14.02.1997

Exzellente Wirtschaftsindikatoren für ein kaputtes Land

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Exzellente Wirtschaftsindikatoren für ein kaputtes Land

Von RICHARD FARNETTI *

OBWOHL die Regierung John Majors infolge eines ungünstigen Teilwahlergebnisses im Dezember 1996 die Mehrheit im Unterhaus verloren hat, kann sie sich der unverbrüchlichen Unterstützung seitens zweier internationaler Institutionen rühmen: des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Europa (OECD). Für den IWF sind die weltweiten Leistungen der britischen Wirtschaft das „beneidenswerte Ergebnis zutiefst heilsamer wirtschaftspolitischer Maßnahmen“. Die OECD ihrerseits kürte London zum Klassenbesten, als im Dezember 1996 die Arbeitslosenrate unter die symbolträchtige Zwei-Millionen-Grenze sank. Das so lauthals gepriesene Modell sollte man indes einer eingehenderen Prüfung unterziehen.

Die britische Wirtschaft ist 1993/1994 im Rhythmus von ungefähr 4 Prozent jährlich gewachsen, was für einige ans „Wunderbare“ grenzte. Dabei wird allerdings gerne übersehen, von welchem Tiefpunkt aus sie aufzuholen hatte. Denn 1990 begann die stärkste Rezession, die das Land seit 1930 erlebt hat, mit insbesondere einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 2,4 Prozent im Jahr 1991. Das Wachstum hat sich seither beträchtlich verlangsamt (2,5% bzw. 2,2% in 1995 und 1996). Ausschlaggebend ist hingegen, daß im Unterschied zur Entwicklung in den achtziger Jahren der Aufschwung nicht mit der traditionellen „englischen Krankheit“, der Inflation, einherging. Der Preisanstieg blieb in 1995 (2,9%) und 1996 (2,8%) niedrig.

Aber vor allem mit ihrer Arbeitsmarktpolitik wollen die Tories dem Rest der Welt unbedingt eine Lektion in Sachen Liberalismus erteilen. In ihrer Beweiskette nimmt der französisch-britische Vergleich eine Sonderstellung ein, denn Frankreich und Großbritannien hatten 1992 eine annähernd gleiche Arbeitslosenquote von ungefähr 10 Prozent. Fünf Jahre später hatte sich diese Quote in Großbritannien nach fünfundvierzig Monaten quasi unablässigen Absinkens auf 6,9 Prozent vermindert (das entspricht einer Zahl von etwas weniger als zwei Millionen Arbeitslosen), während sie sich in Frankreich auf annähernd 13 Prozent erhöht hat. Demzufolge entsprächen Flexibilität und Deregulierung der Schaffung von Arbeitsplätzen, wohingegen staatliche Regulierung und Wahrung der sozialen Besitzstände gleichbedeutend wären mit Arbeitslosigkeit.

In Wirklichkeit ist dies eine vollkommen künstliche Beweisführung, da sie auf geschönten Angaben zum Arbeitsmarkt beruht, eine Tatsache, die die Financial Times schon 1993 vermerkt hat.1 Der bedeutende Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen – eine wichtige Ziffer – wird generell verschwiegen. Gerade diese Zahl aber hat sich zwischen 1992 und 1996 um 600000 Personen vermindert, was die Strukturen des Arbeitsmarkts zutiefst verändert hat, während in demselben Zeitraum in Frankreich die erwerbstätige Bevölkerung um 400000 Personen anstieg. Ein weiterer Unterscheidungsfaktor: die gewaltige Zunahme der Teilzeitstellen. Zwei Drittel aller seit 1992 in Großbritannien neu geschaffenen Arbeitsplätze sind Teilzeitstellen. Ein europäischer Rekord! Schließlich werden – ein alter Trick – alle Arbeitsmarktstatistiken einer strengen Überarbeitung unterzogen: Jeder Arbeitswillige, der sich nicht nachweislich aktiv um eine Stelle bemüht (das betrifft eine Million Bewerber), wird aus dem Register gestrichen, ebenso wie die (ca. 200000), die nicht sofort verfügbar sind. Hat man die Arbeitslosenzahlen somit auf ihr tatsächliches Niveau hochgerechnet, versteht man, wieso sie die Financial Times im Jahre 1996 genausowenig überzeugen können wie vor drei Jahren.2

Angesichts der extrem geringen Entlohnung einer wachsenden Anzahl von Stellen muß man die Auffassung korrigieren, der zufolge eine Zunahme des Verbrauchs Zugpferd des gegenwärtigen Aufschwungs sei. Großbritannien nähert sich immer mehr dem von dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Thorstein Veblen in seiner „Theory of the leisure class“ beschriebenen Zustand an: Eine Minorität von Reichen konsumiert in erstaunlichem Maße und ostentativ, während unzureichende Entlohnung den Großteil der Bevölkerung dazu zwingt, lebensnotwendige Ausgaben einzuschränken, Käufe mit Darlehen zu tätigen, deren Zinsen an Wucher grenzen, Haushaltsgeräte, die noch vor kurzem als unverzichtbar für das alltägliche Leben eingestuft wurden, zu mieten oder sich wieder dem Tauschhandel zuzuwenden! Da es keinen gesetzlich garantierten Mindestlohn gibt, entstehen in einem Land, das einst Wegbereiter des Wohlfahrtsstaates war, unvorstellbare Situationen. Für die Gehälter der Elite hingegen fehlt jegliche Obergrenze, wobei soeben der Direktor von Beecham- Smithkline sämtliche Rekorde gebrochen hat mit Bezügen von ungefähr 30 Millionen Mark für das Jahr 1996 inklusive Prämien und Stockoptions.

Will man für die „ausgezeichneten“ globalen Indikatoren in einer sich auflösenden Gesellschaft eine Erklärung finden, muß man sich der zunehmenden Finanzorientierung der Wirtschaft zuwenden. Diese schon zu Beginn des Jahrhunderts von John Atkinson Hobson analysierte und angeprangerte Tendenz hat sich unablässig ausgeweitet und belastet alle Aktivitäten im industriellen wie im Dienstleistungsbereich. Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch das Auftauchen neuer Finanzpole: Neben den traditionellen Trägern, den Geschäftsbanken und Versicherungen, stehen jetzt vor allem die Rentenfonds im Zentrum des englischen Finanzsystems, da sie 62 Prozent der Börsenkapitalisierung des Londoner Finanzplatzes halten. Ihre Existenz ist von beträchtlichem Einfluß auf die Ertragsstärke der Firmen, denn angesichts der aktuellen weltweiten oligopolitischen Konkurrenz ist eine ihrer schlagkräftigsten Waffen der reichliche Bestand an flüssigem Kapital, den ein wohl alimentierter Rentenfonds noch steigern kann.

Dieses Phänomen trägt in großem Maße dazu bei, die Londoner City zu einem der Hauptangelpunkte des internationalen Finanzmarkts zu machen. Sie hat 40 bis 50 Prozent der internationalen Fusionen und Akquisitionen und nahezu 30 Prozent des weltweiten Devisenumsatzes an sich gezogen und nimmt damit einen Rang ein, der zwar in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen Bedeutung des Landes steht, aber zahlreiche Firmen dazu veranlaßt, sich in Großbritannien niederzulassen. Vergegenwärtigt man sich diese Elemente, lassen sich die oftmals als ans Wunderbare grenzend hingestellten Ergebnisse nüchterner beurteilen, besonders hinsichtlich der Wiederbelebung von Industrie und Außenhandel und der Ertragsstärke der Multis.

Die Automobilindustrie ist das am häufigsten herangezogene Beispiel. Dieser Produktionsbereich hat, nachdem er in den siebziger und achtziger Jahren um Haaresbreite abgestürzt wäre, im Oktober 1996 seine seit Menschengedenken besten monatlichen Produktionsergebnisse noch überschritten.3 Er befindet sich aber gänzlich in ausländischer Hand, nachdem der letzte inländische Produzent, Rover, im Januar 1994 vom deutschen Hersteller BMW geschluckt worden ist. Die japanischen Konzerne, die sich in den achtziger Jahren in Großbritannien niedergelassen haben, um die Japan von einigen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft (Frankreich, Spanien, Italien) auferlegten Selbstbeschränkungsvereinbarungen zu umgehen und sich gegen – dann nicht eingetretene – Risiken durch Zollschranken zu wappnen, haben ihrerseits Produktionssysteme eingeführt, die der Arbeitsbeschaffung nicht förderlich waren. Wenn somit die Produktionsvolumen zwar wieder an den Stand der siebziger Jahre anknüpfen, sind die Belegschaften im wahrsten Sinne des Wortes dahingeschmolzen.

Die anderen ausländischen Hersteller haben schnell die Vorteile begriffen, die aus einer solchen Produktivitätssteigerung zu ziehen wären. Die Ford-Werke in Dagenham haben ihre Belegschaft innerhalb von fünf Jahren auf die Hälfte reduziert und 1995 eine Rekordfertigung von 250000 Fahrzeugen bewerkstelligt. Die relativen Erfolge des britischen Außenhandels, gedopt durch das Währungsdumping nach dem Ausscheren des Pfunds aus dem Europäischen Währungssystem (EWS) im September 1992, hängen eng zusammen mit dieser neuerlich verstärkten Ausbeutung des Faktors Arbeit.

Angezogen durch niedrige Lohnkosten und die von den konservativen Regierungen auf den Weg gebrachten, ausgesprochen großzügigen (natürlich mit Steuermitteln finanzierten) Investitionsanreize für Ausländer, haben sich die Konzerne zuhauf nach Großbritannien aufgemacht. Ihnen geht es dabei einzig und allein um eine Herstellungsplattform für die Belieferung des Kontinents. So ist binnen zehn Jahren (1985–1995) das Exportvolumen für die Zielgruppe der europäischen OECD-Länder um 300 Prozent gewachsen, während die Exporte in Richtung USA nur um 180 Prozent zugenommen haben.

Musterknabe „British Airways“

DIESE Zahlen decken eine der Haupttücken der liberalistischen Beweisführung auf: Der Stand der britischen Exporte hängt ab von der Intensität des Aufschwungs in den europäischen Volkswirtschaften. Großbritannien kann, allen von Margaret Thatcher verbreiteten Märchen zum Trotz, bei der industriellen Wiederbelebung keine Solorolle spielen.

Die Regierung ist sehr stolz darauf, daß die zu jedem Jahresbeginn von der Financial Times erarbeitete Rangfolge der fünfzig ertragsstärksten europäischen Konzerne in der Ausgabe von Januar 1997 insgesamt 31 britische Konzerne aufweist. Auch hier empfiehlt sich kritische Distanz, da trotz dieser Ergebnisse der Stand der produktiven Investitionen nach wie vor äußerst niedrig ist. Selbst die OECD ist – wenn sie dies auch nur am Rande vermerkt – gezwungen einzugestehen, daß „die Schwäche der binnenwirtschaftlichen Investitionen besorgniserregend bleibt“.4 Diese Schwäche fällt um so mehr auf, als ungefähr ein Drittel der in Großbritannien getätigten Investitionen durch ausländische Firmen erfolgen, was das Abseitsstehen der großen britischen Konzerne bestens verdeutlicht. Diese ziehen es vor, jenseits der britischen Grenzen zu investieren, insbesondere um das Verhältnis Kapital zu Arbeit vorteilhafter zu gestalten. Mit der Abschaffung der Devisenbewirtschaftung öffnete die Thatcher-Regierung 1979 weit die Ventile für britische Auslandsinvestitionen, die sowohl an der Börse als auch in jährlichen Kapitalströmen weltweit den zweiten Rang nach denen der USA einnehmen.

Über die quantitativen Aspekte hinaus sollte man auch die gesellschaftlichen Zielsetzungen hinter diesen Investitionen beachten. Hier besitzt das Beispiel „British Airways“ Symbolwert. Man hat diese während der ersten Amtszeit der Eisernen Lady privatisierte Fluggesellschaft in besonders rücksichtsloser Manier umstrukturiert. Fast die Hälfte der Mitarbeiter wurde innerhalb von fünf Jahren entlassen. Beiläufig stellt sich die Frage, was eigentlich noch „British“ an dieser Gesellschaft ist: Ihre Eigner sind zu 40 Prozent institutionelle amerikanische Anleger, sie heuert osteuropäische Piloten an, um die Gehälter des eigenen Flugpersonals zu drücken, und steht im Begriff, ihre Buchhaltung an ein indisches Subunternehmen auszulagern und dabei weitere fünftausend Arbeitnehmer zu entlassen. Und das angesichts nie gekannter Gewinne für das zweite Halbjahr 1996.

Die Logik dieser Strategie wird einsichtiger, wenn man sie in Beziehung sieht zum Gebaren der Finanzmärkte. In dem Maße wie die City eine bevorzugte Drehscheibe für die Finanzgeschäfte in aller Welt ist, beziehen sich die weltweit agierenden britischen Unternehmen immer weniger auf ihr Ursprungsland. Sie verbarrikadieren sich hinter den Rechtsformen von Holding-Gesellschaften, meinen, einzig ihren Aktionären Rechenschaft schuldig zu sein, und unterhalten zu ihrem Ursprungsland und dessen Bürgern ein immer schwächer werdendes Band, wie die Verschlechterung der internen Beschäftigungssituationen beweist. Dies sollte Politiker, denen der gesellschaftliche Zusammenhalt wirklich am Herzen liegt, nachdenklich stimmen. Gerade vor dem Hintergrund des angelsächsischen „Modells“, das von den internationalen und wirtschaftlichen Institutionen und deren Unterstützern in der Medienlandschaft gepriesen wird und überall in die Offensive geht.

dt. Margrethe Schmeer

* Dozent an der Universität Paris-III, Autor von „Royaume désuni. L‘économie britannique et les multinationales“, Paris (Syros) 1995.

Fußnoten: 1 Nachzulesen bei Edward Ball, „Missing the Deregulation Link“, Financial Times, London, 6. September 1993. Nachdem er den Mythos einer massiven Arbeitsbeschaffung in Großbritannien auseinandergenommen hat, schließt der Autor: „Das Loblied der britischen Regierung auf die angelsächsische Manier der Deregulierung des Arbeitsmarktes erscheint insofern deplaziert.“ 2 Nachzulesen ins „Success of Jobs Questioned“, Financial Times, 5. Dezember 1996. 3 In diesem Monat sind 179963 Fahrzeuge gefertigt worden, das ist ein Fortschritt von 39,2 Prozent im Vergleich zum Oktober 1995. Nachzulesen in der Financial Times vom 21. November 1996. 4 Etudes économiques de OCDE, Royaume-Uni, OECD, Paris, Mai 1996. Nachzulesen ebenfalls bei Serge Halimi, „Economistes en guerre contre les salaires“, Le Monde diplomatique, Juli 1996.

Le Monde diplomatique vom 14.02.1997, von RICHARD FARNETTI