Roman eines Lebens
MANCHE Lebensläufe erschließen sich von ihrem Ende her. Am Ziel angelangt, wird rückblickend die durchlaufene Wegstrecke deutlich. In diese Kategorie fällt zweifelsohne auch die sehr ungewöhnliche Lebensgeschichte von Gunter Holzmann.1 Sechzig Jahre eines außerordentlichen und von tausend abenteuerlichen Wechselfällen begleiteten, umtriebigen Lebens in Lateinamerika hätten auch – wie es nicht selten geschieht – in einen geruhsamen Lebensabend münden können, unter den Palmen der spanischen Costa del Sol etwa, umgeben von Enkelkindern und unter Anstellung philosophischer Betrachtungen über die Launen des Schicksals. Nichts von alldem ist bei diesem aus einem besonderen „Holz“ geschnittenen Mann zu finden, der mit seinen über achtzig Jahren bekennt, daß er eindeutig „nicht für das Paradies geschaffen ist“, und der, den kubanischen Schriftsteller Alejo Carpentier zitierend, in einem Anflug von Trotz hinzufügt: „Es gibt nichts, was im Himmelreich noch zu erobern wäre.“
Tatsächlich ist es die letzte Etappe dieser rastlosen Odyssee durch die Selva, die lärmenden Vorstädte von Santa Cruz oder die Täler der Kordilleren, die allen Wendungen dieses Lebens etwas hinzufügt, was man im nachhinein so etwas wie einen „Sinn“ nennen muß. Zu passablem Reichtum gelangt, von schwerer Arthritis geplagt und von Narben (im wörtlichen und übertragenen Sinne) gezeichnet, zieht Gunter Holzmann am Ende seines Lebens Bilanz. Ihm geht es in erster Linie um seine Überzeugungen und nicht um seine Siege über ein widriges Geschick, und er streicht nicht die Symbole seines Erfolgs heraus, wie es aufgestiegene Emigranten so gerne tun, sondern legt eine selten gewordene Gleichgültigkeit gegenüber materiellen Dingen an den Tag. „Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, mehr als sechs Hemden und zwei Hosen im Schrank zu haben“, schreibt er, „überflüssige Kleidungsstücke verschenke ich oder werfe sie weg. Die Anhäufung von Reichtum ist mir zuwider, ich kann Luxus nicht leiden, ziehe das Alte dem Neuen vor, repariere, was kaputtgeht, und was ich esse, produziere ich im wesentlichen selbst.“
Dabei ist Gunter Holzmann weder Asket noch narzißtisch veranlagt. Ein solches Geständnis entspringt vielmehr einer hart erkämpften, von Genügsamkeit geprägten Weltsicht und dem Willen, sich persönlich zu engagieren. Nach reiflicher Überlegung entschied er sich, seinen Besitz weder seinen Kindern noch einem wohltätigen Zweck, sondern einer Zeitung zu vermachen, Le Monde diplomatique, die in seinen Augen den Willen verkörpert, sich dem „Mißbrauch der Information als Herrschaftsinstrument mit nie dagewesener Reichweite“ zu widersetzen. Dieses Glaubensbekenntnis verbindet Gunter Holzmann zwar nicht mit einem irrationalen Antiamerikanismus, wohl aber mit einem unerschütterlichen Mißtrauen gegenüber jener Weltmacht, so wie man sie im Süden des Kontinents hautnah zu spüren bekommt.
Wenn man sechs Jahrzehnte lang miterlebt hat, wie Staatsstreiche vom CIA abgesegnet und Contras, Korruption und Diktaturen von Washington unterstützt werden, sieht man die Dinge zweifellos ein wenig anders als von Paris oder Berlin aus. Der aus Schlesien gebürtige deutschstämmige Jude Gunter Holzmann sollte sich im Laufe der Zeit eine gewissermaßen lateinamerikanische Sensibilität zu eigen machen. Und jede sporadische „Rückkehr“ auf den Alten Kontinent bestärkte ihn ein wenig mehr in seinem Mißtrauen: „Auf meinen Reisen habe ich festgestellt“, schreibt er, „wie sehr Europa immer mehr dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluß Nordamerikas und seiner Machtinstrumente – IWF und Weltbank – anheimfiel.“
Diese entschiedene Haltung eines Achtzigjährigen ist um so beeindruckender, als sie nicht der Logik eines politisch engagierten Lebens im üblichen Sinne des Wortes entspringt. Es war durchaus kein Akt politischer Revolte, der 1936 den vom Aufstieg der Nazis aus Deutschland vertriebenen Bürgerssohn aus Breslau (dem heutigen Wroclaw) in das südamerikanische Abenteuer mit seinen Urwäldern und Riesenschlangen trieb. Es war zuvörderst eine unbändige Lebenskraft, ein unstillbarer Tatendrang, die Leidenschaft für Entdeckungen, Unternehmungen, Frauen und neue Erkenntnisse; eine überschäumende Energie, die ihren Lohn weniger in klingender Münze als in dem Glücksgefühl ihrer eigenen Verausgabung fand.
Mit zwanzig Dollar in der Tasche ging er an der Pazifikküste von Bord. Er schlug sich durch als Schürfer in den peruanischen Minen, als Handelsvertreter in Bolivien, als Filmvorführer, als Forstwirt, Architekt oder vorübergehend als Chef einer Hubschrauberfirma. Durch viel Glück konnte er Katastrophen vermeiden, und durch seine fröhliche Starrköpfigkeit blieb ihm Mutlosigkeit erspart. Nichts ist unmöglich in Bolivien, hatte man ihm gesagt, und dort sollte er schließlich Wurzeln schlagen. Nichts ist unmöglich im Leben, scheint er sich sechzig Jahre hindurch ständig wiederholt und dabei über seine eigene Verwegenheit gelacht zu haben.
Die aber benötigte er, um auch aus seinen eigenen Schwächen Nutzen zu ziehen und noch seinen Leiden etwas abzugewinnen. Ein schmerzhaftes Geschwür und die quälende Arthritis brachten ihn so dazu, sich nach und nach für die indianische Heilkunde des bolivianischen Ostens zu begeistern, für das Gift der Ameise des palo santo-Baums, um daraus ein Medikament zu gewinnen, das im übrigen von der Pharmaindustrie boykottiert wurde. Es gelang ihm, mehrmals den Klauen der Ärzte zu entkommen und mit Wunden und Verbänden aus dem Krankenhaus zu entfliehen, um die eigene Genesung selbst in die Hände zu nehmen – und gesund zu werden. Solche immer wiederkehrenden Episoden legen es nahe, von einer beispiellosen Bereitschaft zum Glück zu sprechen. Tiefe Wunden und Narben eingeschlossen.
JEAN-CLAUDE GUILLEBAUD
dt. Christian Hansen