Neue Frauen in einer alten Ordnung
IM Mai 1991 nahm die Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) Asmara ein und beendete damit einen dreißigjährigen Krieg. Zwei Jahre später, am 25. April 1993, besiegelte das Land in einem Referendum seine mit Waffengewalt eroberte Unabhängigkeit. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Eritrea 95000 Kämpfer, davon ein Drittel Frauen. Durch ihre Rolle im nationalen Befreiungskampf und nun auch durch ihre Wiedereingliederung ins Zivilleben bringen sie die traditionelle Ordnung ins Wanken.
Von SILVIA PEREZ-VITORIA *
Schon im September 1991, vier Monate nach der Einnahme Asmaras, verkündete der eritreische Präsident Issayas Afeworki die Demobilisierung von 60 Prozent der Armee.1 Diese Operation verlief in zwei Phasen. Zuerst wurden 26000 Kämpfer demobilisiert, 4500 davon Frauen, die nach 1990 zur EPLF gestoßen waren. Sie bekamen sechs Monate lang Nahrungsmittelhilfe und 1000 bis 5000 Birr.2 Im Februar 1994 verließ eine zweite Gruppe von 22000 Kämpfern, 8000 davon Frauen, die Armee und wurde mit je 10000 Birr entschädigt. Um die Wiedereingliederung zu erleichtern, wurde die Organisation „Mitias“ gegründet (was in tigrinja soviel wie „gegenseitige Hilfe“ bedeutet). Der ersten Gruppe aus Demobilisierten, die nur kurze Zeit aus dem Zivilleben gerissen worden waren, bereitete die Rückkehr keine besonderen Probleme. Für die anderen jedoch ergaben sich große Schwierigkeiten. Einige hatten zwanzig oder dreißig Jahre lang im bewaffneten Untergrund gelebt und jeden Kontakt zum „normalen“ Leben verloren. Der Krieg hatte zudem ihre Familien dezimiert und in Armut gestürzt. Am schwersten haben es die Frauen. Askalu Menkarius, die Vorsitzende der Frauenvereinigung, sagt es deutlich: „Wir verschwendeten keine Gedanken an unsere persönliche Zukunft, wir konnten von einem Tag zum anderen sterben, um so mehr als die EPLF sich um alles kümmerte, auch um unsere Kinder.“
Die Rückkehr zum Frieden bedeutete oft auch die Rückkehr zu alten Gewohnheiten. Das erste Problem der Frauen war ihre familiäre Situation. Fatma hatte sich 1977, mit dreizehn Jahren, der EPLF angeschlossen, nachdem die Äthiopier ihr Dorf niedergebrannt hatten. „Ich mußte behaupten, ich sei sechzehn, damit sie mich nahmen.“ Sie arbeitete in der öffentlichen Verwaltung der EPLF und heiratete zweimal. Ihr erster Mann, von dem sie ein Kind hat, fiel im Kampf. Ihr zweiter Mann, von dem sie ebenfalls ein Kind hat, reichte nach der Befreiung die Scheidung ein. So etwas geschieht sehr häufig. Viele während des Bürgerkriegs eingegangene Ehen scheitern, und die Frauen stehen mit ihren Kindern alleine da.
Fast 80 Prozent der Kämpfer stammen vom Land, und die Rückkehr ins Dorf ist manchmal eine schmerzliche Erfahrung. Viele traditionsverhaftete Familien haben den unerlaubten Weggang ihrer Töchter bis heute nicht vergeben. Mischehen zwischen Muslimen und Christen werden häufig abgelehnt, und der Wunsch nach einem unabhängigen Leben stößt auf Unverständnis. Schlimmer noch ist, daß immer mehr Kämpfer ihre im Untergrund geheirateten Frauen verlassen, um von den Familien nach hergebrachter Tradition arrangierte Ehen eingehen zu können. Ein eritreischer Journalist schreibt dazu: „Es ist einfacher, eine Frau in der Tradition einzusperren als in einem Haus.“3
Schwierig ist für die Frauen auch der Erwerb von Land und der Zugang zur Arbeit. 1994 verabschiedete die eritreische Regierung ein neues Gesetz, wonach jedem Bürger über achtzehn Jahren Land zum Wohnen oder Arbeiten zugeteilt werden sollte. In Wirklichkeit gestehen die mit der Aufteilung des Bodens beauftragten Dorfräte den Frauen dieses Recht nur sehr widerwillig zu. Meistens muß die Zentralverwaltung direkt bei den baito (Dorfversammlungen) einschreiten, um dem Gesetz Respekt zu verschaffen.
Im Verlauf der dreißig Kriegsjahre haben sich Tausende Eritreer jeden Alters, aller Religionen und sozialen Schichten der EPLF angeschlossen. Für manche war die Unterdrückung durch die Äthiopier das Motiv, andere zogen wegen ihrer Armut in den Krieg; alle einte die Überzeugung, dieser Befreiungskampf sei auch ihr eigener Kampf. Es gehörte zur Politik der EPLF, sich in den befreiten Gebieten auf die breite Beteiligung aller Bewohner zu stützen. Dadurch wurden die Schranken zwischen den Geschlechtern, den Religionen, den Nationalitäten durchbrochen, und es kam zu einer wirklichen sozialen Umwälzung, die in erster Linie von den Frauen getragen wurde.
In der traditionellen eritreischen Gesellschaft unterscheidet sich die Stellung der Frau nach Religion (Christentum und Islam) und Nationalität (die Kunama haben eine matriarchalische Struktur). Fast überall jedoch wurden die Frauen diskriminiert: Sie wurden sehr jung mit einem von der Familie bestimmten Ehemann verheiratet und hatten bei Entscheidungen keinerlei Mitspracherecht. In den Städten verdienten die Arbeiterinnen um die Hälfte weniger als ihre männlichen Kollegen, und viele Frauen waren gezwungen, als Hausangestellte, unter sklavenähnlichen Verhältnissen, oder sogar als Prostituierte zu arbeiten. Noch in den siebziger Jahren waren fast 95 Prozent der eritreischen Frauen Analphabetinnen. Viele erlebten den Beitritt zur EPLF als Möglichkeit zur Befreiung aus ihrer Lage. Manche liefen als Dreizehn- oder Vierzehnjährige von zu Hause weg, andere gingen mit ihren Kindern in den Untergrund.
Bei der EPLF war man etwas ratlos über diese neuen Rekruten. Doch schon bald wurde ein breites Erziehungs- und Ausbildungsprogramm eingerichtet, dessen Nutznießer vor allem Frauen und Mädchen waren. Ab 1977 wurden die Rechte der Frauen zum integralen Bestandteil des neuen Programms der EPLF. 1978 verbot eine Gesetzesreform arrangierte Ehen – erst recht, wenn es sich bei den Verlobten um Kinder handelte – und führte die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei Scheidung, Erbschaft und Erziehung ein. Beschneidung und Infibulation wurden verboten. 1979 wurde der nationale Verband der eritreischen Frauen (NUEW) gegründet, der ihre Lage verbessern will.
Im Lauf der Jahre hat die EPLF in ihren Stützpunkten in der Sahelregion, im Norden des Landes, richtige Gemeinwesen mit Schulen, Krankenhäusern, Werkstätten, Medien, Kinderkrippen und Verwaltungen geschaffen. Die Frauen waren an allen Aktivitäten beteiligt und wurden Kämpferinnen, Lehrerinnen, Mechanikerinnen, Barfußärztinnen, Verwaltungsbeamtinnen – eine Revolution, denn bis dahin waren sie einer strengen Arbeitsteilung unterworfen gewesen. 1989 waren Frauen laut einer Untersuchung der NUEW4 bereits in allen Sektoren und auf allen hierarchischen Ebenen vertreten: Sie stellten 23 Prozent der Streitkräfte, 35 Prozent der Verwaltungsangestellten, 30 Prozent der Industriebeschäftigten, 20 Prozent im Bauwesen, 55 Prozent im Gesundheitswesen, aber nur 2 Prozent der Führungskräfte.
Gemeinsam mit den Kleinbauern bildeten die Frauen auch die Speerspitze der von der EPLF in den befreiten ländlichen Gebieten durchgeführten sozialen Umwälzung. Eritrea besteht zu 80 Prozent aus Agrarland. Die ausschließlich aus Männern bestehenden baito haben ausgedehnte Befugnisse im Bereich der lokalen Rechtsprechung und der Landaufteilung. Im allgemeinen begünstigen sie die verheirateten Männer. Die baito wurden zumeist von den reichen Bauern beherrscht, deren halbfeudalistische Praktiken Ausbeutung und Ungleichheit weiterhin verankerten. In langwieriger politischer Arbeit ist es der EPLF gelungen, die Kräfteverhältnisse zugunsten der Kleinbauern und Landlosen, einschließlich der Frauen, zu verändern. Das aktive und passive Wahlrecht für Frauen hat zum ersten Mal 15 bis 30 Prozent von ihnen in diese Versammlungen einziehen lassen. Mit der neuen Gesetzgebung haben sie nunmehr dasselbe Recht auf Grundbesitz wie die Männer.
Die Frauen haben auch in den Volksmilizen, die über die Dörfer wachen und sich an den örtlichen Tätigkeiten beteiligen, eine aktive Rolle gespielt. Das blieb nicht ohne Reaktionen, vor allem bei der muslimischen Bevölkerung, die es als Skandal empfand, daß Frauen aus dem Haus gingen und Waffen trugen.5 Auf weniger sichtbare Weise halfen Tausende anderer Frauen der EPLF in der Nachrichtenübermittlung, bei verschiedenen Arbeitseinsätzen und durch materielle und finanzielle Unterstützung, auch die im Exil lebenden Frauen.6
Nach der Unabhängigkeit trat das Ausmaß der Kriegsschäden zutage: 150000 Menschen waren umgekommen, bei einer Gesamtbevölkerung von 3 Millionen, 65000 davon waren im Kampf gefallen, und fast 1 Million Eritreer lebten im Exil, die Hälfte davon in Sudan. Infrastruktur und Produktionsmittel waren zerstört und die Umwelt dieses ohnehin nicht von der Natur verwöhnten Landes, dessen Landwirtschaft fast ausschließlich von den klimatischen Bedingungen abhängt, verwüstet worden. Mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Jahreseinkommen von unter 250 Mark und einer Lebenserwartung von siebenundvierzig Jahren ist Eritrea eines der ärmsten Länder der Welt.
Die Regierung muß sowohl eine politische Struktur aufbauen – eine Verfassung wird gerade erarbeitet –, als auch das wirtschaftliche, juristische und soziale Leben neu organisieren. Zudem müssen die ehemaligen Kämpfer und Tausende aus Sudan zurückströmende Flüchtlinge wiedereingegliedert werden.
Tschaitu ist mit zwei ihrer Schwestern nach Adi Nefas, in der Nähe der Hauptstadt Asmara, zurückgekehrt. Zwei andere Schwestern sind im Krieg gefallen. Angesichts der Spannungen, die ihre Forderungen hervorrufen, hat sie vorerst auf ihr Grundbesitzrecht verzichtet. Wie viele andere Kämpferinnen hat sie ihrer Familie geholfen, das gemeinsame Haus wieder aufzubauen. Um sich besser zu integrieren, hat sie für die Wahl zum Dorfrat kandidiert und wurde gewählt. Die Arbeit sei schwierig, sagt sie, aber sie habe im Untergrund Erfahrungen in der Verwaltungsarbeit gesammelt und wolle sie nun für ihr Dorf einsetzen, in der Hoffnung, daß ihre Rechte eines Tages anerkannt werden.
Der Boden, der traditionell den sozialen Status begründet, hat durch die Wirtschaftspolitik der Regierung neuen Wert gewonnen. Heute hängt Eritreas Ernährung noch zu 40 Prozent von ausländischer Hilfe ab. Erklärtes Ziel ist es, in den nächsten fünf Jahren in der Lebensmittelversorgung autark zu werden. Parallel dazu will das Land vermehrt exportieren, hauptsächlich Fisch, aber auch landwirtschaftliche Produkte. Auf Anraten des Landwirtschaftsministeriums hat Adi Nefas beschlossen, die besten Böden für den Anbau zum Export bestimmter Blumen und Früchte zu nutzen. Man hofft, daraus in Zukunft Gewinne zu erwirtschaften. Tschaitu unterstützt diese Entscheidung im Namen der „Modernisierung“. Doch hätten die dafür investierten Mittel nicht besser den kleinen lokalen Gemüse- und Obstproduzenten helfen können? Angesichts der Enge des Binnenmarkts ist die Versuchung groß, sich auf Exportkulturen zu konzentrieren. Welch katastrophale Folgen ein solches Vorgehen mit sich bringt, haben fünfzig Jahre Entwicklungspolitik in aller Welt hinlänglich gezeigt.
Die eritreische Regierung tut allerdings ihr möglichstes, das bei jeder „Modernisierung“ drohende Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land zu vermeiden. Die für die 500000 aus dem Sudan zurückkehrenden Flüchtlinge vorgesehenen Siedlungen liegen ausschließlich in ländlichen Gebieten. Jeder Flüchtling erhält zwei Hektar gerodetes Ackerland, einige Tiere, Nahrungsmittelhilfe und bei Bedarf berufliche Ausbildung. Es werden Häuser für sie gebaut, und jedes neue Dorf bekommt eine Schule und eine Krankenstation. Das Ziel ist, sie in ihrer Versorgung unabhängig zu machen. Bis heute sind mehr als 165000 Flüchtlinge aus Sudan zurückgekehrt, 25000 davon konnten in dieses Programm aufgenommen werden.
Theoretisch werden ehemalige Kämpfer vorrangig eingestellt, doch Handwerker, Geschäftsleute und Industrielle scheuen sich, als „rebellisch“ bekannte Leute zu beschäftigen. In der Textilfabrik von Asmara gesteht der Vorarbeiter ein, daß ehemalige Kämpferinnen nicht eingestellt werden können: „Nur Frauen, denen nichts anderes übrigbleibt, nehmen diese Arbeit an. Die ehemaligen Kämpferinnen sind anderes gewohnt.“ Der Durchschnittslohn in diesem Betrieb – von dessen 2200 Arbeitern 75 Prozent Frauen sind – beträgt weniger als 60 Mark für eine 48-Stunden-Woche.
Manche ehemaligen Kämpferinnen haben sich zusammengetan und knüpfen damit an frühere kollektive Organisationsformen an. Tausend von ihnen haben die Aktiengesellschaft Bana gegründet. Die Gesellschaft verschafft ihnen Zugang zu Weiterbildung, unterstützt sie bei der Arbeitssuche, beim Aufbau eines Fischgeschäfts, einer Bäckerei, einer Kinderkrippe und eines Fahrdienstes.
Angesichts der Integrationsschwierigkeiten der ehemaligen Kämpferinnen ermutigt sie der Staat, sich selbst Arbeitsplätze zu schaffen. Dies entspricht dem wirtschaftlichen Kurs der eritreischen Regierung, die im radikalen Widerspruch zum ursprünglichen Programm der EPLF eine Marktwirtschaft einführen will.
Verschiedene Hilfsorganisationen haben den kollektiven Integrationsprogrammen von Mitias anfangs nur sehr spärliche Unterstützung gewährt. Was jedoch die Schaffung privater Unternehmen betrifft, zeigen sie sich sehr viel großzügiger. So wird ein bevölkerungsnahes Bankwesen eingerichtet, das kleine Kredite vergibt, damit jedoch eine extreme Individualisierung der Arbeit begünstigt, denn die Idealvorstellung scheint zu sein, daß sich die ehemaligen Kämpferinnen in Einzelunternehmerinnen verwandeln.
Viele, die den Werten aus den Zeiten des Krieges die Treue gehalten haben, sind bitter enttäuscht. Aster, die Leiterin der Milchfabrik von Asmara und eine ehemalige Kämpferin, macht keinen Hehl aus ihren Sorgen über die negativen Folgen der bedingungslosen Marktpolitik. Ohne Preiskontrolle werden Grundnahrungsmittel wie Milch für die Ärmsten unerschwinglich.
Adey Zeyneb stammt aus einer hochangesehenen Familie der Sahelregion. Sie schloß sich ihren Töchtern an, die bereits sehr jung zur EPLF stießen. Als Dichterin schrieb sie über den Befreiungskrieg, und sie integrierte sich in kollektive Lebensformen. Heute lebt sie mit einer ihrer Töchter (die andere ist im Kampf gefallen) wieder in Afabet und spricht wehmütig von einem doppelten Verlust: dem der traditionellen Gesellschaft und dem der im Untergrund entwickelten Lebensformen. „Heute“, sagt sie, „arbeitet jeder nur noch für die eigenen Interessen, es gibt keine gegenseitige Hilfe mehr, keine Solidarität; das Motto ist: Jeder für sich allein.“
Das ist das Dilemma: Soll sich Eritrea zu einer individualistischen, die Ungleichheit fördernden Marktwirtschaft entwickeln und den Idealen abschwören, für die Tausende Eritreer gekämpft haben, oder soll es, allen Schwierigkeiten zum Trotz, einer menschlichen und mitmenschlichen Gesellschaft den Vorrang geben?
dt. Christiane Kayser
* Journalistin