14.02.1997

Zaire zwischen Untergangsstimmung und demokratischer Erneuerung

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Zaire zwischen Untergangsstimmung und demokratischer Erneuerung

Von COLETTE BRAECKMAN *

NACHDEM es im November 1996 der Allianz der Demokratischen Kräfte zur Befreiung von Kongo-Kinshasa (AFDL) gelang, die wichtigsten Städte der Kivu-Region zu erobern, sind mindestens 600000 ruandische Zivilisten aus Ostzaire zurückgekehrt, und noch immer irren Zehntausende ruandischer Flüchtlinge weiter westlich in den Wäldern und auf den Landstraßen umher.1 Doch dies waren nicht die einzigen Folgen der neuerlichen Krise: Vielmehr hat die letzte Zeit die Untergangsstimmung ans Licht gebracht, die in Kinshasa nach sechsunddreißig Jahren Diktatur herrscht. Der Staat entpuppt sich als vermoderte Kulisse, und die zairische Armee, die nie einen anderen Anführer als Marschall Mobutu Sese-Seko hatte, zeigt sich unfähig, die Sicherheit der Bürger und die Integrität des Territoriums zu gewährleisten.

Mühelos konnten die AFDL-Truppen Uvira, Goma, Bukavu, sowie Walikale und schließlich die Stadt Bunia, den Zugang zu den Goldminen von Kilo Moto, einnehmen: Allein auf das Gerücht ihres Herannahens hin ergriff die zairische Armee die Flucht. Es ist jedesmal das gleiche Szenario: Die Soldaten meiden den Kampf; sie plündern und schikanieren die Bevölkerung, dann flüchten sie in Autos, die sie den regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs), Kirchen oder den letzten noch funktionierenden Wirtschaftsunternehmen entwendet haben.

Die sogenannten Rebellen besetzen daraufhin das verlassene Terrain und bemühen sich, dort so etwas wie ein einigermaßen funktionierendes Alltagsleben wiederherzustellen. Sie versuchen, die Bevölkerung zu beruhigen und die einflußreichen Personen der Region zur Zusammenarbeit mit den neuen Behörden zu bewegen. Insbesondere bemühen sie sich um Überläufer aus der zairischen Armee, und da diese, zumindest in der ersten Zeit, ihren Sold in Dollar ausbezahlt bekommen, lassen sie sich nicht ungerne bitten. Doch trotz der Reden und Versprechungen wagen nicht übermäßig viele diesen Schritt auf die andere Seite, denn jeder befürchtet, daß die Niederlage der zairischen Armee nur vorübergehend sei und eine Rückeroberung ohne Zweifel mit zahlreichen Toten unter der Zivilbevölkerung und Repressalien gegenüber möglichen „Vaterlandsverrätern“ verbunden wäre.

Die zairische Armee ist in einem jämmerlichen Zustand. Es gibt Rivalitäten zwischen „privatisierten“ Einheiten, die sich aufführen, als stünden sie im Dienste einzelner Persönlichkeiten oder Finanzinteressen. Die Soldaten haben seit Monaten keinen Sold mehr bekommen und längst Munition und Uniformen verkauft. Zusätzlich toben heftige Machtkämpfe zwischen der Spezialdivision des Präsidenten (DSP), der Zivilgarde und dem militärischen Geheimdienst (SARM). Erst wenn die zairischen Soldaten gut geführt, ordentlich ausgestattet und angemessen entlohnt würden, könnten sie jene Effizienz wiedererlangen, die sie in der Force publique der Kolonialzeit bewiesen haben.

Dies ist eine große Herausforderung für den neuen Generalstabschef, General Marc Mahele Lieko. Er ist ein Veteran aller Kriege in der Region, von der Schlacht um Kolwezi, das er 1978 an der Seite der Franzosen zurückeroberte, bis hin zum Ruandakrieg, wo er 1990 an vorderster Front gegen die Patriotische Front (FPR) kämpfte. Seine Tapferkeit, aber auch seine Härte, die unter anderem bei der Niederschlagung der Plünderungen und Meutereien von 1993 zutage trat, machen ihn zu einem gefürchteten und geachteten Offizier, der zwar immer seine Treue zu Präsident Mobutu beteuert hat, aber strikt auf der Achtung der vorhandenen politischen Strukturen beharrt. Er stammt zwar, ebenso wie Mobutu, aus der Provinz Äquator, gehört aber nicht der gleichen ethnischen Gruppe an und ist auf dessen Verwandte, die Generäle Nzimbi und Baramoto, nicht gut zu sprechen.

Mit Unterstützung von französischen Militärberatern versucht General Mahele, seine Armee wieder einsatzfähig zu machen. Das könnte allerdings einige Zeit beanspruchen. Er bemüht sich vor allen Dingen um konkrete Unterstützung: Waffen, Munition, Flugzeuge und Söldner. Sie kommen aus Frankreich, Belgien, Serbien, aber auch aus Südafrika – trotz ihrer Dementis hat die Gesellschaft „Executive Outcomes“2 ehemalige Mitglieder der südafrikanischen Spezialdienste nach Zaire geschickt. Mehrere hundert dieser „Glücksritter“ haben kürzlich eine Gegenoffensive gestartet – ein „Blitzschlag“, wenn man den Machthabern in Kinshasa Glauben schenken soll.

Die Söldner kommen

HABEN die Mitglieder der Allianz Angst vor diesem Angriff? Der Sprecher der AFDL, Laurent-Désiré Kabila, der nach dreißig Jahren in Busch und Untergrund zwischen Tansania, Uganda und Zaire auch ein Veteran in Sachen Rebellion ist, mokiert sich über die angeblich drohende Rückeroberung. Kommandant Kisase Ngandu, der in Berlin studiert hat und der Neffe des zairischen Nationalhelden General Olenga ist, versicherte vor einigen Monaten, die Aussicht auf Gefechte mit Söldnern sei von der Allianz von Anfang an mit einkalkuliert worden, denn noch jede Krise der letzten dreißig Jahre habe Marschall Mobutu allein mit Hilfe ausländischer Helfer überstanden.3

In Wahrheit sind die Mitglieder der Allianz gleichzeitig stärker und verwundbarer als die „Befreiungsbewegungen“ unmittelbar nach der Unabhängigkeit. Unter den Kämpfern sind Tutsi aus Südkivu (auch Banyamulenge genannt), die von der ruandischen Armee ausgebildet und unterstützt worden sind, weil Ruanda die Flüchtlingslager in Ostzaire neutralisieren wollte, um den Überfällen auf sein Staatsgebiet ein Ende zu bereiten. Ferner kämpfen in der AFDL aus Uganda kommende Zairer, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß Präsident Museweni die Gelegenheit nutzen wird, Zaire dessen Unterstützung der islamischen Tablik-Rebellen heimzuzahlen, die in der Gegend von Kasese im Südwesten Ugandas operieren. In der aus vier Oppositionsparteien bestehenden Allianz gibt es noch andere Zairer: desertierte oder übergelaufene Soldaten und Offiziere, vom demokratischen Übergang enttäuschte Oppositionelle sowie zahllose, radikalisierte Jugendliche, die nicht mehr an die traditionellen Oppositionsparteien glauben, deren Kompromisse mit Mobutu anprangern und nur noch einen gewaltsamen Sturz der Diktatur für möglich halten.

Es ist offensichtlich, daß Ruanda und Uganda, sowie unter Umständen Burundi, ein direktes Interesse an einem Fortgang dieser Rebellion in Ostzaire haben und sie daher unterstützen. Fest steht allerdings auch, daß die sie tragende Bewegung ein Zerfallsprodukt des untergehenden Regimes ist. In den kommenden Wochen wird sich zeigen, ob die „Rebellen“ ausreichend ausgebildet und ausgerüstet sind, um einer Gegenoffensive standzuhalten, und ob sie weiterhin die Unterstützung der Nachbarländer genießen, denen es bislang um eine Stabilisierung ihrer Grenze zu Zaire ging. Die „Rebellen“ sind gewiß bessere Soldaten als die Kämpfer der Bauernaufstände in den sechziger Jahren. Doch sie haben andere Schwächen: Sie sind eindeutig weniger zahlreich – nur wenige tausend –, und außerdem ist die Zeit vorbei, in der die UdSSR, China oder Kuba afrikanischen Soldaten an der Kalten- Krieg-Front Nachschub lieferten. Heute müssen sie die Waffen entweder dem Feind abnehmen oder aus lokalen Mitteln bezahlen, die aus den Goldminen, den Zinnerz- oder Tantalitvorkommen in den eroberten Regionen stammen. Zudem ist der Rückhalt der Allianz bei den jeweiligen lokalen Bevölkerungsgruppen keineswegs selbstverständlich.

Die Mai-Mai-Kämpfer die der Volksgruppe der Hunde angehören und ursprünglich Milizen gebildet hatten, um gegen die sie (ihrer Meinung nach) überschwemmenden Hutu-Flüchtlinge vorzugehen, haben sich rein militärisch als heikle Verbündete entpuppt: Sie kämpfen nach ihren ureigensten Methoden, einer Mischung aus Tapferkeit und Hexerei (das Wasser, mit dem sie sich vor der Schlacht besprengen, soll sie unverwundbar machen); sie lehnen die Disziplin regulärer Truppen ab und geben sich extrem nationalistisch: Befehle, die ihrer Meinung nach aus Kigali oder Kampala stammen, führen sie nicht aus. Mitte Januar sollen sie sogar Scharmützel gegen ihre Partner in der AFDL angezettelt haben. In der Zivilbevölkerung ist man einerseits froh darüber, daß in den von der Allianz eroberten Gebieten wieder Ruhe und das Gefühl der Sicherheit eingekehrt sind – ein Zustand, den viele fast vergessen hatten. Doch andererseits bleiben sie mißtrauisch gegenüber jenen, die sie die „neuen Herren“ nennen. Viele Bewohner von Goma und Bukavu haben sich vorerst in ihre in sicherer Entfernung gelegenen Heimatdörfer zurückgezogen, nicht zuletzt aus Angst vor der Gegenoffensive der Armee. Manche lokale Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens haben sich bereit erklärt, mit den neuen Machthabern zusammenzuarbeiten, doch die bekanntesten halten sich vornehm zurück.

In der Tat ist die Lage in Zaire heute nicht mehr vergleichbar mit der in den sechziger Jahren, als das politische Leben stockend in Gang kam. Seit 1990 hat langsam, doch stetig eine Phase des demokratischen Übergangs begonnen. Die Nationalkonferenz wurde einberufen, ein Übergangsakt verabschiedet, und für 1997 wurden Wahlen in Aussicht gestellt, denen ein Verfassungsreferendum zur Umwandlung des Landes in eine Föderation vorgeschaltet werden sollte.

Diese demokratische Entwicklung wirkt in den Augen ausländischer Beobachter verschlungen, chaotisch, von Korrumpierungsversuchen der Mobutu-Clique geprägt, doch sie existiert wirklich, und da sie langsam vonstatten geht, hat sie noch in den entferntesten Gegenden Wurzeln schlagen können. Die AFDL steht abseits von dieser Dynamik: Laurent-Désiré Kabila hat nicht an der Nationalkonferenz teilgenommen, seine Mitstreiter sind relativ unbekannt oder werden als „ausländische Agenten“, als Verbündete der Ruander, angesehen. Seine Truppen im Landesinneren werden mit Hilfe der Propaganda des Mobutu-Regimes als Abenteurer oder fremde Eindringlinge bezeichnet, und viele Zairer befürchten, daß die Situation in Kivu Anlaß sein könnte, die heißersehnten Wahlen weiter hinauszuzögern.

Zu den demokratischen Hoffnungen der Mehrheit des zairischen Volkes gesellen sich zwei weitere, im Vergleich mit den sechziger Jahren ebenfalls neue Faktoren: eine bei breiten Teilen der Bevölkerung fast in Fleisch und Blut übergegangene Ablehnung von Gewalt sowie der Wunsch nach nationaler Einheit.

Die Angst vor einer Ausweitung der Kämpfe beschäftigt alle Zairer, um so mehr, als die Mobutu-Propaganda keine Gelegenheit ausläßt, an die Hunderttausende von Toten zu erinnern, die den Rebellionen der sechziger Jahre und ihrer blutigen Niederschlagung zum Opfer fielen. Diese Angst, verbunden mit der Hoffnung auf Frieden, diese Entscheidung für Gewaltlosigkeit, für die die bedeutendste Oppositionspartei, die Union für Demokratie und sozialen Fortschritt (UDPS), eintritt, haben der zairischen Bevölkerung bisher die Kraft gegeben, vielen Provokationen zu widerstehen oder ihre Schäden zu begrenzen (zum Beispiel 1993, anläßlich der ethnischen Säuberungen in Shaba und Kivu). Es ist dieser Pazifismus, der dazu geführt hat, daß ein Großteil der Bevölkerung dem Vormarsch der „Rebellen“ voller Mißtrauen begegnet, denn man hält ihn für ein unkontrollierbares Abenteuer.

Verstärkt wird dieses Mißtrauen durch die Tatsache, daß die Idee einer nationalen Einheit breit verankert ist. Erstaunlicherweise wird die angeblich drohende Implosion oder Zerstückelung Zaires immer von Ausländern heraufbeschworen, wobei nicht selten (und allen voran von den Franzosen) diese angebliche Bedrohung dafür herhalten muß, Präsident Mobutu als unverzichtbare Schlüsselfigur zu präsentieren. Wie tief das Gefühl nationaler Identität in Zaire verwurzelt ist, zeigt nicht zuletzt das Verhalten der Banyamulenge oder das der aus Masisi nach Ruanda verjagten Tutsie-Viehzüchter: Ihr Ziel war nie die Angliederung an Ruanda, sondern vielmehr die Anerkennung ihrer Zugehörigkeit zur zairischen Nation.

Dieser Einheitswille ist ein Schutzwall gegen mögliche Versuche der Zerstückelung und hypothetische Sezessionen. Mehrere Provinzen sind allerdings derzeit de facto autonom gegenüber Kinshasa: West-Kasai hat eine eigene Währung, Shaba lebt in wirtschaftlicher Symbiose mit dem südlichen Afrika, und die Region Kivu hatte immer schon engere Verbindungen zu Ostafrika als zu der eigenen Hauptstadt. Doch ein tiefes Nationalgefühl unterliegt immer der Gefahr einer Manipulation und kann in Chauvinismus oder sogar Fremdenhaß umschlagen, wie an der frenetischen „Jagd auf Tutsi“ in Kinshasa seit dem Beginn der Kivu-Krise zu beobachten war.

Die Kivu-Krise hat den Niedergang der Armee bestätigt, die Tiefe der nationalen Gefühle und die breite Verankerung des Demokratisierungsprozesses demonstriert, aber sie hat auch einmal mehr die Schwäche der Politiker jeglicher Couleur gezeigt: Während die Mobutisten in ihrem überzogenen Nationalismus die AFDL- Kämpfer zu „ausländischen Angreifern“ stilisieren, herrscht in den Reihen der Opposition Verwirrung ob der Lage in Kivu – die einen hüten sich vor jeder auch noch so symbolischen Form der Unterstützung der Rebellen, weil sie fürchten, als Vaterlandsverräter abgestempelt zu werden; die anderen, wie Etienne Tshisekedi, der Führer der radikalen Opposition, setzen sich für Verhandlungen mit Kabila ein.

Die kurze Rückkehr Präsident Mobutus in sein Land im Dezember 1996 hat das Chaos noch verstärkt: Alle Welt erwartete, daß eine Regierung der nationalen Einheit unter der Leitung von Tshisekedi gebildet werde, doch statt dessen bestätigte Mobutu Premierminister Kengo Wa Dondo im Amt, ungeachtet der Kritik an dessen Person. Kengo Wa Dondo steht unter heftigem Beschuß, weil er sich zum einen um keinerlei Sozialpolitik bemüht, zum anderen aber auch – ein Ausdruck wachsender Xenophobie – wegen seiner Tutsivorfahren. Offensichtlich folgte Mobutu mit seiner Bestätigung dem Druck der westlichen Verbündeten, die Kengo für einen effizienten Manager halten, der den Übergang verwalten oder sogar, im Falle des baldigen Todes Mobutus, die Staatsleitung übernehmen könnte.

Die Bestätigung des verhaßten Premierministers im Amt, der Affront gegen Tshisekedi, der seine Ernennung zum Regierungschef unvorsichtigerweise bereits angekündigt hatte, haben möglicherweise eine Reihe von Oppositionspolitikern dazu bewegt, sich Kabila anzuschließen und den radikalen Umsturz des Regimes für den einzigen Ausweg zu halten. Dennoch bieten sich in der gegenwärtigen Situation eine Reihe von Möglichkeiten an, von denen eine militärische Rückeroberung Kivus allerdings in den Augen der meisten Zairer die unwahrscheinlichste Lösung ist.

dt. Christiane Kayser

* Journalistin bei Le Soir, Autorin von Terreur africaine, Paris (Fayard) 1996.

Fußnoten: 1 Siehe dazu: Colette Braeckman, „Von Ruanda bis Zaire – Schockwelle eines Völkermords“, Le Monde diplomatique, Dezember 1996. 2 Siehe dazu: Laurence Mazure, „Die Deregulierung der militärischen Gewalt, Südafrikanische Söldner im Dienste von Regierungen und Privatwirtschaft“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996. 3 Nach einer gutunterrichteten, von der Presseagentur Reuter am 19. Januar 1997 zitierten Quelle, wäre Kommandant Kisase Ngandu einige Tage zuvor in der Nähe von Mutembo gefallen, wahrscheinlich in einem von Mai-Mai-Kriegern gelegten Hinterhalt.

Le Monde diplomatique vom 14.02.1997, von COLETTE BRAECKMAN