14.02.1997

Bourdieus Fernsehkritik

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Bourdieus Fernsehkritik

WENN das Fernsehen eine Bedrohung für die Demokratie darstellt“, dann, weil es „dem geschwätzigen Denken derer, die angeblich mit erhöhter Geschwindigkeit denken“, den Vorzug gibt gegenüber der „durchdachten Rede“. Pierre Bourdieu hält sich in seinem neuen Buch1 nicht lange auf mit den Zwängen, denen Journalisten unterworfen sind und die einigen ihrer professionsbedingten Reflexe Vorschub leisten (Marktideologie, politische Feigheit, gepaart mit Komplizenschaft, Machthörigkeit, Selbstgefälligkeit, Faible für große Namen und Geld). Weil es nutzlos wäre, die austauschbaren Medienstars beim Namen zu nennen, kann der Soziologe Abstand nehmen von dem „Schlagzeileneffekt, etwas hervorzuheben, indem man aus dem gewohnten Kontext all die einförmigen Beispiele isoliert, die den üblichen Sehgewohnheiten entgehen“. Zeitungsleser und Fernsehzuschauer allerdings werden jede dieser Entgleisungen mühelos mit Gesichtern verbinden können. Da aber derlei Entgleisungen keine „Ausrutscher“ sind, formieren sich die Gesichter zum „Antlitz“ eines ganzen Systems.

Um dies zu zeigen, analysiert Bourdieu jene „ungeheure Zensur, die die Journalisten unbewußt ausüben, indem sie nur das festhalten, was sie selbst interessiert“. Er widmet sich weder den Kabalen zwischen den Medien und der Macht noch den Pressionen von Anzeigenkunden und ebensowenig den „Retourkutschen“ pompöser Leitartikelschreiber. Ihm geht es um das lärmende Spektakel, das eingehendere Analysen übertönt, um die minutiös dosierte Zeit, die den Durchmarsch der „Schnelldenker und Spezialisten des Einwegdenkens“ ermöglicht, um Ignoranz und Verantwortungslosigkeit: „Manchmal habe ich Lust, mich bei jedem einzelnen Wort der Moderatoren aufzuhalten, die oft von der Schwierigkeit und Bedeutung dessen, wovon sie reden, reden, ohne zu verstehen, daß sie nichts verstehen.“2 Die „technischen“ Zwänge haben politische Auswirkungen: Der Schockeffekt-Journalismus läßt die Wirklichkeit jenseits der Bilder verschwinden; das Geschwindigkeitsdenken ist serviles Einheitsdenken; die Unkultur ermutigt dazu, „kostbare Zeit mit Nichtigkeiten“ anzufüllen.

Ständig erweitert das Fernsehen seine „Macht über den kulturellen Bereich“. Selbst in den „reinen“ Bezirken (Wissenschaft und Kunst) besitzt es seine „trojanischen Pferde“ und verschafft mit ihnen der Ideologie von Befehl und Kommerz die nötige Resonanz. Hier profilieren sich „verkorkste“ Intellektuelle, denen die Einschaltquoten jenen „Segen“ erteilen, „den sie von ihrer Peer-group niemals bekommen würden“, als Katalysatoren der Uniformität und Totengräber der Meinungsvielfalt.

Sind wir also Lemminge und nicht mehr zu retten? Gibt es keine andere Möglichkeit für „die Andersdenkenden und Unbequemen, als verzweifelt darum zu kämpfen, in diesem enormen Einheitsbrei kleine Unterschiede geltend zu machen“? Vielleicht unterschätzt Bourdieu hier den Vertrauensverlust und das wachsende Bewußtsein für „Denkverbote“. Im Verlauf der Streiks Ende 1995 wurden Millionen von Fernsehzuschauern bei einer Podiumsdiskussion zu Zeugen, wie die nicht auf dem Podium vertretenen Eisenbahner mit ihrer Forderung nach einer „anderen Gesellschaft“ die geladenen Gäste mediengerecht brüskierten.Serge Halimi

Fußnoten: 1 Pierre Bourdieu, „Sur la télévision“, Paris (Liber Editions) 1996, 95 Seiten, 30 Franc. 2 In seinem Bericht „Les Journaliste et leurs qualifications“ schrieb Jean-Marie Charron im Zusammenhang mit den Themen Islam, Maghreb, Ruanda und Bosnien: „Das Eingeständnis der Journalisten, daß sie nicht die nötigen Kenntnisse über derart sensible Themen besitzen, führt bei ihnen nicht dazu, daß sie schweigen oder sich das entsprechende Wissen aneignen. (Observatoire des pratiques et des métiers de la presse, CFPJ, Paris, Dezember 1996).

Le Monde diplomatique vom 14.02.1997, von Serge Halimi