schah ist sie auch für die iranischen Islamisten eine verfluchte Stadt – weil Mahabad sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zur autonomen kurdischen Republik erklärt hatte, steht der Marktflecken noch immer unter strenger militärischer Überwachung. Das Symbol des kurdischen Unabhängigkeitswillens ist heute der Verwaltung der Provinz Kurdistan entzogen, aus dem wirtschaftlichen und kulturellen Leben ausgegrenzt und seiner Identität und Geschichte beraubt – ein weiteres trauriges Beispiel für die alltägliche Unterdrückung, der die Kurden im Iran und andernorts ausgesetzt sind.
Von unserem Korrespondenten JAN PIRUZ
Knapp hundert Kilometer östlich der Grenze zwischen Iran und Irak liegt Mahabad, das Herz jener kurdischen Republik, die am 22. Januar 1946 ausgerufen und im Dezember desselben Jahres von den Truppen des Schahs Mohamad Reza wieder aufgelöst wurde. Was ist nun, ein halbes Jahrhundert danach, von der Stadt geblieben, die ein so wichtiges Symbol für die Kurden darstellt?
Mahabad ist heute eine Ansiedlung von 60000 Einwohnern – 16000 waren es 1946. Die umliegenden Dörfer eingeschlossen, leben etwa 100000 Menschen im sharestan (Bezirk) Mahabad. Gemessen an der Geburtenrate des Iran, die 1993 3,5 Prozent betrug, ist das Bevölkerungswachstum in der Region also eher bescheiden. Kurdistan leidet noch immer unter den Brandmalen der Vergangenheit.
Merkwürdig erscheint bereits, daß die einstige kurdische Hauptstadt nicht zum ostan (Provinz) Kurdistan gehört, sondern der iranischen Provinz West-Aserbaidschan zugeschlagen wurde. Zum Verwaltungszentrum des iranischen Kurdistan1 hat man die Stadt Sanandaj (das frühere Sinneh) erklärt, die 280 Kilometer südlich von Mahabad liegt. Vor Ort gab es zwar zaghafte Versuche, die Wiedereingliederung des Bezirks in die Provinz Kurdistan, wie sie in den dreißiger Jahren bestand, zu fordern oder statt dessen eine Neubestimmung der Provinz mit Mahabad als Mittelpunkt zu erreichen – doch vergebens. Weder unter den Schahs noch unter den Mullahs war die Zentralmacht gewillt, Kurdistan als eine Verwaltungseinheit zuzulassen, die dem Siedlungsgebiet der kurdischsprachigen Bevölkerung entsprechen würde.
Die Stadt liegt auf einer Hochebene, die von den Ausläufern der Zagros-Bergkette begrenzt wird, deren höchste Gipfel mehr als 2000 Meter erreichen. Vor allem in den harten Wintern sind sie von der Außenwelt abgeschnitten. So sind die Bewohner dieser Region durch ihre Abgeschiedenheit geprägt. Auch aus der Ferne ist zu erkennen, daß auf der Gipfelkette eine große Anzahl militärischer Vorposten liegt, von denen aus die Stadt permanent überwacht wird. Es herrscht ein Klima des Mißtrauens, und schlimmer noch: Das Gelände um diese Militäreinrichtungen ist vermint; fast täglich kommt es zu Zwischenfällen, die Opfer unter der ohnehin eingeschüchterten Zivilbevölkerung fordern.
Um sich davon zu überzeugen, muß man nur das Krankenhaus von Mahabad aufsuchen, das der letzte Schah erbauen ließ und das nach der islamischen Revolution in Ajatollah-Chomeini-Krankenhaus umbenannt wurde. Dort liegen die Opfer der Minen – Schäfer, Spaziergänger, Kinder – in drangvoller Enge, ohne angemessene Versorgung. Das weckt die Erinnerung an ein anderes Ereignis, das hier niemand vergessen kann: Während des iranisch-irakischen Krieges wurde Mahabad von der iranischen Luftwaffe mehr als zwanzig Tage lang bombardiert. Der Grund dafür war die Vermutung, daß die Stadt den Kämpfern der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und den Mudschaheddin des Kurdenführers Masud Radschawi, die zum Teil dem Irak verbunden waren, Schutz bot. Wer nicht vor dieser Strafaktion fliehen konnte, mußte Zuflucht in Kellern suchen. Und wer sich aus diesen Schutzräumen hervorwagte, riskierte sein Leben. Bei dieser militärischen Operation, die schon einem Bürgerkrieg ähnelte, kamen vermutlich knapp 1500 Menschen um, überwiegend aus der Zivilbevölkerung. Die offizielle Begründung für dieses Vorgehen der iranischen Führung hat traurige Berühmtheit erlangt: „In Mahabad sitzt der Kopf der kurdischen Schlange – man muß sie zertreten.“ Soviel Fanatismus hinterläßt seine Spuren.
Trotz seiner 60000 Einwohner wirkt Mahabad nicht wie eine richtige Stadt, sondern eher wie ein gewöhnlicher kleiner Marktflecken, in dem alles auf die ländliche Umgegend ausgerichtet ist. Weder die Pahlevi-Dynastie noch die Islamische Republik haben etwas dafür getan, industrielle Strukturen in der Stadt zu fördern, so als sollte sie zum langsamen Absterben verurteilt werden. Auch das Versprechen von Präsident Ali Akbar Rafsandschani bei einem Besuch in Mahabad 1995, man werde die industrielle Entwicklung unterstützen, blieb ohne Folgen.
Auch in der Landwirtschaft nehmen die Probleme zu, weil es an Perspektiven fehlt. Zwar können durch den Staudamm, der in den sechziger Jahren von Jugoslawen gebaut wurde, die Zuckerrüben-, Tomaten- und Tabakfelder bewässert werden, aber vor Ort hat das kaum Auswirkungen, weil diese Produkte andernorts veredelt und weiterverarbeitet werden. Bei den Einwohnern macht sich ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit breit. Wie ein Wahrzeichen ihrer Misere überragt ein zerfallenes Getreidesilo die Stadt, eine Erbschaft aus den Zeiten der Sowjetunion. Der wirtschaftliche Niedergang zwingt die jungen Kurden, die Region zu verlassen, um Arbeit zu suchen, und damit ist auch eine Anpassung an die herrschende persische Kultur verbunden. Die universitäre Ausbildung in Mahabad hat vor kurzem eine „Freie Islamische Universität“ übernommen, die auch von Studenten aus den umliegenden Städten, vor allem aus Orumiyeh, der Hauptstadt des iranischen West-Aserbaidschan, besucht wird. Es handelt sich um eine private Einrichtung, die recht hohe Studiengebühren verlangt und ihr Lehrangebot vollständig am schiitischen Islam ausrichtet, der im Iran vorherrschenden Glaubensrichtung. In Kurdistan leben jedoch überwiegend Sunniten2 , und folglich ist es bereits zu zahlreichen Provokationen und Streitigkeiten gekommen.
Unnötig, anzumerken, daß keine öffentlichen Kundgebungen oder offiziellen Akte zum Gedenken an die Gründung der kurdischen Republik Mahabad vor fünfzig Jahren stattfanden. Es ist verboten, sich öffentlich daran zu erinnern; auch historische Forschung zu diesem Thema ist undenkbar. Ein örtlicher Historiker hat zwar das Standardwerk von William Eagleton3 ins Persische und ins Kurmandschi- Kurdische übertragen, aber seit Ende 1982 ist die Verbreitung dieser Arbeit verboten. Zeitzeugen, die aus eigenem Erleben von der Republik berichten könnten, gibt es allmählich immer weniger – manche werden auch umgebracht. Dennoch wird im Verborgenen still und geduldig an der Rettung und Bewahrung dieser geraubten Erinnerung gearbeitet. Auf dem alten Friedhof stehen noch immer die Gräber der drei führenden Persönlichkeiten der kurdischen Republik – selbst das Grab des „Präsidenten“ Mohamad Quazi –, die gehängt worden waren, nachdem iranische Truppen Mahabad erobert hatten. Man findet nicht leicht dorthin, hohe Mauern, Absperrungen und Stacheldraht verwehren den Zugang – aber irgendwer sorgt dafür, daß die Gräber gepflegt werden.
Der sogenannte „Platz der vier Lampen“ ist ein Ort von doppelter Bedeutung: Hier rief Mohamad Quazi am 22. Januar 1946 die Republik aus, und hier wurde er, zusammen mit den beiden anderen Führern, am 31. März 1946 gehängt. Keines der offiziellen Gebäude aus jener Zeit steht noch. Immerhin hat das neue Stadtoberhaupt mit Bedacht vier Straßenlaternen installieren lassen, die an die Ereignisse erinnern sollen, die auf diesem kreisrunden Platz stattgefunden haben.
Ein weiterer Ort des Gedenkens ist der neue Friedhof; dort gibt es einen Bereich, in dem – ohne offizielle Genehmigung – die Grabmale berühmter patriotischer Dichter aus Mahabad stehen. Diese Gräber tragen Verse, die das kurdische Volk zum Aufstand aufrufen – und an vielen finden sich Spuren von Schüssen. Auf einem der Grabsteine ist vor allem ein Wort gezielt beschädigt worden: „Freiheit“.
Was heißt es also, ein Kurde in Mahabad zu sein? Die kurdische Identität offen zu vertreten ist gefährlich. Unter der Willkürherrschaft muß man andere, verdeckte Formen finden, sich tarnen und ein doppeltes Spiel treiben, obwohl die Unterdrückung durch Polizei und Militär die Angst schürt. Der Gebrauch der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit wird im Iran grundsätzlich toleriert, Ausdrucksformen kurdischer Kultur, vor allem in den Medien und im Publikationsbereich, sind dagegen, vorsichtig formuliert, nicht gern gesehen. Wer es wagt, Arbeiten in kurdischer Sprache herauszubringen, wird sehr schnell ins Exil getrieben.
In den ersten beiden Jahren nach der islamischen Revolution erlebten die kurdischen Parteien und Organisationen und die kurdischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften einen kurzen Aufschwung. Doch diese goldenen Zeiten sind längst vorbei. Heute gibt es nur noch zwei kurdische Organe, beide mit rein literarischer Ausrichtung: In Orumiyeh erscheint Serva, in Teheran Alvena. In Mahabad gibt es so etwas nicht. Die Radio- und Fernsehprogramme in kurdischer Sprache bestehen nur aus weitschweifigen Übersetzungen offizieller Verlautbarungen und stoßen kaum auf Interesse. Um den Mangel an Privatsendern auszugleichen, beschafft sich jeder, der es sich leisten kann, eine Parabolantenne. Weil das Regime die Satellitenschüsseln verdammt und sie durch die Pasdaran (Revolutionswächter) beschlagnahmen oder zerstören läßt, sind die Einwohner, die auf unabhängige Information und Bilder aus aller Welt nicht verzichten wollen, inzwischen vorsichtig geworden: Sie stellen die Antennen nur noch bei Nacht auf.
Rund fünfzig Familien in Mahabad verfolgen regelmäßig die Sendungen von MED-TV, einem kurdischen Programm, das in London zusammengestellt wird. So könnte auch aus den Ruinen der Republik Mahabad wieder das Bewußtsein der Gemeinsamkeit aller Kurden geweckt werden. Jeder Ansatz politischer Erneuerung wird jedoch mit aller Gewalt unterdrückt. Die in Mahabad gegründete iranische PDK gilt den Machthabern als eine Bande konterrevolutionärer Terroristen und wird entsprechend behandelt. Willkürliche Verhaftungen, Folter und standrechtliche Hinrichtungen sind an der Tagesordnung. Aber auch vorsichtige Initiativen in der Bevölkerung, die sich im Rahmen der islamischen Gesetze bewegen, werden von Teheran systematisch bekämpft. Offenbar müssen die Kurden von Mahabad auch nach fünfzig Jahren noch für ihre einstige Kühnheit büßen.
dt. Edgar Peinelt