17.01.1997

Wenn Arbeitgebern Zweifel kommen

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Wenn Arbeitgebern Zweifel kommen

Von SERGE HALIMI

SIND „Standesdenken“ und „Konservatismus“ (der Lohn- und Gehaltsempfänger, versteht sich) erst einmal gebrochen, sind Hunderttausende (nutzloser) Arbeitsplätze erst abgebaut, dann müßten aus den Umstrukturierungen Marke USA „stromlinienförmig robuste“ (lean and mean) Betriebe hervorgehen, die dem Wettbewerb gewachsen sind. Die Rechnung war kinderleicht: Weniger Beschäftigte, das heißt mehr Produktivität pro verbliebenem Beschäftigten. Und Wall Street jubelte über jede Kündigungsabsicht.

Doch nun kommen Wall Street Zweifel. Was wäre, wenn die Medizin genauso wirkte wie die Klistiere, die die Ärzte bei Molière verordnen? Entmutigung, Antriebslosigkeit, Überarbeitung, die Angst, daß jede technische Neuerung sogleich weitere Entlassungen zur Folge haben wird – steht da nicht zu befürchten, daß mancher Patient bald kränker sein wird als zuvor und schließlich das Zeitliche segnet?

Bei Kodak wurde „umstrukturiert“, und die Stadt Rochester, wo die Firma ihren Sitz hatte, siechte dahin. Der Konkurrenz des Fotoriesen kamen diese Entlassungen sehr zupaß, da sie sich nun aus dem Heer der „Abgebauten“ so manchen innovativen klugen Kopf herausfischen konnte. Das Journal der amerikanischen Geschäftswelt zieht daraus eine Lehre: „Die Kostensenkung ist zur Gralssuche der Arbeitgeber geworden. Doch was die Bilanz rasch verbessert, erweist sich mittelfristig als schädlich.“1

Denn nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit fragen sich die US-amerikanischen Unternehmer nun nach dem Nutzen des downsizing: „Mercer Management Consulting Inc. untersuchte 131 Firmen, die ihre Kosten zwischen 1985 und 1990 drastisch gesenkt hatten, und kam zu dem Schluß, daß 1995 37 Prozent von ihnen zu einer Miniaturausgabe der früheren Firma geworden waren, 26 Prozent ihren Umsatz gesteigert, jedoch Verluste gemacht hatten, 10 Prozent weiterhin Kosten senkten und nur 27 Prozent ihre Aktivitäten ausgebaut hatten und Gewinne einfuhren.“2

Diese Gesetzmäßigkeit bestätigt sich auch anderswo. Bull „macht dasselbe wie vorher, nur in kleinerem Maßstab“. British Gas, wo im Zuge der Privatisierung 25000 Beschäftigte entlassen wurden, „hat nicht mehr das nötige Personal, um eine langfristige Strategie auszuarbeiten. Digital hat seine besten Händler verloren und muß sich von den Kunden die mittelmäßige Qualität seiner Dienstleistungen vorwerfen lassen. Manche Unternehmen sind sogar gezwungen, die Beschäftigten, die sie entlassen haben, als freie Mitarbeiter beziehungsweise Subunternehmer teurer zu bezahlen: 17 Prozent der „umstrukturierten“ Arbeitnehmer arbeiten angeblich auf diese Weise – hochgeschätzt von ihren früheren Firmen. Da sie allerdings bei ihren ehemaligen Kollegen häufig nicht gern gesehen sind, ist ihre Motivation eher mittelmäßig.3

Während downsizing für die US-amerikanischen Arbeitgeber nicht mehr das ist, was es einmal war, betrachten sie inzwischen den Mindestlohn mit etwas freundlicheren Augen. Denn im Oktober 1996 stiegen die Beschäftigtenzahlen in Großhandel und Gastronomie. Was haben diese beiden Dinge miteinander zu tun? Die Inhaber solcher Arbeitsplätze verdienen oft den Mindeststundenlohn. In jenem Monat nun wurde dieser endlich angehoben – von 4,25 auf 4,75 Dollar pro Stunde – die erste Anhebung seit 1991. Die Arbeitgeber hatten Konkurs und Entlassungen an die Wand gemalt. Doch als Edward Tinsley, der Inhaber einer Steakhauskette im mittleren Preissegment, sich gezwungen sah, seine Preise um etwa 5 Prozent zu erhöhen, und dabei das Schlimmste befürchtete, erlebte er eine große Überraschung. Für die meisten seiner Stammkunden änderte die Preiserhöhung gar nichts. Was aber seine finanzschwächsten Kunden betraf, die das Standardessen zum Festpreis von 7,75 Dollar bestellen, so war die Preiserhöhung durch die Anhebung des Mindestlohns mehr als aufgefangen worden. Angesichts seiner plötzlich volleren Restaurants mußte Tinsley einsehen: „Unsere Angestellten sind unsere Abnehmer. Und wenn unsere Angestellten über mehr Kaufkraft verfügen, können sie auch mehr ausgeben.“4

Während Tinsley auf diese Weise Keynes wiederentdeckte, veröffentlichte die OECD ihren Bericht über die Vereinigten Staaten. Darin hieß es: „[Die OECD] ist mit der soeben beschlossenen Erhöhung des Mindestlohns grundsätzlich nicht einverstanden. Obwohl dieser gemessen an den Durchschnittsgehältern immer noch recht niedrig ist und diese Erhöhung gewisse Einkommensunterschiede mildern mag, ist sie ein wenig geeignetes Instrument und droht, die Unqualifiziertesten zu gefährden, weil ihre Beschäftigungsmöglichkeiten dadurch abnehmen.“5 Wie es scheint, ist die OECD recht „konservativ“.

dt. Sabine Scheidemann

Fußnoten: 1„Call it Dumbsizing: Why Some Companies Regret Cost-Cutting“, The Wall Street Journal Europe, Brüssel, 15. Mai 1996. Siehe auch „Loser Layoffs“, US News and World Report, 25. November 1996. 2 „New Buzzword Sweeps US Companies: Growth“, The Wall Street Journal Europe, Brüssel, 9. Dezember 1996. 3 „More Downsized Workers are Returning as Rentals“, The New York Times, 8. Dezember 1996. 4 „US Takes Rise in Minimum Wage in Stride“, The Wall Street Journal Europe, Brüssel, 21. November 1996. 5 „Wirtschaftsstudien der OECD, Vereinigte Staaten, 1996“, OECD, Paris, S. 12.

Le Monde diplomatique vom 17.01.1997, von SERGE HALIMI